„Es kommt vor, dass jemand allein steht und niemanden bei sich hat. Ja, er besitzt nicht einmal einen Sohn oder Bruder. Aber sein Besitz ist ohne Grenzen und überdies kann sein Auge vom Reichtum nicht genug bekommen. Doch für wen strenge ich mich dann an und warum gönne ich mir kein Glück? Auch das ist Windhauch und ein schlechtes Geschäft. Zwei sind besser als einer allein, falls sie nur reichen Ertrag aus ihrem Besitz ziehen. Denn wenn sie hinfallen, richtet einer den anderen auf. Doch wehe dem, der allein ist, wenn er hinfällt, ohne dass einer bei ihm ist, der ihn aufrichtet. Außerdem: Wenn zwei zusammen schlafen, wärmt einer den andern; einer allein – wie soll er warm werden? Und wenn jemand einen Einzelnen auch überwältigt, zwei sind ihm gewachsen und eine dreifache Schnur reißt nicht so schnell.“
Prediger 4,8-12 (Einheitsübersetzung)
Didaktische Überlegungen
„Du, Frau Sonnenburg, wie alt bist du eigentlich?“, fragte mich die siebenjährige Ayah und sah mich erwartungsvoll an. Als ich ihr wahrheitsgemäß „36“ antwortete, riss sie die Augen erstaunt auf und formte die Lippen zu einem verblüfften „Oh, schon sooo alt!“
Diese und ähnliche Anekdoten kennen wohl alle Menschen, die mit jüngeren Kindern arbeiten. In der Kommunikation mit ihnen wird sehr schnell deutlich, dass sie kaum eine Vorstellung davon haben, wann ein Mensch „sehr alt“, „alt“ oder „jung“ ist. Und so geht es diesen Kindern wie vielen anderen Menschen auch. Denn wir können das Alter unseres Gegenübers besonders gut einschätzen, wenn wir uns zumindest in derselben Dekade bewegen wie er oder sie.1 Da Grundschulkinder jedoch noch gar keine Dekade lang leben, fällt es ihnen schwer, das Alter anderer einzuschätzen und einzuordnen.
Vor diesem Hintergrund entstand die Idee ,mit den Schülerinnen und Schülern einer zweiten Grundschulklasse im Religionsunterricht zum Thema „Alt und Jung“ zu arbeiten und so ihre Empathiefähigkeit, das Lernen durch Einsicht sowie das Lernen durch eigenes prosoziales Tun weiterzuentwickeln, das in dieser Lebensphase quantitativ erkennbar zunimmt. Im Rückgriff auf das religionspädagogische Konzept des ethischen Lernens und hier im Speziellen der Prosensibilität sollen die Schülerinnen und Schüler bestärkende Erfahrungen mit eigenem prosozialem Handeln machen und das Gefühl, gebraucht zu werden und anderen sinnvoll zu helfen2 , erfahren, um so ihre Hilfsbereitschaft und das Verantwortungsgefühl und nicht zuletzt ihr Selbstwertgefühl zu erhöhen. Denn zu den entwicklungspsychologischen Aufgaben von jüngeren Kindern gehört es, vertrauensvolle Beziehungen zu ihren Bezugspersonen und der Welt außerhalb der Kernfamilie zu entwickeln, um der Gefahr eines Generationenkonflikts durch negative Stereotypisierung und der zunehmenden gesellschaftlichen Trennung von Alten und Jungen gezielt entgegenzuwirken: „Nur vier Prozent der Jüngeren geben an, außerhalb von Schule, Familie und Beruf intensiver mit Älteren zu tun zu haben.“ 3
Damit schließt der religionspädagogische Ansatz nahtlos an das niedersächsische Kerncurriculum für Evangelische Religion an Grundschulen an, das im Kompetenzbereich „Nach dem Menschen fragen“ fordert, dass die Schülerinnen und Schüler Freude, Trauer, Wut und Geborgenheit als Erfahrungen menschlichen Lebens bei sich und anderen wahrnehmen und ausdrücken lernen sowie die Bedeutung menschlicher Beziehungen kennen und gestalten können. 4
Die Identitätstheorie von Erik H. Erikson gibt Hinweise zu positiven Einflüssen der Interaktion von jüngeren und älteren Menschen. Die Grundschulzeit beschreibt Erikson als eine Zeit großer Lernbereitschaft und der Neigung zu zeigen, was man zu vollbringen im Stande ist. Kinder entwickeln in dieser Zeit einen Werksinn, der aus der Überzeugung wächst, Anforderungen bewältigen zu können und nützlich zu sein. Durch Projekte mit alten Menschen können Kinder zeigen, was sie schon selbst erlernt haben und wie nützlich ihre Anstrengungen sind. 5
Ideen zum Aufbau einer Unterrichtseinheit
So galt es also in der ersten Stunde der geplanten Unterrichtseinheit erst einmal, mit den Schü- lerinnen und Schüler über das Thema „Alter“ ins Gespräch zu kommen, um dem oben genannten Problem des Sprachgebrauchs zu begegnen.
