Das Thema Fundamentalismus gehört bisher nicht zu den „klassischen“ und eingespielten Themen des Religionsunterrichts. In diesem Aufsatz möchte ich erstens darlegen, inwiefern ich es für ein sehr dringliches und gewinnbringendes neues Thema für den Religionsunterricht halte, und zweitens eine erprobte Sequenz mit Unterrichtsideen und Materialien zum Thema vorstellen.
Didaktische Vorüberlegungen
1. Klassisch-didaktische Begründung des Themas
Dass das Thema „wichtig“ ist, lässt sich didaktisch leicht begründen, etwa im Rückgriff auf die berühmten Kriterien der „Didaktischen Analyse“ Wolfgang Klafkis. Das Thema hat nämlich sowohl „Gegenwarts“- wie „Zukunftsbedeutung“, wie hier lediglich thetisch behauptet und nicht weiter ausgeführt werden braucht, und natürlich auch „exemplarische Bedeutung“ für den Gegenstand „Religion“ überhaupt. Es lässt sich „zugänglich“ aufbereiten, sehr sogar, und man kann in ihm – mit etwas Aufwand – eine klare (didaktische) „Sachstruktur“ erkennen.1
2. Curriculare Begründung des Themas
Wie steht es aber mit einer curricularen Begründung des Themas? Im überarbeiteten niedersächsischen Kerncurriculum für die Oberstufe 2 taucht der Begriff insgesamt vier Mal auf, darunter Folgende: Im (neuen) 11. Jahrgang taucht er als „Möglicher Inhalt“ zur Inhaltsbezogenen Kompetenz „[Die Lernenden] zeigen Möglichkeiten der Identitätsstiftung durch Religion auf“ im Kompetenzbereich „Mensch“ auf. 3Das ist ein Hinweis darauf, dass Religion verschiedenartige Identitäten stiften kann. Schroff formuliert: Auch die IS-Kämpferin hat eben eine bestimmte religiöse Identität ausgebildet. Im Religionsunterricht muss es darum gehen, verschiedene Möglichkeiten von Identitätsstiftung zu erarbeiten und zu beurteilen. Im Kompetenzbereich Religionen in der Qualifikationsphase wird darauf hingewiesen, dass es im Unterricht darauf ankommt, „unterscheiden zu lernen zwischen Toleranz und Indifferenz sowie zwischen fundamentalistischen und aufgeklärten Formen von Religion.“4 Das ist ein Hinweis darauf, dass es erforderlich ist, Kriterien zu bestimmen, ab welchem Punkt man eine bestimmte religiöse Haltung für nicht mehr tolerabel hält, wo also eine „Grenze“ der interreligiösen Verständigung erreicht ist. Die genaue Bestimmung solcher Punkte ist auch wichtig zur Abgrenzung von denjenigen, die meinen, bereits Andersartigkeit per se sei ein hinreichender Grund für Abgrenzung.
3. Spezielle Begründung des Themas
Es gibt aber noch eine ganz andersartige Begründung für die Behandlung des Themas: In jüngster Zeit scheinen sich die Stimmen derjenigen zu mehren, die meinen, Religion sei per se fundamentalistisch, jede Form von Religion stehe unter Fundamentalismusverdacht. Nicht selten, so wird man befürchten müssen, haben solche Religionskritiker die Vorstellung, Theologische Fakultäten und Religionsunterricht seien eher Brutstätten, Religionslehrkräfte eher Beförderer des Fundamentalismus. Zu Recht weist etwa Ulrich Barth darauf hin: „Die Sorge ist nicht von der Hand zu weisen, dass durch die politisch-sozialen Auswirkungen des religiösen Fundamentalismus die innere Glaubwürdigkeit und kulturelle Ausstrahlungskraft ganzer Religionen Schaden leiden können.“5 Daher ist es umso wichtiger herauszustellen, dass der Religionsunterricht – recht verstanden – nicht der Beförderung von Fundamentalismus dient, sondern ein Fundamentalismusverhinderungsfach ist.
