Apokalyptik im frühen Judentum und im Urchristentum

von Jens Schröter

 

1. Was ist „Apokalyptik“?

Mit dem Begriff „Apokalyptik“ werden Geschichtsdeutungen mit spezifischen Merkmalen bezeichnet, die sich in zahlreichen jüdischen und christlichen Schriften seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert finden. Sie werden in apokryphen Apokalypsen des antiken Christentums, später dann in mittelalterlichen Schilderungen von Jenseitsreisen, fortgeschrieben.

Der Begriff „Apokalyptik“ wurde 1832 von Friedrich Lücke in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Lücke orientierte sich dabei am ersten Wort der Offenbarung des Johannes (Offb), eben „Offenbarung“ (griechisch und lateinisch: Apokalypsis), in dem er „den wesentlichen Inhalt dieser Litteratur […] bezeichnet“ sah und das er deshalb einer Untersuchung über „das Wesen der Apokalyptik“ zugrunde legte (Lücke, 1852 (1832), 18). Er sah darin eine eigene Redeweise von der Offenbarung Gottes zum Ausdruck gebracht, die bei Daniel zuerst begegne und sich bis in die neutestamentliche Zeit hinein fortsetze. Dies erlaube es, von einer „biblische[n] Apokalyptik“ zu sprechen und diese von anderen, z.B. persischen und griechischen Jenseitsvorstellungen zu unterscheiden (A.a.o., 25.40-60).

Die Erforschung der apokalyptischen Literatur hat sich seither deutlich intensiviert. Ein Grund dafür ist, dass sich eine Vielzahl von Texten diesem Bereich zurechnen lässt, die erst nach und nach ins Blickfeld der historischen und exegetischen Forschung getreten sind. Ein weiterer Grund ist, dass sich die theologische Beurteilung der Apokalyptik in der neueren Forschung deutlich gewandelt hat. Wurde sie längere Zeit als eher randständiges Phänomen betrachtet, dem für die Entstehung der christlichen Theologie keine substanzielle Bedeutung zukomme, so hat sich diese Einschätzung inzwischen grundlegend gewandelt.

Bereits Ernst Käsemann hatte in einem Aufsatz aus dem Jahr 1962 die Apokalyptik als „Mutter der christlichen Theologie“ bezeichnet (Käsemann 1968, 130) und damit gegenüber der existentialen Interpretation der urchristlichen Botschaft durch Rudolf Bultmann deren universale Perspektive hervorgehoben. Diese sei auf die Kontinuität zur Apokalyptik zurückzuführen, unter deren Einfluss die Bedeutung Jesu in seiner Rolle als himmlischer Menschensohn und künftiger Weltenrichter gesehen worden sei. Käsemann konstruiert dabei zwar einen fragwürdigen Widerspruch zwischen der apokalyptischen Botschaft des Urchristentums und derjenigen Jesu selbst, betont aber zu Recht die Bedeutung apokalyptischen Denkens für die urchristliche Theologie.

Die neuere Forschung hat die Apokalyptik als ein für frühjüdisches und urchristliches Denken charakteristisches Phänomen herausgestellt, ohne sich dabei an Kanongrenzen oder einer Sonderstellung Jesu zu orientieren. Eine wichtige Rolle hat dabei die Definition von John J. Collins gespielt. Collins bestimmt „Apokalypsen“ als eine Gattung von Offenbarungsliteratur mit einem Erzählrahmen, in der eine Offenbarung durch ein jenseitiges Wesen an einen menschlichen Empfänger übermittelt werde. Inhalt dieser Offenbarung sei eine transzendente Wirklichkeit, die sowohl zeitlich als auch räumlich bestimmt sei, indem sie auf eine endzeitliche Rettung vorausblicke und dabei eine übernatürliche Welt voraussetze. Die Intention dieser Schriften sei es, gegenwärtige, irdische Verhältnisse im Licht der jenseitigen Welt und der Zukunft zu deuten und auf diese Weise das Verständnis und Verhalten der Adressaten durch den Verweis auf göttliche Autorität zu beeinflussen (vgl. Collins 1979, 9 und ders., What is Apocalyptic Literature?, in: McGinn u.a., Encyclopedia, 1-16, 2). Apokalypsen hätten entweder die Form von, zumeist periodisierten, Geschichtsüberblicken, die in ein Weltgericht münden, oder von Himmels- bzw. Höllenreisen, die sich mit dem Schicksal der Toten befassen (vgl. Collins 2009, 316).

