Die Bibel gehört zu den Büchern, die auf der Welt am weitesten verbreitet sind. Aber wird sie auch gelesen oder steht sie nur im Bücherregal? Viele Christinnen und Christen tun sich schwer, ihre Heilige Schrift zu lesen. Einzelne Passagen und biblische Geschichten sind bekannt. Aber das ganze Buch? Sollte ein Christenmensch überhaupt die ganze Bibel gelesen haben? Zwei Stellungnahmen:
Pro
Adam und Eva? Kennen Sie. Mose, Abraham und Josef? Kennen Sie auch. Die Zehn Gebote? Klar, sogar auswendig. Von Jesaja haben Sie schon gehört. Jedenfalls zu Weihnachten. Die Geschichte von Jona können Sie sogar nacherzählen und die Geschichte vom Auszug aus Ägypten auch. Und Psalm 23 können Sie natürlich aus dem Kopf mitbeten. Aber kennen Sie Bileam und seine gottesfürchtige Eselin? Haben Sie schon von der wundersamen Ankündigung der Geburt Simsons gehört und von seiner geheimnisvollen Kraft? Kennen Sie die Königin von Saba, die David besuchte oder den Propheten Elisa, der Eisen schwimmen machte? Und haben Sie schon einmal das Buch Ester gelesen? Und wie sieht es im Neuen Testament aus? Wussten Sie, dass der Apostel Paulus einmal so lange predigte, das ein Mann einschlief und deshalb aus dem Fenster fiel, in dem er saß? Wissen Sie, wer der Lieblingsjünger Jesu war und ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass das Neue Testament auf mindestens drei verschiedene Weisen davon berichtet, wie Jesus zu Gottes Sohn wurde? Und haben Sie schon einmal den Brief des Judas gelesen?
Das Alte und das Neue Testament unserer Bibel sind voll von Glaubensgeschichten, die einen Zeitraum von mehr als 1500 Jahren umfassen. Die historischen Zusammenhänge, in denen die biblischen Texte entstanden sind, waren sehr unterschiedlich. Die biblischen Glaubensgeschichten sind deshalb vielstimmig, widersprüchlich und voller Dissonanzen. Deshalb ist es auch so schwierig, die Bibel durchzulesen wie einen Roman von der ersten bis zur letzten Seite. Trotzdem, oder besser: gerade deshalb, lohnt es sich, sich der Herausforderung des vollständigen Bibellesens zu stellen. Fünf Gründe sind für mich darüber hinaus entscheidend:
Erstens ermöglicht gerade die Vielstimmigkeit der biblischen Texte unterschiedliche Identifikationsmöglichkeiten: ich kann mit Hiob klagen und mit den Psalmen Halleluja singen; ich kann die Kritik der alttestamentlichen Propheten hinüberlesen in meine Zeit oder mich hineindenken in die ersten christlichen Gemeinden. Ich kann mich über die Auferstehung Jesu freuen und mich fragen, welche Bedeutung die Wundererzählungen in neutestamentlicher Zeit hatten oder heute für mich haben – immer aber ist die Frage nach Gott in den Texten präsent. Immer aber lese ich mich hinein in Glaubenserfahrungen, die Menschen vor mir mit ihrem Gott gemacht haben. Die Vielstimmigkeit der biblischen Texte bietet für viele meiner Erfahrungen Resonanzräume.
Zweitens bietet das vollständige Lesen der Bibel einen gewissen Schutz davor, scheinbar einfache biblische Antworten auf Fragen unserer Zeit zu geben. Wenn ich die Bibel in ihrer Vielstimmigkeit wahrnehme, wird mir schnell deutlich, dass ich ein Zitat zum Aufruf für einen heiligen Krieg ebenso leicht finden kann, wie ein Zitat, das zum Frieden mahnt. Ich kann Bibelstellen finden, die behaupten, dass die Frau dem Mann untergeordnet sei, wie es Textstellen gibt, die das Gegenteil behaupten. Das vollständige Lesen der Bibel ermöglicht das Wahrnehmen dieser verschiedenen und sich widersprechenden Aussagen in ihrem Zusammenhang. Der biblische Zusammenhang lässt mich immer wieder fragen, wie die Verhältnisse waren, in denen die jeweiligen Texte entstanden sind und welche menschliche Glaubenserfahrung hinter den biblischen Aussagen liegen könnte.
Drittens ist die christliche Religion nicht denkbar ohne die Tradition des Judentums, seiner Texte und seiner Theologie. Das Neue Testament bezieht sich nicht nur an vielen Stellen auf die hebräische Bibel, die hebräische Bibel ist der Boden, auf dem Jesus von Nazareth stand und von dem aus sich christliche Religion entwickelt hat. Die christliche Tradition hat sich deshalb auch nicht von der hebräischen Bibel verabschiedet, sondern hat diese in der Form des Alten Testaments zum Teil ihrer heiligen Schrift gemacht, die eben aus Alten und Neuem Testament besteht. Will man die neutestamentlichen Texte verstehen, geht das nicht ohne die alttestamentlichen Schriften, geht das nicht, ohne den Boden wahrzunehmen, auf dem die ersten Christen und Christinnen standen, bevor sie sich taufen ließen und zu Jesus Christus bekannten. Nicht umsonst wird deshalb häufig von einer „jüdisch-christlichen Tradition“ gesprochen.