4. Vorannahmen und Vorkenntnisse der Schülerinnen und Schüler
Wer schon einmal das Thema Fundamentalismus im Unterricht behandelt hat, wird womöglich im Hinblick auf die Vorannahmen der Lernenden Folgendes festgestellt haben:
Erstens, die meisten verstehen unter „fundamentalistisch“ eher so etwas wie „sehr streng“.
Zweitens, die meisten haben keine Vorstellung davon, dass Fundamentalismus wissenschaftlich aufgefasst wird als Modus der Reaktion auf Liberalisierungstendenzen: „Religiöser Fundamentalismus – sofern er mehr ist als ein bloß individuelles oder schichtenspezifisches Bildungsproblem – beginnt also genau dort, wo die Differenzierung der Gesellschaft in Ethos, Recht, Politik und Religion im Namen des uniformen heiligen Kosmos wieder rückgängig gemacht wird.“6
Drittens, die meisten haben keine Vorstellung davon, wie eine nicht-fundamentalistische Religionsausübung aussehen könnte, welche entscheidenden Beiträge z. B. Reformation und Aufklärung dazu geleistet haben, und dass es Formen von Religion geben kann, die der Aufklärung nicht entgegengesetzt sind, sondern diese im Gegenteil produktiv in sich aufnehmen.
5. Warum man nicht nur eine Religion behandeln sollte
Die Forderung, bei der Behandlung dieses Themas nicht nur eine einzige Religion zu behandeln, scheint auf den ersten Blick nicht nur zwingend erforderlich, sondern irgendwie auch symmetrisch. Sie hat aber ganz unterschiedliche didaktische Begründungen: Die Begründung für die Behandlung von islamischem Fundamentalismus liegt eher in seiner Gegenwärtigkeit in der Lebenswelt, und zugleich darin, dass es dringend nötig ist, bestimmte Differenzierungen einzutragen (s.o.). Die Begründung dafür, dass Fundamentalismus in nicht nur einer Religion behandelt werden soll, liegt eher darin, dass die Einsicht angebahnt werden soll, dass „keine Religion aus sich allein davor geschützt ist“7, sondern es eines „Jahrhunderte bis Jahrtausende währenden Prozesses“ bedarf, um „den rituellen und symbolischen Umgang mit dem Unbedingten seinerseits als etwas Bedingtes zu begreifen“8.Und schließlich ist die Begründung dafür, dass jedenfalls auch christlicher Fundamentalismus behandelt werden soll, nicht nur die, dass er mancherorts durchaus in der Lebenswelt vorkommt (teils auch im schulischen Unterricht, dort dann teils sogar massiv), sondern auch die, dass dieses Vorgehen das Zutrauen darin stärkt, dass im Religionsunterricht nichts beschönigt oder vertuscht wird.
Darstellung einer erprobten Sequenz zum Thema
In diesem Abschnitt soll nun eine erprobte Sequenz vorgestellt werden, die so aufgebaut ist, dass erst Beispiele für christlichen (1.), dann (2.) für islamischen Fundamentalismus vorgestellt werden und daraus (3.) der Begriff des Fundamentalismus entwickelt wird. Im letzten Schritt (ab 4.) wird dann nach der umgekehrten Gestalt, also einer nicht-fundamentalistischen Religionsausübung gefragt, wiederum sowohl fürs Christentum (5. und 6.), wie auch für den Islam (7.).