Diese Definition macht zum einen deutlich, dass sich apokalyptisches Denken in verschiedenen Textformen findet und dementsprechend unterschiedlichen historischen, religiösen und kulturellen Bereichen angehört. Zum anderen macht sie darauf aufmerksam, dass zwischen „Apokalyptik“ als religiöser Welt- und Geschichtsdeutung und der literarischen Gattung „Apokalypse“ zu unterscheiden ist.

Im Blick auf ersteres lassen sich Merkmale nennen, die solche Texte miteinander teilen, die der Apokalyptik zuzurechnen sind oder in denen sich apokalyptische Motive finden. Michael Wolter macht allerdings darauf aufmerksam, dass es weder im frühen Judentum noch im frühen Christentum die Selbstbezeichnung „Apokalyptiker“ gegeben hat – anders als etwa „Christ“ oder „Gnostiker“. „Apokalyptik“ sei demzufolge kein soziologisch fassbares Phänomen, etwa im Sinn einer „Strömung“ oder einer „Bewegung“ (Wolter 2009, 433). Dem ist zweifellos zuzustimmen, gleichwohl ist der Begriff durchaus geeignet, spezifische Merkmale religiöser Geschichtsdeutungen und damit eine bestimmte Sicht auf das Verhältnis von Gott und Geschichte zu erfassen.

Diese lässt sich so charakterisieren, dass die irdische Geschichte eingebettet ist in eine transzendente Wirklichkeit, von der dazu auserwählte Menschen Kenntnis erhalten, die sie anschließend schriftlich mitteilen. Dies geschieht in Form von Visions- und Auditionsschilderungen, in denen der Geschichtsverlauf als Vernichtung der gegenwärtigen Welt durch kosmische Katastrophen, ein göttliches Gericht, in dem die Gottlosen bestraft und die Gerechten belohnt werden, sowie die Aufrichtung der ewigen Herrschaft Gottes in einer neuen Weltordnung geschildert werden. Damit verbunden ist die Vorstellung von der Auferstehung der Toten, die zuerst im Buch Daniel begegnet und dort als doppelte Auferstehung zur Verurteilung bzw. zum ewigen Leben gedacht ist.[1]

Die Vernichtung der gegenwärtigen Welt wird häufig in drastischen Bildern ausgemalt, denen die künftige Welt in nicht minder leuchtenden Farben gegenübergestellt wird. Die bildreiche Sprache, in der das Vernichtungshandeln Gottes sowie die herrliche Zukunft der Gerechten beschrieben werden, ist ein charakteristisches Merkmal der apokalyptischen Literatur. Die Schilderungen von Vernichtung und Bestrafung sowie von Neuschöpfung und Belohnung wirken dadurch besonders eindringlich und stellen die Wirklichkeit unter das Vorzeichen eines universalen göttlichen Handelns, dem niemand ausweichen kann.

In jüdischen Apokalypsen werden häufig herausgehobene Repräsentanten der Geschichte Israels – etwa Henoch, Mose, Baruch, Daniel oder Esra – als Empfänger göttlicher Offenbarungen dargestellt. Ihnen werden auf Himmelsreisen Einblicke in die göttliche Welt und den Geschichtsverlauf bis zum endzeitlichen Gericht gewährt, die ihnen oft durch einen Deuteengel erklärt werden und die sie anschließend schriftlich mitteilen. Es handelt sich bei den jüdischen Apokalypsen demnach um pseudepigraphe Literatur.

Historischer Entstehungskontext des apokalyptischen Denkens ist die Situation des jüdischen Volkes im 3. vorchristlichen bis etwa zum 1. christlichen Jahrhundert. Oft wird es deshalb mit den Erfahrungen politischer Unterdrückung und Bedrohung der eigenen Identität in Zusammenhang gebracht, von denen das jüdische Volk in dieser Zeit betroffen war. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wollte man die apokalyptische Literatur nur als „Krisenphänomen“ auffassen. Merkmale, die sich einer apokalyptischen Weltsicht zurechnen lassen, finden sich in diversen jüdischen Texten des genannten Zeitraums, nicht nur in der apokalyptischen Literatur im engeren Sinn (vgl. DiTomaso 2009, 326-328).[2]

