Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen und seinen Bedingungen. Man kann grob zwischen zwei Hermeneutikversionen unterscheiden. Während die schwache Version der Ansicht ist, dass das Verstehen der Normalfall ist und Missverständnisse oder Unverständnis die Ausnahme bilden, rechnet die starke Version von Hermeneutik damit, dass das Missverständnis der Normalfall ist, während das Verstehen eigens gesucht werden muss. Das war die Ansicht Friedrich Schleiermachers (1768-1834), und ihr kommt für die Bibelhermeneutik besondere Bedeutung zu.
Das Christentum und der christliche Glaube gründen in der Verkündigung, die Jesus von Nazareth als Retter der Welt bezeugt. Die kürzeste Formel dieses Glaubens ist das Bekenntnis: Jesus ist der Christus. Das Christuszeugnis wird auch als Evangelium bezeichnet, und dieses griechische Wort bedeutet soviel wie gute Nachricht oder gute Botschaft. Sie wird bis auf den heutigen Tag in erster Linie mündlich verbreitet – sei es in Gestalt der gottesdienstlichen Predigt, in Form von religiösen Bildungsprozessen oder in seelsorgerlichen Gesprächen. Auch Musik und Kunst, Architektur und Diakonie sind Gestalten der Evangeliumsverkündigung. Will man ihren dialogischen Charakter unterstreichen, spricht man heute gern von der Kommunikation des Evangeliums.
Zu den Kommunikationsmedien gehört neben den genannten die Schrift. Unter den zahlreichen schriftlichen Formen der Kommunikation des Evangeliums seit den Anfängen des Christentums spielt die Bibel eine herausragende Rolle. Wiewohl eine Sammlung von vielen Einzelschriften wird sie doch in der Christenheit als ein einziges Buch betrachtet, als Heilige Schrift und Buch der Bücher. Ihr besonderer Rang kommt darin zum Ausdruck, dass sie kanonisiert worden sind.
Wie die jüdische umfasst die christliche Bibel, bestehend aus dem Doppelkanon des Alten und des Neuen Testaments, alle drei Aspekte. Sie ist primär heiliger Text, der im Gottesdienst rezitiert wird, dann aber auch kanonischer Text, der in der Predigt, aber auch in der Lehre der Kirche und in der Theologie ausgelegt wird. Und schließlich ist er ein klassischer Text in der Kulturgeschichte des sogenannten christlichen Abendlandes. Die Überschneidung, aber auch die Unterscheidung der drei genannten Aspekte ist theologisch und hermeneutisch von Belang.
Neuere Ansätze der Bibelhermeneutik machen zunächst auf den Unterschied zwischen mündlicher Kommunikation und Textlektüre aufmerksam. Sie machen die Schriftlichkeit der biblischen Texte zu einem eigenständigen Thema.1 Wegweisende Überlegungen dazu finden sich beispielsweise bei dem französischen Philosophen Paul Ricœur (1913-2005). Die Hermeneutik vor Schleiermacher beschränkte sich auf die Kunstregeln der Textinterpretation. Schleiermacher hat dann die Reichweite der Hermeneutik erweitert und eine Entwicklung eingeleitet, die über Wilhelm Dilthey (1833-1911), Martin Heidegger (1889-1976) und Hans-Georg Gadamer (1900-2002) zum Konzept einer universalen Hermeneutik und hermeneutischen Philosophie geführt hat.
Das Problem einer universalen Hermeneutik im Anschluss an die Heidegger-Schule besteht freilich darin, dass das Verstehen der Welt und des eigenen Daseins am Paradigma der Textinterpretation orientiert ist, während umgekehrt das Verstehen von Texten nach Analogie des mündlichen Dialogs, nämlich im Schema von Frage und Antwort gedacht wird. Letztlich wirkt im Konzept einer universalen Hermeneutik noch immer die antike Auffassung nach, die Verschriftlichung von Sprache sei lediglich ein Ersatz für mündliche Kommunikation und gegenüber der mündlichen Rede defizitär. Während nämlich die mündliche Rede durch Unmittelbarkeit ausgezeichnet sei, führe die Verschriftung zum Verlust solcher Unmittelbarkeit und sei somit eine Gestalt der Entfremdung des Geistes.