Zugrunde gelegt (aber nicht unbedingt unterrichtlich an den Anfang gestellt) werden kann im Unterricht z. B. der Fundamentalismusbegriff von Gottfried Küenzlen in der RGG. Demnach ist Fundamentalismus „eine Ausprägung der Religionsgeschichte in der Moderne. Als ‚moderner Antimodernismus‘ entsteht Fundamentalismus als offensive Gegenbewegung zu einer modernitätsbestimmten Transformation der jeweiligen Herkunftsreligion, deren Wahrheit er durch Relativismus, Pluralismus, Historismus und Autoritätsvernichtung bedroht sieht. So unterschiedlich das Verhältnis von Religion und Moderne sich in den jeweiligen Kulturkontexten darstellt, so lassen sich doch allgemeine Merkmale des religiösen Fundamentalismus nennen, u. a.: Die Unterscheidung von Religion und Politik ist zugunsten eines unmittelbaren Geltungsanspruchs der religiösen Wahrheit für das politische Handeln aufgehoben. Im Ergebnis führt dies zu theokratischen Vorstellungen einer religiös fundierten societas perfecta. Damit verbindet sich eine dualistische Weltinterpretation, in der […] die Mächte des Lichts und des eigenen Gottes gegen die der Finsternis und des Satans stehen. Dazu tritt ein bestimmtes Verhältnis zur Heilsgeschichte, nach dem die Gegenwart als religiöse Verfallszeit, die Vergangenheit als idealisierte Zeit des gottgewollten Lebens erscheint und die Zukunft in einen apokalyptischen Horizont gestellt ist.“9
Kurz zusammengefasst nennt Küenzlen also drei Definitionselemente, nämlich erstens den Kampf gegen gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne, zweitens das dualistische Weltbild und drittens das deszendente Geschichtsbild. Meines Erachtens spricht einiges dafür, als viertes Element noch das Kriterium des unkritischen Umgangs mit der jeweiligen Heiligen Schrift hinzuzunehmen.
1. Einstieg: Ein Beispiel für christlichen Fundamentalismus
Es bietet sich – wie so oft – ein induktiver Zugang an, von dem ausgehend dann zumindest einige der Merkmale des Fundamentalismus erarbeitet werden können. Weiterhin bietet es sich an, mit einem Beispiel für christlichen Fundamentalismus anzufangen. Hat man diese beiden Entscheidungen gefällt, sind verschiedene Texte und Themenfelder denkbar, Anregungen findet man z. B. in dem Materialband von Matthias Roher. 10 Eine dritte didaktische Entscheidung betrifft sodann aber die Frage, ob man mit einem Beispiel aus der unmittelbaren Lebenswelt anfängt oder ob man das gerade vermeiden sollte. Die Frage lässt sich nur in Bezug auf die konkrete Situation vor Ort (gibt es fundamentalistische Gruppen vor Ort oder im Umfeld?) und in Bezug auf die kontingente Situation der Lerngruppe (gibt es Mitglieder der Lerngruppe, die selber fundamentalistisch sind?) entscheiden.
Ich habe gute Erfahrungen gemacht mit einem abgelegenen Text zu einem etwas überraschenden Thema: Nach der Loveparade-Katastrophe in Duisburg 2010 äußerte sich die frühere Tagesschausprecherin Eva Hermann auf der Homepage des Kopp-Verlages in drastischer Weise zu den Ereignissen:11 Die Katastrophe sei nämlich eine Art Strafe für das (ihrer Auffassung nach) unsittliche Treiben gewesen. Liest man ihren Text im Unterricht, so kann man sich nicht nur der Empörung der Lernenden sicher sein, sondern kann induktiv zumindest zwei der oben genannten vier Definitionselemente erarbeiten, nämlich das deszendente Geschichtsverständnis und das dualistische Weltbild. So spricht sie von einem „finsteren Meister der sichtbaren Verführung“, der gegen „andere Mächte“ stehe, die die Katastrophe von Duisburg willentlich herbeigeführt haben: „Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen.“ Es gibt ausdrücklich einen Gegensatz zwischen der Gegenwart als Verfallszeit und der Vergangenheit als idealisierter Zeit: In den „unheilvollen Auswüchse[n] der Jetztzeit“ sei man „nicht weit vom Abgrund entfernt“. Das alles wird in Bildern und mit sprachlichen Mitteln der Apokalyptik beschrieben: Man meint, in der „Verfilmung der letzten Tage gelandet zu sein, wie sie in der Bibel beschrieben werden“, es ist ein „Sodom und Gomorrha mit katastrophalen Folgen“, bei dem sich unfassliche Szenen abspielen, z. B. fielen Menschen „bewusstlos um und gingen in den wild gewordenen Massen unter“. Die Bässe der Musik sind nicht nur tief, sondern es handelt sich um „abgrundtiefe[…] Bassschläge[…]“.
