„Ein lustig schön Gemach“ – Zur Geschichte der Loccumer Klosterbibliothek

Von Beate Ney-Janßen

 

Rund 80.000 Bücher so zu verpacken, dass im Anschluss alles wiedergefunden wird, ist eine echte Herausforderung. Im Kloster Loccum ist dieser Kraftakt erst vor wenigen Wochen bewältigt worden, denn die Bibliothek soll erweitert werden. Mit einem Neubau wird derzeit begonnen. Nach dessen Fertigstellung, voraussichtlich 2020, kommen die Bücher aus ihrem Lager in Hannover zurück.

Erstmals wurde die Loccumer Klosterbibliothek in der Chronik von Abt Stracke (1600-1629) erwähnt. Im Jahr 1238, führt er dort aus, habe ein „lector“ seine Arbeit in dem Zisterzienserkloster aufgenommen. Aus seiner eigenen Zeit berichtet Stracke stolz, dass sich 234 Bände im Besitz des Klosters befinden. Er beschreibt, wie sie in zwei Regalen angeordnet sind und nennt den zugehörigen Raum „ein lustig schön Gemach“. Dieses Bild hat sich innerhalb der folgenden Jahrhunderte jedoch sehr verändert. Mehr als nur ein „Gemach“ ist vonnöten, um die 80.000 Bände zu fassen, die auf 120.000 Bücher anwachsen sollen, wenn erst einmal der Neubau vollendet ist.

Theologie und Kirchengeschichte sind die Schwerpunkte der Sammlung, aber auch Bücher zu Naturwissenschaften, Psychologie, Kulturgeschichte und vielen anderen Themen haben einen Platz in den Loccumer Räumen gefunden. Dass die Bibliothek derart wachsen konnte, hat sie vielen Umständen zu verdanken. „Es hat nie gebrannt“, führt Loccums Abt Horst Hirschler an. Viele Äbte und auch andere Menschen hätten dem Kloster ihre kleinen Bibliotheken vermacht und da in Loccum seit langer Zeit Vikare ausgebildet würden, sei gerade in neuerer Zeit der Bestand gewaltig gewachsen.

Dass neben den moderneren Schriften viele Altertümer in der Bibliothek stehen, ist auch darauf zurückzuführen, dass die Klosterherren zur Zeit der Säkularisierung gute politische Beziehungen hatten. Viele Bibliotheken mussten damals ihre gedruckten Schätze abgeben. Das Kloster hingegen blieb weitestgehend davon verschont.

Das älteste Buch in der Bibliothek ist ein Vorgänger des Duden: ein Wörterbuch, lateinisch-griechisch, um 1200 datiert. Aufsehen erregender ist das Loccumer Evangeliar aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Den Holzwurm haben fachkundige Menschen dem hölzernen Buchdeckel längst ausgetrieben, sein Alter sieht man der theologischen Schrift am ehesten von außen an. Beim vorsichtigen Blättern durch die handgeschriebenen und handbemalten Seiten – jedes Bild wird durch einen dünnen Stoffstreifen geschützt – bleibt der Blick auf den leuchtenden Farben der biblischen Darstellungen haften. Dass dieses Buch eine Kostbarkeit ist, wird jedem Betrachter klar.

Gewaltig im wahrsten Sinne des Wortes ist die Kölner Bibel von 1473, die erste Bilderbibel in gedruckter Form. Wunderschön ziehen sich Bilder entlang des in niederdeutsch gehaltenen Textes, lediglich die nachträgliche Bemalung wirkt so, als sei kein Meister dabei zu Werke gegangen. Die Loccumer Historienbibel hingegen, die von 1447 bis 1466 entstand, wurde von Hand geschrieben. Jede Spalte des Buches wird von einer Fratze gekrönt, die sich alle zwar ähnlich sind, aber auf eine immense Phantasie ihres Erschaffers schließen lassen.