Die neuere hermeneutische Debatte hat jedoch gezeigt, dass die der mündlichen Rede zugestandene Unmittelbarkeit eine Fiktion ist. Außerdem ist unsere Kultur ganz wesenhaft eine Schriftkultur. Nach Emanuel Levinas (1905-1995) sind wir vom Buche her. Jacques Derrida (1930-2004) dagegen erklärt, der Mensch sei zwar nicht vom Buch als abgeschlossenem Text, jedoch von der Schrift als unabgeschlossener Intertextualität und somit vom Lesen her. Allerdings sollte man sich vor hermeneutischen Kurzschlüssen und Einseitigkeiten im Gegenschlag zur Philosophie der universalen Hermeneutik hüten. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass es bis heute auch schriftlose Kulturen gibt. Zweifellos aber spielen Texte und Bücher eine grundlegende Rolle für das kollektive Gedächtnis unserer eigenen Kultur.
Neben dieser Erinnerung ist eine weitere Einsicht der jüngsten hermeneutischen Debatte bzw. der neueren Literaturwissenschaften von Bedeutung, nämlich die Einsicht in den qualitativen Unterschied der Verstehenssituation und Verstehensbedingungen, welcher zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation besteht. In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Positionen einer rezeptionsorientierten literarischen Hermeneutik entwickelt. Man kann grob zwischen rezeptionsästhetischen Ansätzen und Intertextualitätskonzeptionen unterscheiden, zwischen denen es aber fließende Übergänge gibt. Die unterschiedlichen Theorien konvergieren darin, dass sie die Hermeneutik auf den eingeschränkten Hermeneutikbegriff vor Schleiermacher zurückführen, d. h. die spezifischen Bedingungen und Regeln der Interpretation von Texten analysieren. Gegenüber seiner philosophischen Ausweitung in der hermeneutischen Philosophie nach Heidegger wird der Begriff der Hermeneutik damit wieder auf sein technisches Grundverständnis reduziert.
Für die Textinterpretation bedeutet dies, dass ganz fundamental dem Faktum Rechnung zu tragen ist, dass es sich um materielle Artefakte handelt, die gegenüber mündlicher Kommunikation eine eigenständige Form der Kommunikation darstellen. Peter Szondi (1929-1971) hat dementsprechend das Programm einer literarischen Hermeneutik aufgestellt,2 welche sich von der philologischen Hermeneutik vor Schleiermacher dadurch unterscheidet, dass sie den ästhetischen Charakter von Texten nicht erst sekundär zum Gegenstand der Untersuchung erhebt, sondern zur Prämisse der Auslegung erklärt. Entsprechend verlangt eine literarische Hermeneutik die Beachtung unterschiedlicher Textsorten (Gattungen) und textsortenspezifische Vorgangsweisen bei der Interpretation.
Die literarische Hermeneutik lenkt den Blick vom Autor und seiner Textproduktion zum Leser und zum Akt des Lesens als Textrezeption.3 Diesen Aspekt schriftlicher Texte und literarischer Werke untersucht unter verschiedenen Fragestellungen und auf unterschiedlichen Wegen die sogenannte Rezeptionsästhetik. Unter Aufnahme der semiotischen Begrifflichkeit von Charles Morris (1901-1979) lässt sich sagen, dass die Rezeptionsästhetik literarische Texte in pragmatischer Hinsicht analysiert und pragmatische Textmodelle entwickelt, die nicht nur die Kategorie des Autors, sondern auch diejenige des Lesers in den Interpretationsvorgang einbeziehen.
Die klassischen Methoden der historisch-kritischen Exegese sind vornehmlich an der Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte eines Textes und der mutmaßlichen Aussageabsicht des Autors interessiert. Die Frage der Textaneignung (Applikation) durch den heutigen Leser tritt demgegenüber in den Hintergrund. Verbreitet ist die Kritik an der historisch-kritischen Exegese, sie leiste dem Bedeutungsverlust der Bibel Vorschub, indem sie zu einem religiösen Erfahrungsverlust führe. Entgegen ihrem erklärten Ziel gelinge es der historisch-kritischen Bibelauslegung nicht, die Lebens- und Erfahrungswelt der biblischen Schriften, ihrer Autoren und ihrer ursprünglichen Leser zu erschließen, geschweige denn diese mit unserer heutigen Erfahrungswelt zu vermitteln. Historische Textanalyse und Rekonstruktion verhindere jene Leseerfahrung, die doch das Ziel jeder Bibellektüre sein sollte, nämlich eine neue „Erfahrung mit der Erfahrung“ (Eberhard Jüngel und Gerhard Ebeling) zu machen.