„Apokalyptik“ lässt sich demnach als eine spezifische Form von Geschichtstheologie beschreiben, in der eine intensive Spannung zwischen der jenseitigen, göttlichen und der gegenwärtigen, irdischen Welt zum Ausdruck kommt. Sie hat sich in Texten verschiedener Provenienz niedergeschlagen, die für sich in Anspruch nehmen, über die künftige Welt zu informieren und die Gegenwart im Horizont dieses Wissens zu deuten. Die Intention besteht vor allem darin, die Adressaten zu bestärken, auch in Situationen eines als extrem gesteigert wahrgenommenen Kontrastes zwischen irdischer und göttlicher Wirklichkeit am Bekenntnis zum Gott Israels festzuhalten. Apokalyptisches Denken ist demnach letztlich darauf gerichtet, eine Antwort auf die Theodizeefrage zu geben: Wie kann Gott gerecht sein, wenn dies in der gegenwärtigen Wirklichkeit nicht erfahrbar ist? Damit wird nicht zuletzt eine ethische Intention verfolgt, nämlich dazu zu motivieren, die Orientierung an Gott und seinen Geboten auch dann nicht aufzugeben, wenn dem kein glückliches irdisches Dasein korrespondiert.


2. Apokalyptik im Urchristentum

Die deutlichste Aufnahme apokalyptischen Denkens im Urchristentum findet sich in der Offenbarung des Johannes. Sie stellt sich in die Tradition frühjüdischer apokalyptischer Literatur, wobei der Verfasser seine Botschaft mehrfach als „Prophetie“ bezeichnet (1,3; 19,10; 22,7.10.18f.). Die Schrift, deren Verfasser sich mit seinem Namen „Johannes“ nennt (1,4.9; 22,8), ist als Brief an sieben Gemeinden in der Asia gestaltet, die in 1,4 genannt und dann in Kap. 2–3 noch einmal einzeln angeschrieben werden. In 22,21 findet sich sodann ein brieflicher Schluss.

Die Perspektive der Offb ist gekennzeichnet durch die Überzeugung, dass Gott und Jesus Christus die Macht über die Geschichte haben, die Macht des Satans dagegen gebrochen ist. In einer himmlischen Vision, die dem zum Thron Gottes entrückten Johannes zuteil wird, wird in mehreren Visions- und Auditionszyklen die Vernichtung der gegenwärtigen Welt geschildert, an deren Stelle ein neuer Himmel und eine neue Erde treten (21,1). Voraussetzung dafür ist der Sieg Gottes über den „Drachen“, der auf die Erde geworfen wird und dort seinen Kampf gegen die Auserwählten Gottes fortsetzt (Offb 12,9-17). Diese widergöttliche Macht wird durch die beiden Tiere repräsentiert, die in Kap. 13 genannt werden. In 17,5 ist von Babylon, der „Mutter der Huren“, die Rede, die die Erde mit Unzucht verdirbt und dafür gerichtet wird (19,2). Damit ist vermutlich auf das Römische Reich angespielt, das von seinen Bewohnern Loyalität erwartete, die sich in kultischer Verehrung des Kaisers und Akzeptanz lokaler Behörden ausdrückte. Die Offb bringt demgegenüber zur Geltung, dass das „Tier“ Gott lästere, Krieg gegen die Heiligen führe und diejenigen, deren Namen nicht „im Lebensbuch des Lammes“ geschrieben sind, es anbeten werden (13,6-8).

Die Offb stellt ein spezifisches Zeugnis urchristlicher Geschichtstheologie dar. Sie nimmt Sprachformen und Motive aus der jüdischen Apokalyptik auf und verwendet sie innerhalb einer Geschichtsdeutung, die von dem zum Thron Gottes erhöhten Jesus Christus ausgeht, der sowohl als „geschlachtetes Lamm“ (5,6.12; 13,8) als auch als „Löwe aus dem Stamm Juda“, der den Sieg errungen hat (5,5), bezeichnet wird. Die Situation frühchristlicher Gemeinden in der Asia am Ausgang des 1. Jahrhunderts wird damit in den Horizont einer Geschichtsperspektive gerückt, die von dem auferweckten und erhöhten Jesus Christus her den Geschichtsverlauf in universaler Weise in den Blick nimmt. Dabei wird die Situation der Adressaten auf die Konfrontation von Kaiserkult und Christusbekenntnis zugespitzt und damit eine bestimmte Deutung des Verhältnisses von Römischem Reich und christlichem Glauben vorgenommen.

