Erntedankfest im Schlachthof feiern? - Contra: Dank gebührt der Schöpfung, die als Leben auch ins Leben gestellt wird

Von Silke Leonhard

 

 

Die Kirchengemeinde Ingeln-Oesselse liegt am Stadtrand von Laatzen bei Hannover. In der Nähe des 4.000-Einwohner-Ortes liegt ein Schlachthof. 11.000 Schweine werden dort in der Woche geschlachtet und zerlegt. Der Pastor der St. Nicolai-Kirchengemeinde hatte vor einigen Jahren die Idee, das Erntedankfest im Schlachthof zu feiern, sofern der Betreiber dies ermöglichen würde. Im Kirchenvorstand wurde über diesen Vorschlag heftig diskutiert, der letztlich nicht umgesetzt wurde.
 

Als Landwirtskind bin ich auf einem kleinen Bauernhof mit den Tieren im Stall aufgewachsen. Viele Jahre habe ich die Schweine im Stall gehört, die Ferkel unter die Wärme spendende Lampe gelegt, die Hühner aus dem Garten abends in den Stall gejagt. So lange wir Milchvieh hatten, habe ich die Kälber mit Freude gefüttert; den Duft des Kälbermilchpulvers spüre ich noch heute in der Nase.

Zur Nutztierhaltung gehörte auch das hauseigene Schlachten. Auch dies ist in mein leibliches Gedächtnis fest eingebrannt: grausame Gerüche vom Abbrennen der Federn toter Hühner; das verzweifelte Quieken der Schweine und der laute Todesschuss; das Wehren der Kühe, auf den Wagen zu gehen, der sie auf den Schlachthof führte. Wenn es sonntags Braten gab, fragte ich, ob dies das Fleisch der beiden Schweine Karlchen und Otto waren, die ich liebgewonnen hatte. Man musste mich belügen, damit ich aß.

Ich bin aus unterschiedlichen Gründen Vegetarierin geworden. Nicht alle haben mit dem Hof zu tun; aber geblieben ist diese Erinnerung.
Erntedankfest im Schlachthof? Never ever. Erntedank – das ist für mich vor allem ein Fest des Dankens, eine Weise der Entselbstverständlichung des Lebens: Wir treten einen Schritt zurück und rufen uns in Erinnerung, dass Essen und Trinken zwar zum Leben dazugehören, aber nicht in den Schoß fallen, dass das Leben an sich ein Geschenk ist. Danke sagen für das Geschenk, dass in der Natur immer wieder die Sonne aufgeht – dass dies nicht ohne den kritischen und vor allem sorgenvollen Blick auf Land- und Tierwirtschaft und auf die Gebiete und Länder unserer Erde geht, in denen Sattwerden kaum möglich ist, ist völlig klar. Dorthin zu reisen, dem Hunger, den entwürdigenden Lebens- und Landwirtschaftsbedingungen ins Auge zu sehen, ist ohne Frage konfrontativ anders als ausschließlich mediale Begegnung mit diesbezüglichem Leid. Die Bedingungen landwirtschaftlicher Produktion sind nicht rosig und zwingen Pflanzenbau und Tierhaltung herbei, die nicht gerade die Freiheit und das Wohl der Pflanzen und Tiere mit sich bringen. Einen Blick in die Schlachthöfe zu werfen, an denen die Frage nach artgerechter Betäubung und Verwertung virulent wird, halte ich für einen Weg, die Augen zu öffnen. Dies alles sind Wege zu einer Urteilsbildung im Angesicht der Schöpfung. Aber insofern ist der Schlachthof ein Lernort, vielleicht sogar eher ein Lehrort, an dem, zuweilen sogar mit dem Zeigefinger, das Bewusstsein wach gehalten wird für prekäre Lebenszusammenhänge und Nahrungsketten.

Die Tatsache menschlicher, gesellschaftlicher und politischer Paradoxien von Hunger, Dürre, Armut und andererseits Übersättigung, Verschwendung und materielle Ungerechtigkeit brauchen auch liturgische Formen von Klage, Bitte und Ermahnung. Mir blieben jedoch rituelle, liturgische, wirklich zelebrierte Worte des Dankens im Halse stecken, das Herz würde schmerzen und ich könnte mich nicht so recht in die nötige Haltung gewisser Passivität und Demut begeben, die zum Danken gehört.

Wo hat Erntedank einen guten Ort? Für mich bleibt Erntedank ein Fest, das mit seinen Ritualen die dankbare Antwort auf die göttlichen Schöpfungsgaben immer wieder neu inszeniert. Danken ist zurzeit nicht gerade unsere stärkste Seite. Wenn der Dank nicht nur anderen Menschen gilt, sondern auch Gott, dann sollte Gott auch Raum gegeben werden. Christlich auf Liturgie hin gesagt: Was dem Geber der Gaben im Gottesdienst zurückgebracht ist, sollte im Anschluss an den Gottesdienst zur Hilfe an andere verschenkt werden. Polaritäten des Lebens in einer festlichen Form auszuhalten und das Leben mit seinen Gaben festlich miteinander zu teilen – in solchen Balancen von Aktion und Passion zwischen Mensch und Gott liegt die Leidenschaft des religiösen Feierns. Dank gebührt der Schöpfung, die als Leben auch ins Leben gestellt wird. Daher kann ich mir ein Erntedankfest auf der Wiese oder Weide vorstellen, im Garten oder im Stall – aber nicht auf dem Schlachthof.