Konkret geschah dies mit Hilfe von Bildkarten, auf denen Menschen verschiedenen Alters zu sehen waren. Die Schülerinnen und Schüler wurden gebeten, sich für eine der Karten zu entscheiden und auf einem Arbeitsblatt kurz zu beschreiben, wie es zu ihrer Wahl kam. Auffällig war, dass vor allem die Bilder gewählt wurden, die sehr junge (Babys, Kleinkinder) oder sehr alte (hilfsbedürftige) Menschen zeigten. Vielfach passten auch die Begründungszusammenhänge zu dieser Wahl. Es wurde erläutert, dass der Mensch auf dem Bild traurig, krank, hilfsbedürftig aussehe und dass das Bild aus diesem Grund gewählt wurde. Bilder mit Menschen „mittleren“ Alters wurden eher gewählt, weil der Bildhintergrund die Schülerinnen und Schüler angesprochen hat: „Ich möchte auch einmal wieder am Strand sein“ und „Die Berge gefallen mir“ waren hier die Kernaussagen.
In einem zweiten Schritt sollten die gewählten Bilder von den Kindern geordnet werden. Die Kategorien blieben hierbei zunächst offen. So begann ein intensives Gespräch darüber, wie die Lerngruppe die Bilder sortieren wollte: „danach, ob einer Hilfe braucht oder nicht“ oder „ob da ein Mann oder eine Frau drauf ist“. Verschieden Modelle wurden durchgesprochen, bis schließlich auch die Variante „nach dem Alter“ Einzug in die Diskussion hielt. Die vorbereiteten Wortkarten „sehr jung“, „jung“, „mittelalt“, „alt“ und „sehr alt“ unter- stützen diese Kategorisierung. So gelang es den Schülerinnen und Schülern erstaunlich schnell festzulegen, welches Bild zu welchem Altersbereich gehören musste. Für die kommenden Unterrichtsstunden einigte sich die Lerngruppe auf diesen Sprachgebrauch, von „sehr jung“ bis „sehr alt“, damit allen bewusst war, von welcher Personengruppe geredet werden sollte. Zur Visualisierung verblieben die kategorisierten Bilder im Klassenraum.
In der sich anschließenden Stunde wurde das Leben der einzelnen Personengruppen konkretisiert. In einer arbeitsteiligen Gruppenarbeit visualisierten die Schülerinnen und Schüler auf Plakaten, was Menschen in ihrem Alltag tun. Hier kamen unterschiedlichste Ideen zusammen: Junge Menschen (Kinder) „gehen zur Schule, laufen, schwimmen, tuschen und spielen gern“. Menschen mittleren Alters „arbeiten, naschen, faulenzen und fahren Auto“, während die ganz Alten gern „lesen, sitzen und spazieren gehen“. Nach der Präsentation der vermuteten Präferenzen der einzelnen Personengruppen wurde in einem Gruppenpuzzle überlegt, was die Personengruppen gut zusammen machen könnten. Hier wurden vor allem „Ausflüge, Kochen, Backen und Vorlesen“ als gemeinsame Aktivitäten genannt.