Apokalyptisches Denken findet sich auch in anderen Schriften des Neuen Testaments. Dazu gehört in zentraler Weise die Aussage über die Auferweckung Jesu Christi von den Toten, die sich in ältesten Bekenntnisformulierungen findet (etwa 1Kor 15,4; Röm 10,9; Lk 24,34 u.ö.) und als Ausgangspunkt des christlichen Glaubens überhaupt gelten kann. Die Auffindung des leeren Grabes und die Vermittlung der Osterbotschaft an die Frauen werden in den Evangelien, besonders bei Matthäus, mit apokalyptischen Motiven (Mt 28,1-8: Erdbeben, himmlischer Bote im leuchtenden Gewand, Öffnung des Grabes als Theophaniegeschehen) ausgemalt. Die Vorstellung der Auferstehung von den Toten steht mit der Entstehung apokalyptischen Denkens im Judentum in engem Zusammenhang. Sie beantwortet die Frage, wie Gott Gerechtigkeit schafft, gerade dann, wenn sie sich im irdischen Leben nicht eingestellt hat. Im Bekenntnis zur Auferweckung Jesu Christi von den Toten, die zugleich die Auferweckung der an ihn Glaubenden verbürgt (vgl. 1Thess 4,14; 1Kor 15,20-28), drückt sich demnach die Überzeugung aus, dass Gott Jesus Christus gegenüber seinen Widersachern ins Recht gesetzt und das durch sein Wirken vermittelte Heil bestätigt hat. Die Auferweckung Jesu Christi wird damit als Geschehen aufgefasst, durch das Gott in endzeitlich relevanter Weise in den Geschichtsverlauf eingegriffen hat. Dass Gott an Jesus Christus seine Macht zur endzeitlichen Totenauferweckung bereits im irdischen Geschichtsverlauf erwiesen hat, bedeutet zugleich, dass im Endgericht diejenigen gerettet werden, die sich zu ihm bekennen.

Apokalyptisches Denken im Neuen Testament setzt die soeben skizzierte Konstellation stets voraus. So werden etwa in der Rede Jesu über die Endzeit (der sog. „synoptischen Apokalypse“; Mk 13; Mt 24; Lk 21) apokalyptische Motive wie endzeitliche Drangsal, kosmische Katastrophen und das Erscheinen des Menschensohnes zum Sammeln der Auserwählten genannt und auf die Parusie Jesu bezogen. Die Bezeichnung Jesu als „Menschensohn“ nimmt dabei auf Dan 7,13f. Bezug, wo von einer himmlischen Gestalt „wie ein Menschensohn“ die Rede ist, die von Gott die Autorität erhält, das Gericht durchzuführen. Von einer solchen Gestalt ist auch in den Bilderreden der Henochliteratur (Hen 37-71) sowie in 4Esr die Rede. Mit der Anwendung dieser Vorstellung auf Jesus wird sein Wirken in den Horizont seiner endzeitlichen Wiederkunft gerückt, auf die die Glaubenden vorausblicken.

Auch die apokalyptische Vorstellung eines Gerichts nach den Werken begegnet im Neuen Testament an verschiedenen Stellen. Intensiv wird sie im Matthäus-Evangelium ausgemalt. Die Gerichtsgleichnisse schärfen dabei die Notwendigkeit ein, sich an die Worte Jesu zu halten; das Bild vom großen Weltgericht (Mt 25,31-46) stellt Jesus als endzeitlichen Richter dar, der die Menschen nach ihren Taten einteilt in solche, die ewige Qual erleiden, und solche, die zum ewigen Leben eingehen werden. Auch hier ist vorausgesetzt, dass Jesus in der Autorität Gottes lehrt und seine Lehre deshalb den Weg zum endzeitlichen Heil weist.

Paulus kann zur Veranschaulichung der endzeitlichen Ereignisse ebenfalls apokalyptische Motive aufgreifen. In 1Thess 4,14-16 und 1Kor 15,51f. stellt er die endzeitliche Totenauferweckung in den Kontext von Ereignissen mit apokalyptischen Zügen (Ertönen der Posaune Gottes, Verwandlung, Entrückung). Die Verwendung apokalyptischer Termini und Vorstellungen ist gegenüber ausführlichen apokalyptischen Schilderungen durchaus sparsam, bedient sich aber aus diesem Repertoire. Die Auferweckung Jesu markiert auch bei Paulus den Anbruch der Endzeit und stellt die Glaubenden in die Spannung von bereits erfolgter Rettung und zukünftiger Herrlichkeit (Röm 8,18-39).