Und viertens sind viele Texte der Bibel einfach wunderbar und lohnen gelesen zu werden. Die Bibel erzählt von mutigen Frauen und Königen, die alles falsch machten. Sie erzählt von niederträchtigen Geschwistern und tollen Freundschaften. Sie beschreibt Gott als leises Säuseln und strafenden Richter. Sie lässt es in den apokalyptischen Texten richtig krachen und verheißt, dass der Heiland der Welt in einem Stall zu finden ist. Die Bibel bietet Lieder und Texte voller Poesie und lyrischer Kraft und zugleich langwierige bürokratisch anmutende Gesetzestexte und Genealogien. Man findet Reiseberichte und Briefe, Intrigen und Liebesgeschichten, die ein Drehbuchautor sich nicht schöner ausdenken könnte. Und manches ist sogar witzig, wie der schon erwähnte junge Mann, der aus dem Fenster fiel, weil er bei einer Predigt des Paulus einschlief.
Es lohnt sich also, die Bibel ganz zu lesen. Empfehlenswert ist allerdings, sie nicht ganz von vorn bis ganz zum Schluss zu lesen, sondern eher im Hin und Her und Rauf und Runter und kreuz und quer. Viele Bibel-Lesepläne oder die Jahresbibel der Deutschen Bibelgesellschaft geben dazu hilfreiche Anregungen.
Oliver Friedrich
Contra
Nichts läge mir ferner, als die Menschen vom Bibellesen abzuhalten, Christenmenschen schon gar nicht. Eine umfangreiche Kenntnis der Bibel in allen ihren Teilen hilft nicht nur im Urlaub, das Bildprogramm gotischer Kathedralen und ostfriesischer Fliesenwände zu entschlüsseln, sondern gibt dem gebildeten Zeitgenossen auch starke Motive an die Hand, um menschliche Grunderfahrungen von Vertrauen und Vergeben, Verlieben und Vergehen zu deuten und zu bewältigen. Also: Sollen Christenmenschen die Bibel lesen? Ja. Punkt. Die Frage hier aber ist so gestellt, dass mein protestantisch-lutherisch geprägter Geist sofort Widerspruch formulieren will. Mein Widerspruch richtet sich gegen die Fragestellung und berührt zugleich die Grundlagen für den (christen-)menschlichen Umgang mit der Bibel als wesentliche Bezugsgröße für den Glauben an die befreiende Botschaft Gottes. Also antworte ich mit Gegenfragen auf die Frage: Sollte ein Christenmensch die ganze Bibel gelesen haben?
Bis wann?
Bis zur Konfirmation oder zum Abitur? Bis zur Taufe oder bis man das Zeitliche segnet? Die Frage weckt in mir den Verdacht der Rechtfertigungsaneignung durch gute Werke. Darf ich mich erst oder nur als Christenmensch verstehen, der auf Gottes Gnade hoffen darf, wenn ich die ganze Bibel gelesen habe? Nein. Gottes Gnade steht davor. Ob und wann ich ein von Gott erlöster und nach ihm benannter Mensch werde, hängt nicht an meiner Fähigkeit lesen zu können.
Wozu?
Ist es für meine christliche Existenz tatsächlich erforderlich, möglichst viele, wenn nicht alle Facetten biblischer Glaubenserfahrung wahrzunehmen? Wozu? Menschen haben unterschiedliche und begrenzte Begabungen und Fähigkeiten. Das gilt auch für ihr religiöses Auffassungsvermögen. Die überlieferten Glaubenserfahrungen, die mir heute etwas sagen, schweigen morgen vielleicht wieder. Dem Gottesbild, das mich gestern noch verstörte, werfe ich mich in diesem Moment vertrauensvoll in die Arme. Manches ist mir generell zu hoch. Die vollständige sorgfältige Lektüre der biblischen Bücher garantiert mir keinen tieferen Glauben als den, der mich unter Umständen schon allein mit Psalm 23 und Lukas 2 nährt.
Was heißt lesen?
Lesen ist eine Kulturtechnik. Ich lese die Bibel, indem ich die dort schriftlich niedergelegten Gedanken aufnehme und verstehe. Die Eigenart der Bibel als religiöse Grundlage und somit heiligen Textes liegt auch darin, dass die Aufnahme dieser Schrift vieldimensional geschehen kann und muss. Der in den biblischen Erzählungen und Bildern transportierte Gehalt menschlicher Glaubenserfahrung ist ja nicht nur zum Lesen aufgeschrieben worden. Er wurde und wird übersetzt, gepredigt, unterrichtet, erzählt, gemalt, verfilmt, vertont, gespielt und getanzt. Das Tanzen der Johannespassion, das Lesen eines Bibelmanga oder das Ansehen von „Corpus Christi“ auf DVD bedeutet auch Bibel-Lesen.
Warum allein lesen?
Ein Leben reicht nicht, um die Bibel zu lesen. Es liegt nicht am einzelnen Bibelleser, den unüberschaubaren Gehalt und die Fülle der biblischen Tradition zu erfassen. Bibelleser sind nicht allein. Sie stehen in einer Gemeinschaft: In der Gemeinde unter Gottes Wort, das in biblischen Worten menschliche Töne anschlägt. Was ein Mitglied dieser communio lectorum nicht kennt, liest ein anderes. Die Bibel verbindet die Christenmenschen. Nicht einer liest (und versteht) alles, sondern alle lesen das eine. Was wir jetzt noch brauchen, ist es, einander die Bibelerfahrungen zu erzählen und zu zeigen. Aus der Kommunikation der Bibel wird die Kommunikation des Evangeliums: Aus der begrenzten Zahl von Schriftzeichen zwischen zwei Buchdeckeln wird das Wort des lebendigen Gottes – aus dem Mund der Unmündigen, der Lesefaulen, der Bücherwürmer, der Analphabeten, der Tänzer, der Malerinnen, der Schriftgelehrten, …
Bernd Niss