Auf der Grundlage des Textes Prediger 4, 8-12, und hier vor allem den Versen „Denn wenn sie hinfallen, richtet einer den anderen auf. Doch wehe dem, der allein ist, wenn er hinfällt, ohne dass einer bei ihm ist, der ihn aufrichtet. Außerdem: Wenn zwei zusammen schlafen, wärmt einer den andern; einer allein – wie soll er warm werden?“6 kamen die Lerngruppe und die Lehrkraft im weiteren Verlauf der Unterrichtseinheit schließlich in ein Gespräch über unterschiedliche Formen des Zusammenlebens und -wirkens.
Hier wurde deutlich, was auch das statistische Bundesamt herausgefunden hat: Mehrere Generationen leben heutzutage sehr selten zusammen. „Der Anteil der Seniorinnen und Senioren, die mit in direkter Linie verwandten Familienmitgliedern anderer Generationen unter einem Dach lebten, lag 2014 bei acht Prozent und hat im Zeitvergleich deutlich abgenommen. Nur noch ein Prozent der Frauen und Männer ab 65 Jahren lebte 2014 in Haushalten mit drei oder mehr Generationen, also zum Beispiel gemeinsam mit den Kindern und Enkeln.“ 7
Auch in der Lerngruppe spiegelte sich dieses Bild wider. Alle Kinder lebten lediglich mit ihren Eltern, Stiefeltern oder nur einem Elternteil und Geschwistern in einem Haushalt. Es wurde also auch in der Lerngruppe deutlich: Obwohl die Menschen in unserer Gesellschaft immer älter werden, werden ältere Menschen von Kindern weniger wahrgenommen, denn sie leben mehrheitlich allein (74 Prozent aller Frauen über 85 Jahren) oder in Pflegeeinrichtungen, wo sie von der Außenwelt weniger bemerkt werden. 8
Dieses Dilemma versuchte ich im Folgenden aufzubrechen, indem ich mit der Lerngruppe überlegte, welche Dinge die jungen Menschen den (sehr) Alten beibringen könnten oder wie man sich gegenseitig helfen könnte. Schnell sprudelten die Ideen: „Die jungen Menschen könnten für die Alten einkaufen gehen oder ihnen Playstation spielen beibringen, damit sie sich nicht so schnell langweilen.“ „Sie könnten sich auch zusammen bewegen, z. B. eine Fahrradtour machen.“ „Umgekehrt könnten die Alten mit den Jungen lesen üben, Gesellschaftsspiele spielen oder basteln und schwimmen.“
Diese Ideen wurden in den folgenden Stunden aufgegriffen und konkretisiert: In einem gelenkten Unterrichtsgespräch überlegten wir gemeinsam, wie ein Kontakt zu älteren Menschen gelingen könnte und kamen schließlich auf die Idee, Kontakt zu dem örtlichen Pflegeheim aufzunehmen. Die Begeisterung über diese Möglichkeit war zunächst sehr groß, die Idee wurde dann jedoch auch angezweifelt. Chiara, deren Vater in der Altenpflege tätig ist, wusste zu berichten: „Vor den Alten muss man sich in Acht nehmen, die hauen auch, wenn sie was nicht mögen.“ Und Mareike ergänzte: „Und man muss sehr laut mit ihnen sprechen, sie hören nicht mehr so gut.“ Trotz der Bedenken überwog in der Anschlussstunde die Euphorie, einen gemeinsamen Besuch im Seniorenheim zu erleben. Also entwickelten wir Regeln, die den Schülerinnen und Schülern Sicherheit im Umgang mit den alten Menschen und dem Besuch bei den Seniorinnen und Senioren einen Rahmen geben sollten: „Wir sollten laut und deutlich sprechen! Wir sollten nicht rennen und keinen Quatsch machen, denn die Alten sind nicht mehr so schnell. Und wir sollten den Alten helfen, sie aber nicht ärgern!“
Als betreuende Lehrkraft nahm ich schließlich Kontakt zur örtlichen Pflegeeinrichtung auf, die ebenfalls großes Interesse an einem gemeinsamen Aktionstag „Alt und Jung“ zeigte. Wir vereinbarten einen passenden Vormittag, an dem die Grundschülerinnen und Grundschüler sowie die Seniorinnen und Senioren in Kontakt kommen sollten, und einigten uns darauf, dass die Grundschule die inhaltliche Planung übernähme, während das Pflegeheim bereit war, seine Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen.