So nimmt es nicht wunder, dass nach neuen, erfahrungsbezogenen Zugängen zur Bibel gesucht wird. Um solche Zugänge bemühen sich je auf ihre Weise die Ansätze einer tiefenpsychologischen, einer feministischen, einer befreiungstheologischen oder auch einer materialistischen Exegese. Manches davon wird auch als „wilde Exegese“ apostrophiert. So unterschiedlich ihre Zugangsweisen im einzelnen sind, so verbindet die genannten Ansätze doch die Überzeugung, dass Sinn und Bedeutung biblischer Texte nicht auf die – historisch-kritisch zu erhebende – bewusste Aussageabsicht ihrer Verfasser reduziert werden dürfen, sondern dass auch Tieferliegendes, Unbewusstes in die Texte eingeflossen ist. Der Sinn eines biblischen Textes erschließe sich daher in vollem Umfang erst, wenn seine Tiefenschichten freigelegt würden. Gegenüber der von der historisch-kritischen Bibelauslegung postulierten Eindeutigkeit und Einsinnigkeit wird den Texten der Bibel somit eine Mehrdeutigkeit und Vielstimmigkeit zugestanden, wie sie – wenn auch unter anderen gedanklichen Voraussetzungen – in ähnlicher Weise die altkirchliche und mittelalterliche Lehre vom mehrfachen Schriftsinn angenommen hat.
Eine grundlegende Erkenntnis von literarischer Hermeneutik und Rezeptionsästhetik bzw. poststrukturalistischer Texttheorien besteht in der Autonomie, die ein Text im Zuge seiner Verschriftung gegenüber seinem Autor gewinnt. Pointiert hat Roland Barthes (1915-1980) diesen Vorgang der Autonomie als Tod des Autors bezeichnet. Paul Ricœur erklärt: „Was der Text bedeutet, fällt nicht mehr mit dem zusammen, was der Autor sagen wollte. Wörtliche, das heißt Text gewordene, und nur gedachte oder psychologische Bedeutung haben von nun an unterschiedliche Schicksale.“4
Autonom ist der Text freilich nicht nur gegenüber dem empirischen Autor, sondern auch gegenüber dem empirischen Leser. Der Sinn des Textes ist nicht identisch mit der Intention des realen Autors bei seiner Abfassung. Überhaupt ist die produktionsästhetische Kategorie der Intention des Autors eine psychologische. Freilich ist der Sinn eines Textes, wie Eco mit Recht gegen radikal dekonstruktivistische Texttheorien einwendet, auch nicht mit der intentio lectoris gleichzusetzen, d. h. mit dem Sinn, welchen der empirische Leser in ihm zu finden glaubt. Neben der intentio auctoris und der intentio lectoris ist vielmehr von einer dem Text innewohnenden intentio operis auszugehen.5
Hinzu kommt, dass Texte nicht isoliert auftreten, sondern in einem intertextuellen Kontext stehen. Texte entstehen, wenn Leser oder Leserinnen zu Autorinnen oder Autoren werden. Sie beziehen sich auf vorausliegende Texte und provozieren die Produktion neuer Texte. Insbesondere kanonische Texte begegnen dem Leser nicht unmittelbar, sondern vermittelt. Ihre Überlieferung geht einher mit der Geschichte ihrer Auslegung und Aneignung, und zwar nicht nur durch Individuen, sondern durch religiöse Gemeinschaften, also z. B. die christlichen Kirchen als Auslegungsgemeinschaften. So unabgeschlossen der intertextuelle Kontext eines einzelnen Textes ist, so unabgeschlossen ist die Möglichkeit seiner Sinnbezüge. Die Idee der intentio operis dient dabei dem Leser, sich selbst im Sinne einer Hermeneutik des Verdachts vor der bloßen Willkür zu hüten. Sie leitet den Leser außerdem dazu an, sich seine soziale Zugehörigkeit zu einer Interpretationsgemeinschaft und ihrer Auslegungsgeschichte bewusstzumachen, was freilich auch bedeutet, zwischen Auslegungstradition und intentio operis nochmals zu unterscheiden.
Auch die Komplementarität von Oralität und Literalität spielt in diesem Zusammenhang ein Rolle. Texte sind im Unterschied zu mündlicher Rede stumm. Sie werden beredt erst im Akt des Lesens. Des Lesens und Schreibens mächtige Subjekte aber existieren ihrerseits nicht als stumme Wesen, sondern als solche, die zuvor das Sprechen erlernt haben und sich über ihre Textlektüre mündlich austauschen. Es ist alles andere als trivial darauf hinzuweisen, dass beim Erlernen der Kulturtechniken des Schreibens und Lesens die mündliche Rede zum Einsatz kommt. Das ist auch kritisch gegen einseitig textorientierte Konzepte der Intertextualität einzuwenden. Nicht Texte, sondern Leser, die einer Interpretationsgemeinschaft angehören und zu Autoren werden, produzieren neue Texte. Intertextualität wird durch lebende, sprechende und hörende Subjekte hergestellt. Sie sind das missing link zwischen Texten. Das schließt aber nicht aus, dass Texten als materiellen Artefakten eine Wirkung zugesprochen wird. Texte sind eben nicht bloßes Material, das der Rezipient beliebig verformt wie Töpfer den Ton, sondern als strukturiertes Material üben sie auf ihre Rezipienten eine von diesen selbst nicht intendierte Wirkung aus.