Auch ein Kräuterbuch aus dem Jahr 1545 zählt zu den Schätzen des Klosters und wird gern hervorgeholt, wenn Gruppen, die an Literatur interessiert sind, das Kloster besuchen. „Das Kreütter Buch“ heißt das Werk, das der Botaniker, Arzt und lutherische Prediger Hieronymus Bock zusammenstellte und das als erstes deutschsprachiges Kräuterbuch in gedruckter Form erschien. Mehr als ein oder zwei Handvoll dieser Erstausgabe existierten nicht mehr. Schön gemalte Zeichnungen von Pflanzen sind dort abgebildet, möglichst naturgetreu wurden sie gezeichnet, um den Lesern das Wissen um ihre „kraffe und würckung“, ihre Kraft und Wirkung, zu vermitteln. Die in schwarz-weiß bedruckten Seiten wurden von Hand nachkoloriert.

Das älteste Dokument, das Hirschler aus dem Bestand des Klosters hervorholen kann, ist eine Papst-Urkunde aus dem Jahr 1183. Das Siegel von Lucius III hängt unten an dem Papier. Gerade diese Dokumente seien besonders wertvoll, sagt der Abt, weil damit die Besitztümer des Klosters gemehrt wurden. Jede Schenkung, die ein reicher Mann dem Kloster machen wollte, wurde beurkundet, versiegelt und auf eine sechswöchige Reise per Maulesel nach Rom geschickt. Der Bote musste dort warten bis er das päpstliche Siegel bekam und sich dann auf den Rückweg nach Loccum gemacht. Weit und mühevoll gereist sind diese Dokumente also – und brachten dem Kloster jedes Mal großen Nutzen.

Die Bibliothek war im Kloster auf viele Räume verteilt. In ein großes Magazin mit angegliederten Arbeitsplätzen für die Vikare führte eine reichhaltig geschnitzte Tür vom Kreuzgang. Dahinter verbirgt sich ein Raum, mit reich verzierten Säulen und Gewölben. Bunte Glasscheiben in gotischen Fenstern gehören zu dem Raum – und all diese Pracht konnte nur stückchenweise erahnt werden, weil der Raum nicht nur mit Büchern vollgestellt war, sondern auch noch ein Zwischenboden eingezogen wurde. Eine der großen Errungenschaften der neuen Bibliothek wird es sein, dass sich die Pracht dieser Räume wieder entfalten kann. Völlig ungewohnt wird es dann auch sein, den Kreuzgang rundum begehen zu können. Seit 1750, als das Konventsgebäude gebaut wurde, sind nur noch drei Seiten dieses Ganges, der den Innenhof umschließt, für Besucher offen. Der vierte Gang wurde an beiden Enden abgesperrt und fortan „Rationalisten-Gang“ genannt. Dort, erzählt Hirschler, seien die „verbotenen Schriften“ aufbewahrt worden. Vikare, die Zugang zu solchen Büchern haben wollten, mussten um Erlaubnis und einen Schlüssel bitten.

Neben Büchern stand dort allerlei anderes scheinbar unbeachtet herum. Das alte Schild mit der Aufschrift „Criminal Gefängnis“ etwa, das neben der Zelle für Verhaftete angebracht war, als das Kloster noch die Halsgerichtsbarkeit hatte, eine große Darstellung des Gekreuzigten, die vor langer Zeit in der Stiftkirche stand, oder die handgemalte Karte von 1703, die die Ländereien des Klosters zeigt.

Den Architektenwettbewerb, den die Landeskirche Hannovers für den Neubau der Klosterbibliothek ausgeschrieben hatte, hat das Kasseler Büro „Pape + Pape“ gewonnen. Tradition und Moderne in Einklang bringen, kein historisierendes Gebäude schaffen, aber es dennoch harmonisch in das Ensemble einfügen, mit einem klaren und funktionalen Grundriss und auch energetisch-rational – so wollten die Architekten die dreistöckige Bibliothek erscheinen lassen. Ihr I-Tüpfelchen im Entwurf ist das, was sie „das Gebäude aus sich heraus begreifbar machen“ nennen: Dass es sich um eine Bibliothek handelt, soll durch vertikale Sichtbeton-Lisenen deutlich werden, die an drei Seiten im Erdgeschoss geplant sind und hinter denen sich die Fensterfronten befinden. „Wie Buchseiten“, sagen sie, haben sie diese Lisenen angeordnet. Doch nicht nur dekorativ wollen sie die Elemente verstanden wissen, sondern auch funktional, denn durch sie werde das Tageslicht in die Bibliothek eher indirekt dringen.