2. Zweiter Schritt: Ein Beispiel für Islamischen Fundamentalismus
Im nächsten Schritt kann ein Beispiel für islamischen Fundamentalismus vorgestellt werden. Materialien lassen sich leicht finden, etwa in dem Band von Matthias Roser. Wichtig ist, dass sich in dem jeweiligen Material möglichst ebenfalls Beispiele für die genannten Definitionselemente des Fundamentalismusbegriffes finden lassen.
3. Begriffsklärung
An dieser Stelle des Unterrichtsganges, nachdem also (induktiv) zwei Beispiele von religiösem Fundamentalismus behandelt wurden, kann nun ohne Weiteres eine wissenschaftliche Definition des Begriffes Fundamentalismus erarbeitet werden, etwa im Rückgriff auf die oben zitierten Definitionselemente von Küenzlen. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, diese Definitionselemente im Laufe des Fortgangs der Sequenz gewissermaßen als roten Faden immer wieder in Erinnerung zu rufen.
4. Ausdifferenzierungsprozesse
Im dritten Schritt der Sequenz ist es nun wichtig, noch einmal die Perspektive zu wechseln. Zwar könnte man, nachdem Beispiele für religiösen Fundamentalismus behandelt worden sind und ein wissenschaftlicher Begriff erarbeitet worden ist, annehmen, nun sei alles gesagt, aber wie so oft gilt didaktisch: Das Gegenteil versteht sich nicht von selbst. Denn würde man die Lernenden an dieser Stelle fragen, wie man es denn nun stattdessen machen sollte, so würden sie antworten: gar keine Religion mehr ausüben! Aber das Gegenteil von „religiösem Fundamentalismus“ ist nicht „gar keine Religion“, sondern „aufgeklärte Religion“. Wie die nun aber aussehen könnte, ist den Lernenden, wie schon gesagt, keineswegs von allein klar. Es ergibt sich vielmehr erst im (erneuten) Durchgang durch die Definitionselemente des Fundamentalismusbegriffs. Dabei sind unterrichtlich nicht unbedingt alle vier gleich einleuchtend; evtl. genügt es, sich auf das Verhältnis von Staat und Religion sowie den Umgang mit der heiligen Schrift zu beschränken. So soll es auch hier geschehen. Wie also sieht z. B. ein Christentum aus, das sehr wohl die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse nicht nur gleichsam zähneknirschend duldet, sondern sogar aktiv befördert? Diese Frage lässt sich gut motivieren, indem die Lehrkraft in einem ersten Schritt zunächst „provozierende Thesen“ aufstellt, etwa der Art, das Christentum in Deutschland sei sehr fundamentalistisch, denn es herrsche keine Trennung von Religion und Staat, was man an der Existenz kirchlicher Kindergärten und Schulen, in denen Kinder indoktriniert würden, sehen könne, aber auch daran, dass der vorige Bundespräsident ein Pfarrer war und die von 2005 an regierende Bundeskanzlerin eine Pastorentochter. Auch die hier als Material beigegebene Karikatur „Islamisierung des Abendlandes“ (M 1) 12 kann hierzu motivierend sein. Erst nach diesem „provozierenden“ Schritt, durch den die Fragerichtung hinreichend motiviert sein dürfte, sollte man anfangen, Beispiele für solche Differenzierungsprozesse im Unterricht zu erörtern.