Aus dem Gespräch zwischen Theologie, Literatur- und Kulturwissenschaft ergeben sich neue Möglichkeiten für die Exegese, genauer gesagt für eine synchrone Bibellektüre, welche nicht nur die einzelnen biblischen Schriften, sondern auch den Kanon in seiner Gesamtheit als Buch, d. h. als Werk zu lesen gestattet. Allerdings ist zu beachten, dass zwischen einer Lektüre der Bibel als Literatur und ihrer Lektüre als kanonischer bzw. heiliger Text ein Unterschied besteht. Der Unterschied liegt in der Haltung gegenüber dem Geltungsanspruch ihrer Texte bzw. in der Erwartungshaltung, die die Lektüre bestimmt. „Klassische Texte bedürfen des gebildeten Publikums, heilige des Priesters bzw. vergleichbarer RezitatorInnen, die ihn zu Gehör bringen, kanonische der Schriftgelehrten bzw. der Interpretationen, die ihn auslegen.“6 Das Wort „Kanon“ bedeutet soviel wie „Regel“ oder „Richtschnur“. Im abgeleiteten Sinn bezeichnet es eine Liste von Schriften, die für den gottesdienstlichen Gebrauch zugelassen und als Norm und Quelle der christlichen Glaubenslehre und der theologischen Urteilsbildung kirchlich in Geltung stehen. Wird die Bibel als Heilige Schrift gelesen, so wird sie nicht nur als Dokument vergangener religiöser Erfahrungen, sondern als Medium möglicher gegenwärtiger und künftiger Gotteserfahrung betrachtet. Dies aber ist die Erwartungshaltung einer theologischen Schriftlehre. Andererseits lässt sich nicht bestreiten, dass es sich bei der Bibel und ihren Büchern um das Werk menschlicher Autoren, also um Literatur handelt. Eine theologische Bibelhermeneutik hat die Aufgabe, eine Lektüre der Bibel als heiliger Schrift zu ihrer Lektüre als Literatur ins rechte Verhältnis zu setzen.
Nicht nur der komplexe Prozess der Kanonisierung der einzelnen biblischen Bücher, der hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden kann, sondern auch die Idee des Kanons als einem Gesamtwerk ist das Resultat gläubiger Rezeption und Applikation.7 Umfang und Aufbau des Kanons können allerdings variieren. Man denke nur an die Stellung der sogenannten Alttestamentlichen Apokryphen oder an Martin Luther, der in seiner Bibelübersetzung im Neuen Testament aus theologischen Gründen Umstellungen vorgenommen und den Hebräer- und den Jakobusbrief hinter die Johannesbriefe gestellt hat. Erhebliche Unterschiede im Aufbau bestehen außerdem zwischen dem Alten Testament des christlichen Kanons und der jüdischen Bibel, dem Tanach. Dabei handelt sich keineswegs nur um künstlerische Entscheidungen, sondern in erster Linie um theologische Grundentscheidungen. Allerdings zeigt die Variationsbreite bei der Abfolge der kanonisierten Bücher, dass nicht nur die Einzelexegese, sondern auch eine gesamtbiblische Lektüre für den einzelnen Leser wie für die Auslegungsgemeinschaft Spielräume lässt.
Die hermeneutisch und systematisch-theologisch entscheidende Frage lautet nun aber, ob der Kanon lediglich formal kohärent oder auch inhaltlich kohärent ist, und wenn ja, ob seine inhaltliche Kohärenz lediglich durch seine Leser im Akt der Lektüre erzeugt wird, oder ob diese einer inhaltlichen Anweisung der kanonisierten Schriften folgt. Wenn es einen einheitsstiftenden Bezugspunkt aller biblischen Schriften gibt, so ist es Gott, der Gott Israels und Vater Jesu Christi, von dem in diesen Büchern auf vielfältige Weise geredet und dessen Reden in ihnen bezeugt wird.