So sammelten die Schülerinnen und Schüler Ideen für den Vormittag in der Senioreneinrichtung. Schnell wurde klar, dass Bastelangebote eine angemessene Beschäftigung böten, die mit wenig Aufwand vorbereitet werden konnten. Und so begannen die Kinder eifrig mit den Vorbereitungen: Schablonen wurden angefertigt, Papier, Scheren, Klebstoffe und andere Bastelutensilien eingepackt – dann ging es los: Wir machten uns zu Fuß auf den Weg in das Pflegeheim und bastelten nach einem kurzen Beschnuppern jede Menge Weihnachtsdekorationen für die Bewohnerinnen und Bewohner und das Klassenzimmer der Kinder. Der Vormittag verging wie im Flug.
Zurück in der Schule, sprudelten die Kinder nur so vor Erfahrungen: „Das Treffen hat viel Spaß gemacht. Ich hoffe, wir machen das wieder!“ oder „Das Basteln hat Spaß gemacht und ich wäre gerne noch länger dort geblieben.“ „Die waren ganz nett, aber manche konnten nicht so gut ausschneiden!“
Und so kann das im praktischen Tun Erlebte und im Religionsunterricht Versprachlichte auch weiterhin die Prosozialität der Schülerinnen und Schüler stärken. Nach den einstimmig positiven Reaktionen auf den gemeinsamen Bastelvormittag soll es auch zukünftig einen engen Kontakt zwischen der Pflegeeinrichtung und der Schule geben.
Anmerkungen:
- Vgl. www.seniorweb.ch/content/testblog-201404 14-02.
- Vgl. Hilger / Lindner: Ethisches Lernen – Wertebildung bei Kindern, 247.
- Kuhn: Wir können noch viel zusammen machen, 4.
- Vgl. Kerncurriculum Evangelische Religion Grundschule, 14.
- Vgl. Kuhn: Wir können noch viel zusammen machen, 5f.
- Einheitsübersetzung.
- Statistisches Bundesamt: Ältere Menschen in Deutschland und der EU, 66.
- Vgl. ebd.
Literatur
- Kuhn, Peter: Wir können noch viel zusammen machen, in: Grundschule Religion Nr. 24, 3. Quartal 2008
- Lindner, Konstantin und Hilger, Georg: Ethisches Lernen – Wertebildung bei Kindern, in: Hilger / Rit- ter / Lindner / Simojoki / Stögbauer: Religionsdidaktik Grundschule Handbuch für die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterricht, Stuttgart 2014
- Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für die Grundschule Evangelische Religion, Hannover 2006
- Statistisches Bundesamt: Ältere Menschen in Deutschland und der EU, Wiesbaden 2016. www.bmfsfj.de/blob/93214/95d5fc19e3791f90f8d582d61b13a95e/aeltere-menschen-deutsch land-eu-data.pdf (letzter Zugriff am 01.05.2018)
- www.seniorweb.ch/content/testblog-20140414-02 (letzter Zugriff am 11.04.2018)