5. Das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland
Das Spezifische an der (durchaus komplexen) Verhältnisbestimmung von Staat und Religion in Deutschland versteht man besten in Abgrenzung zu zwei andersartigen Verhältnisbestimmungen, nämlich einerseits einer starken Verbindung (Staatskirche oder Staatsreligion) und andererseits einer rigorosen Trennung, bei der die Religion vom Staat flugs zur Privatsache erklärt und weitestgehend aus der Öffentlichkeit verbannt wird. Es kann in der Oberstufe sehr erhellend sein, dazu auch einmal juristische Texte zu lesen, etwa folgenden Text von Hermann Avenarius:
„Die Gewährleistung voller Religionsfreiheit ist eine Grundvoraussetzung freien Geisteslebens, in das einzugreifen dem Staat verboten ist. Art. 4 GG gebietet somit die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates. In Ergänzung hierzu enthält Art. 140 GG, der die Artikel 136 bis 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung zum Bestandteil des Grundgesetzes erklärt, wichtige rechtliche Grundlagen für das Staatskirchenrecht, also für das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen. Einerseits darf es keine Staatskirche geben (Art. 140 GG); andererseits ordnet und verwaltet jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes (Art. 140 GG). Es besteht demnach eine organisatorische Trennung von Staat und Kirche, jedoch nicht in dem strikten Sinne, dass der religiös neutrale Staat das öffentliche Wirken der Kirchen ablehnt und ihnen mit Indifferenz und Zurückweisung begegnet. Vielmehr sucht er ihre Aktivitäten auch im öffentlichen Bereich zu fördern, ohne sich freilich mit ihnen zu identifizieren und ohne die eine oder die andere Kirche bzw. Religionsgemeinschaft zu bevorzugen.“13
Die Trennung von Staat und Kirche bei gleichzeitigem Recht auf Religionsfreiheit sowie auf Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften sind also die drei bestimmenden Elemente. Das Verständnis dieses „Mischsystems“, das systematisch gewissermaßen genau zwischen den zwei oben genannten, konkurrierenden Verhältnisbestimmungen steht, lässt sich im Unterricht einerseits mit dem gerade zitierten, eher theoretischen Grundlagentext von Avenarius anbahnen, und anschließend konkreter veranschaulichen mit einigen Stellen aus dem schmalen Büchlein „Staat und Kirche unter dem Grundgesetz“ des Kirchenjuristen Axel Freiherr von Campenhausen von 1994:
„Im Blick auf den weltanschaulichen Eifer, der in Diktaturen wie in freien Gesellschaften immer wieder durchbricht, ist festzuhalten, dass Neutralität keinerlei staatliche Nötigung zu individuellem Agnostizismus und Indifferentismus in sich schließt. […] Der Staat hat die Bürger in religiös-weltanschaulicher Hinsicht nicht zu erziehen, sie nicht von vermeintlichen oder wirklichen religiösen Vorurteilen abzubringen, sondern er hat deren Entscheidung bei der Regelung der sozialen und kulturellen Verwaltung zu respektieren.“ (S. 57)
„Neutralität verlangt vom Staat, dass er das Kirchliche an den Kirchen nicht ignoriert und sie nicht behandelt als wären sie keine Kirchen. […] Neutralität bedeutet deshalb nicht das Diktat eines Neutralismus im Sinne verordneter Standpunktlosigkeit und eines weltanschaulichen Vakuums, das den Christen (unter Aufgabe der Neutralität) offen oder insgeheim am Maß des Atheisten misst.“ (S. 58)