Ausgangspunkt des apokalyptischen Denkens im Urchristentum ist das Auftreten Jesu selbst. Die Botschaft Jesu war davon bestimmt, die Gegenwart Gottes in seinem eigenen Wirken zu vermitteln, was in der Konsequenz bedeutete, dass er denjenigen, die sich seiner Botschaft verschlossen und nicht in die Gemeinschaft seiner Nachfolger eintraten, das Gericht Gottes ansagte. Das kommt in Stellen wie Lk 7,22f./Mt 11,4-6; Lk 10,8-12/Mt 10,12-15 oder Lk 10,13-15/Mt 11,21-23 zum Ausdruck, wo das Gegenüber von Annahme Jesu und Heil einerseits, Ablehnung seiner Person und Verwerfung andererseits veranschaulicht wird. Apokalyptisches Denken im Urchristentum gründet somit letztlich auf der Überzeugung, dass im Wirken Jesu Christi Gottes endzeitliches Heil angebrochen ist, dem das endzeitliche Gericht über diejenigen, die dieses Heil ablehnen, korrespondiert; dass Gott mit der Auferweckung Jesu Christi von den Toten den irdischen Geschichtsverlauf unter das Vorzeichen seiner endzeitlichen Vollendung gestellt hat; dass die Glaubenden bereits gerettet sind und diese ihre Rettung bis zur endgültigen Offenbarung der Herrlichkeit Gottes bewahren müssen.


3. Schluss

Apokalyptische Texte wirken heute oft abständig und rätselhaft. Mitunter dienen sie auch als Grundlage für Spekulationen über ein bevorstehendes Weltende und damit verbundene Katastrophen. Um diese Literatur auch in unserer Zeit mit Gewinn zu lesen, muss man sich deshalb zunächst verdeutlichen, dass es sich um antike Texte handelt, die die Wirklichkeit im Licht des Glaubens an den Gott Israels – in christlicher Perspektive: im Horizont seiner Offenbarung in Jesus Christus – deuten. Dazu nehmen sie Welt und Geschichte in ihrer Gesamtheit in den Blick und schildern die Durchsetzung von Gottes Macht und seiner Gerechtigkeit. Das Fremde, Visionäre, mitunter auch irritierend Gewalttätige dieser Texte darf deshalb nicht darüber hinwegtäuschen, dass die bleibende Herausforderung der apokalyptischen Weltsicht darin besteht, die Wirklichkeit in ihrer Totalität im Horizont des Geschichtshandelns Gottes zu deuten. Apokalyptisches Denken leistet darum auch für Theologie und Glauben der Gegenwart einen wichtigen Beitrag.

 

Anmerkungen

  1. Dies begegnet etwa auch in 1.Hen 102-103, einem Teil der „Epistel Henochs“, dem letzten Teil des 1. (äthiopischen) Henochbuches (1.Hen 91-104). In anderen Texten, etwa in 2.Bar 30, kann auch von einer Auferstehung nur der Gerechten die Rede sein, wogegen die Gottlosen im Totenreich verbleiben.
  2. Zu letzterer sind z. B. das kanonische Buch Daniel, die Schriften der Henochliteratur, die Apokalypse Abrahams, die Himmelfahrt des Mose, das 2. (syrische) Baruchbuch und das 4. Esrabuch zu rechnen. Aber auch das 2. Makkabäerbuch, Texte aus Qumran und die Weisheit Salomos enthalten apokalyptisches Denken. Dieses findet sich auch in Fortschreibungen prophetischer Texte, etwa in der sogenannten „Jesaja-Apokalypse“, Jes 24-27, und in Sach 9-14.

 

Literatur

  • Collins, John J.: Introduction: Towards the Morphology of Genre, in: Apocalypse: The Morphology of a Genre (Semeia 14), Missoula 1979
  • Collins, John J.: The Apocalyptic Imagination, Grand Rapids 2. Aufl. 1998
  • Collins, John J.: Apocalypses, Apocryphal, in: EBR 1, 2009, 316-318
  • Collins, John J. (Hg.): The Oxford Handbook of Apocalyptic Literature, Oxford 2014
  • DiTommaso, Lorenzo: Apocalypses and Apocalypticism, III. Judaism, A. Second Temple and Hellenistic Judaism, in: EBR 1, 2009, 325-337
  • Early Christianity 4/2013, Heft 1: Apokalyptik und das Neue Testament
  • Käsemann, Ernst: Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, in: Ders. Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 3. Aufl. 1968, 105-131 (zuerst ZThK 54/1962, 257-284)
  • Lücke, Friedrich: Offenbarung des Johannes oder Allgemeine Untersuchungen über die apokalyptische Litteratur überhaupt und die Apokalypse des Johannes insbesondere, Bonn 2. Aufl. 1852 (1. Auflage 1832)
  • McGinn, Bernard / Collins, John J. / Stein, Stephen J. (Hg.): The Encyclopedia of Apocalypticism (3 Volumes), New York 1998
  • Wolter, Michael: Apokalyptik als Redeform im Neuen Testament, in: Ders.: Theologie und Ethos im frühen Christentum. Studien zu Jesus, Paulus und Lukas, WUNT 236, Tübingen 2009, 429-452 (zuerst NTS 51/2005, 171-191)