Das Wort „Gott“ erfährt aber in der christlichen Bibel seine letztgültige Bestimmung erst dadurch, dass es zum Namen Jesu Christi in Beziehung gesetzt wird. Im Neuen Testament interpretieren sich das Wort „Gott“ und der Name Christi wechselseitig. Gott ist der Vater Jesu Christi. Der Vater Jesu Christi aber ist der Gott Israels, den die Schriften des Alten Testamentes bezeugen. Der christliche Kanon versetzt die Schriften des Alten und des Neuen Testamentes in einen hermeneutischen Zirkel, in welchem sich diese wechselseitig interpretieren. Erst in diesem von Altem und Neuem Testament gebildeten hermeneutischen Zirkel erschließt sich also nach christlicher Auffassung der Sinn des Wortes „Gott“ bzw. des christlichen Bekenntnisses, dass der Gott Israels der Vater Jesu Christi und als solcher als Geist gegenwärtig ist. Implizit hat der christliche Kanon demnach eine trinitarische Struktur.
Insofern abgekürzt das Wort „Christus“ der Einheit stiftende Bezugspunkt des christlichen Kanons ist, können seine Schriften letztlich nur in einer Dialektik von pluralisierender und singularisierender Exegese interpretiert werden. Versucht eine singularisierende Hermeneutik „die eine einzig richtige und sozusagen heilsabsolute Lesung der Bibel festzulegen“, so hat man unter einer pluralisierenden Hermeneutik mit Odo Marquard eine Texttheorie zu verstehen, die „in der einen und selben buchstäblichen Gestalt viele Sinnmöglichkeiten und verschiedenartigsten Geist aufspürt“.8
Das Wort „Christus“ bzw. die Wortverbindung von „Gott“ und „Christus“ verstehen, heißt dem Richtungspfeil ihres Sinnes zu folgen (Pauol Ricœur). Dieser Pfeil aber schießt, um bei der Metapher zu bleiben, über den Wortlaut jedes biblischen Einzeltextes hinaus. „Hermeneutik“ – so Odo Marquard – „ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht“9. Wie bei allen Texten, so ist auch an einem biblischen Text wichtig nicht allein das Gesagte oder Geschriebene, sondern auch das Ungesagte und Ungeschriebene, die Leerstellen zwischen den Wörtern und Zeilen. Auch die neutestamentlichen Aussagen über Christus weisen über sich hinaus, nicht nur zurück zu den Texten des Alten Testaments, sondern auch über die Grenzen des Kanons hinaus, zumal dieser in mehreren Versionen vorliegt und an den Rändern offen ist. Die Wirklichkeit, die mit dem Wort „Christus“ im Neuen Testament in ganz unterschiedlichen Wortverbindungen bezeichnet wird, nämlich das Vonwoher gläubiger Existenz in der Gemeinschaft der Glaubenden, findet sich nicht in den Texten selbst, sondern ist zwischen den Zeilen je und je neu, im Ereignis des Lesens und Verstehens, zu entdecken.
Literatur
- Ebach, Jürgen: Die Bibel beginnt mit „b“. Vielfalt ohne Beliebigkeit, in: ders., Gott im Wort. Drei Studien zur biblischen Exegese und Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1997, 85-114
- Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brooke-Rose und Stefan Collini, München 1996
- Körtner, Ulrich H. J.: Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015
- Körtner, Ulrich H. J.: Einführung in die theologische Hermeneutik, Darmstadt 2006
- Körtner, Ulrich H. J.: Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994
- Marquard, Odo: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 117-146
- Ricœur, Paul: Philosophische und theologische Hermeneutik, in: ders./Eberhard Jüngel, Metapher, München 1974, 24-45
- Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik, hg. v. Jean Bollack u. Helen Stierlin, Frankfurt a.M., 1975
- Wischmeyer, Oda (Hg.): Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe – Methoden – Theorien – Konzepte, Berlin 2009
- Wischmeyer, Oda (Hg.): Handbuch der Bibelhermeneutiken. Von Origenes bis zur Gegenwart, Berlin/Boston 2016
Anmerkungen
- Vgl. O. Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Zur Geschichte der Bibelhermeneutik siehe auch O. Wischmeyer (Hg.), Handbuch der Bibelhermeneutiken.
- Vgl. P. Szondi, Einführung in die literarische Hermeneutik.
- Vgl. U. Körtner, Der inspirierte Leser; ders., Einführung in die theologische Hermeneutik, bes. 75-105.
- P. Ricœur, Philosophische und theologische Hermeneutik, 28.
- Vgl. U. Eco, Zwischen Autor und Text.
- J. Ebach, Die Bibel beginnt mit „b“, 102.
- Vgl. U. Körtner, Arbeit am Kanon.
- O. Marquard, Frage nach der Frage, 128f.
- A.a.O., 117.