Es ist darüber hinaus lohnend, die Konsequenzen dieser Verhältnisbestimmung für verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu thematisieren: Erstens, im Bereich der Erziehung und Wohlfahrt etwa werden kirchliche Einrichtungen (wie z. B. kirchliche Kindergärten, Schulen, kirchliche Krankenhäuser, Diakoniestationen, Obdachlosenheime, Bahnhofsmission) vom Staat nicht nur gleichsam zähneknirschend geduldet, sondern der Staat überträgt sogar in gewissen Grenzen seine eigenen Aufgaben auf diese religiösen Einrichtungen. Solange sie den staatlich delegierten Aufgaben korrekt nachkommen, können sie auch spezifisch religiöse Zusatzangebote machen. Z. B. müssen in einer kirchlichen Schule die gleichen Leistungsanforderungen herrschen wie an einer staatlichen Schule; darüber hinaus kann aber auch eine Morgenandacht angeboten werden, die dann nicht etwa vom Staat verboten wird. Der Staat stellt sich auch nicht etwa auf den Standpunkt, dass er kirchliche Krankenhäuser „nicht anerkenne“, etwa indem die Leistungen kirchlicher Krankenhäuser nicht von Krankenkassen getragen würden. Und wenn der Staat, zweitens, schulischen Religionsunterricht einrichtet, so liegt darin gerade nicht eine Verletzung des Prinzips der Trennung von Kirche und Staat, sondern eine Ermöglichung der positiven Religionsfreiheit. Zu Recht schreibt von Campenhausen: „Es besteht ein Recht darauf, dass die Kinder nicht von Staats wegen zwangsweise so erzogen werden, als gäbe es weder Gott noch Kirche noch religiöse Tradition“ (S. 75). Sondern durch Religionsunterricht und ein (gleichwertiges) Ersatzfach ermöglicht der Staat, dass seine Bürger durch Bildung in die Lage versetzt werden, das Grundrecht der Religionsfreiheit aktiv in Anspruch nehmen zu können (in ihrem Leben, nicht im Unterricht!), sei es die positive oder die negative.
6. Elemente eines aufgeklärten Umgangs mit der heiligen Schrift
Wenn davon die Rede ist, man wolle sich der Heiligen Schrift auf eine aufgeklärte, wissenschaftliche, kritische Weise nähern, sind zwei Dinge zu bedenken: Erstens, die Schülerinnen und Schüler erliegen bei solchen Formulierungen nur all zu leicht der Vorstellung, man wolle die Heilige Schrift nun „lockerer“ nehmen, „nicht so streng“, sie also letztlich nicht so ernst nehmen, was eigentlich nicht, jedenfalls nicht exakt das ist, was gemeint ist. Zweitens denkt man bei einem solchen Ansinnen natürlich zunächst an die historisch-kritische Exegese, wie man sie (als Lehrkraft) im Studium gelernt hat und wie sie im Gefolge des Aufstieges des „Hermeneutischen Religionsunterrichtes“ eine Zeitlang auch Eingang in Schulbücher und Unterrichtsmaterialien erhalten hatte. Doch wie so oft ist die wissenschaftliche Logik (hier mit der relativ strikten Vorgabe bestimmter Schritte, die nacheinander abzuarbeiten sind) nicht zwingend identisch mit der didaktischen: Wenn das (didaktische) Ziel darin besteht, ein Gespür dafür zu vermitteln, was es heißt, sich der heiligen Schrift stets in einem aufgeklärten Modus der Auslegung zu nähern, ohne dadurch ihre Würde als Grundlage des Christentums infrage zu stellen, dann ist es womöglich zielführender, sich auf einen aussagekräftigen Teilschritt der historisch-kritischen Exegese zu beschränken. Und es ist dann womöglich sogar noch wichtiger, noch ganz andere Aspekte zu betonen, anstatt Wert darauf zu legen, dass alle Teilschritte der historisch-kritischen Methode vollständig „durchgenommen werden“. Ich plädiere daher dafür, sich an dieser Stelle der Sequenz radikal auf drei, evtl. vier Aspekte zu beschränken:
Erstens ist es wichtig, im Religionsunterricht zu vermitteln, dass es in der Bibel bestimmte, wiederkehrende Sprachformen gibt, etwa die metaphorische Rede. Man kann sie zunächst an Beispielen von außerbiblischer metaphorische Rede, wie sie uns im Alltag ständig begegnet, explizieren: So könnte man z. B. den berühmtem Satz von John F. Kennedy „Ich bin einer Berliner“ grausam missverstehen, wenn man ihn „wörtlich“ verstehen wollte (was in Wahrheit niemand tun würde, weil jedermann die metaphorische Bedeutung sofort versteht): Man würde etwa „herausfinden“, dass Kennedy gar kein Berliner war, er war nicht im Einwohnermeldeamt registriert, in seinem Pass war nicht Berlin als Wohnort eingetragen, er hatte gelogen. Fragt man umgekehrt, warum er sich (trotz dieses – überaus unwahrscheinlichen, aber prinzipiell möglichen – Missverständnisses) dieser metaphorischen Rede bediente, können die Lernenden die rhetorische Funktion und Wirkung durchaus sehr gut beschreiben. Diese Analyseschritte (1. Welches „wörtliche“ Missverständnis wäre denkbar? 2. Was ist tatsächlich gemeint? 3. Inwiefern befördert die metaphorische Rede gerade dieses Anliegen?) kann man auch auf andere metaphorische Redeweisen anwenden, etwa auf den Spruch aus dem Stufengedicht von Hermann Hesse „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“, auf die Formulierung zweier Liebender „Wir sind füreinander bestimmt“, auf Texte der Popkultur (z. B. die Zeile „Ich brauch‘ viel mehr davon, erst dann fang ich zu leben an“ aus dem Lied „Mehr davon“ von Tim Bendzko). Und danach eben auch auf Bibeltexte, näherhin solche, bei denen „wörtliche“ Missverständnisse von metaphorischer Rede drohen.14
Zweitens kann man zumindest in Ansätzen das Handwerkzeug der Literarkritik und Redaktionskritik behandeln, indem man – ohne lange Ausführungen zur Zweiquellentheorie o. ä. – ausgewählte synoptische Texte miteinander konfrontiert, bei denen die literarischen Abhängigkeiten leicht erkennbar sind und die redaktionellen Tätigkeiten besonders drastisch zutage treten, etwa Mt 8,14-17 par Mk 1,29-34.
Drittens kann man aufzeigen, was Kritik im Horizont zeitbedingter Weltbilder heißt: Ein ganz harmloses Beispiel für eine falsche Aussage in der Bibel ist z. B. die, die Sonne kreise um die Erde (Jos 10,12f.). Das wird auch ein „Fundamentalist“ nicht für wahr halten, es war eben eine zeitbedingte Auffassung.
Nicht unbedingt erforderlich, aber auch gewinnbringend kann es (viertens) sein, Theologische Sachkritik zu behandeln: Unter den vielen sich widersprechenden Stellen in der Bibel kann man unterrichtlich die Frage nach der Stellung der Frau auswählen, zu der ein und der selbe Autor in 1Kor 14,34 und Gal 3,28 sich widersprechende Aussagen macht. Die exegetische Kunst ist es, nicht Tricks zu suchen, wie man den Widerspruch als einen nur vermeintlichen auflösen kann, sondern mit Hilfe eines angebbaren theologischen Argumentes ein Kriterium aufzustellen, das die eine Stelle als die wesentliche, die andere als die unwesentliche klassifizieren kann – das genau ist „Theologische Sachkritik“.
7. Ausdifferenzierungsprozesse im Islam
Auch in diesem Schritt sollte die Frage wieder nicht nur auf das Christentum, sondern auch auf eine weitere Religion bezogen werden, etwa indem die Frage gestellt wird, ob und inwiefern es auch im Islam Bestrebungen nach Ausdifferenzierungsprozessen gibt, und mit welchen Problemen die Protagonisten solcher Bestrebungen konfrontiert sind. Auf der Suche nach einem geeigneten Unterrichtsmaterial dafür bin ich auf einen SPIEGEL-Artikel mit dem Titel „Gott ist kein Diktator“ (M 2) über „moderne Aufbrüche“ im Islam gestoßen, der hier als Material beigegeben wird. 15 Ohne weiteres lassen sich darin zu allen Definitionselementen des Fundamentalismus passende Stellen finden, die zeigen können, wie ein aufgeklärter Islam möglich ist und wie einige Moslems, darunter Mouhanad Korchide oder Navid Kermani, sich auch tatsächlich darum bemühen.
Literatur
- Avenarius, Hermann: Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1995
- Barth, Ulrich: Was ist Religion? Sinndeutung zwischen Erfahrung und Letztbegründung, in: Ders.: Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 3-27
- Ders.: Art. Säkularisierung, in: TRE Bd. 29 (1998), S. 603-632
- Campenhausen, Axel Freiherr von: Staat und Kirche unter dem Grundgesetz: eine Orientierung, Hannover 1994
- Diez, Georg / Popp, Maximilian: „Gott ist kein Diktator“, in: DER SPIEGEL Nr. 6 (6. 2. 2016), S. 122-127
- Halbfas, Hubertus: Religiöse Sprachlehre. Theorie und Praxis, Ostfildern 2012
- Hermann, Eva: Sex- und Drogenorgie Loveparade: Zahlreiche Tote bei Sodom und Gomorrha in Duisburg. http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/eva-herman/sex-und-drogenor gie-loveparade-zahlreiche-tote-bei-sodom-und-gomorrha-in-duisburg.html (zuletzt abgerufen am 12.05.2017)
- Klafki, Wolfgang: Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung, in: Ders., Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim 1958, S. 126-153
- Küenzlen, Gottfried: Art. Fundamentalismus I und II.1, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 3 (2000), Sp. 414f.
- Niedersächsisches Kultusministerium: Kerncurriculum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule – gymnasiale Oberstufe, das Berufliche Gymnasium, das Abendgymnasium, das Kolleg. Evangelische Religion, Landtagsfassung, Hannover 2017. (http://nline.nibis.de/cuvo/forum/upload/public/jensbol/re-e_go_kc_anhoerung_2016.pdf)
- Roser, Matthias: Zwischen Glaube und Besessenheit. Umfassende Materialien zum Fundamentalismus in den Weltreligionen. Mit Kopiervorlagen, Donauwörth 2010
Anmerkungen
- Vgl. W. Klafki, Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung.
- Das für die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium überarbeitete Kerncurriculum lag zur Zeit der Abfassung dieses Arti-kels erst in der Landtagfassung vor: https://nline.nibis.de/cuvo/forum/upload/public/jensbol/re-e_go_kc_landtag_2017.pdf.
- Ebd., S.18.
- Ebd., S. 29.
- U. Barth, Was ist Religion, S. 26
- Ebd., S. 27.
- Ebd., S. 27.
- Ebd., S. 26.
- G. Küenzlen, Art. Fundamentalismus, Sp. 415.
- M. Roser, Zwischen Glaube und Besessenheit. Umfassende Materialien zum Fundamentalismus in den Weltreligionen.
- E. Hermann, Sex- und Drogenorgie Loveparade: Zahlreiche Tote bei Sodom und Gomorrha in Duisburg. https://infowars.wordpress.com/2010/07/25/sex-und-drogenorgie-loveparade-zahlreiche-tote-bei-sodom-und-gomorrha-in-duisburg; Stand 12.05.2017, 9.15 Uhr.
- Karikatur „Islamisierung des Abendlandes“, in: Religion 5-10, Heft 19 (3. Quartal 2015), S. 28. Die Materialien zu diesem Artikel finden Sie auch im Downloadbereich auf der Website des RPI unter www.rpi-loccum.de/pelikan.
- H. Avenarius, Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, S. 30f.
- Eine wahre Fundgrube für dieses Thema ist H. Halbfas, Religiöse Sprachlehre.
- G. Diez / M. Popp, „Gott ist kein Diktator“, in: DER SPIEGEL Nr. 6 (6.2.2016), S. 122-127. Siehe www.spiegel.de/spiegel/print/d-142514336.html (Stand 09.05.17). Auszüge aus dem Artikel finden auch Sie im Download-bereich auf der Website des RPI unter www.rpi-loccum.de/pelikan.