Der historische Jesus oder der Jesus der Evangelien?
„Wir besitzen keine Quellen für ein Leben Jesu, welche ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen kann. Ich betone: für eine Biographie Jesu von Nazareth nach dem Maßstabe heutiger geschichtlicher Wissenschaft.“ So charakterisierte Martin Kähler 1896 in der erweiterten Fassung seines Vortrages „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“ (1892) die Schwierigkeit der Leben-Jesu-Forschung. Klaus Wengst hat jüngst diese Suche als „historisch wenig ergiebig und theologisch sinnlos“ bezeichnet. Er wendet sich gegen den in den letzten Jahren verstärkten Trend, genau wissen zu wollen, was Jesus denn nun wirklich gesagt hat. (Vgl. Schröter 2012, Stegemann 2010.) Die Motive dieser Fragerichtung sind vielfältig. Eines ist sicherlich die Sehnsucht danach, dass der Glaube einen wirklichen und damit wahren historischen Bezugspunkt hat. Sie können wegen der nachgewiesenen historischen Faktizität Wahrheit beanspruchen. Viele der Versuche, den sog. historischen Jesus zu rekonstruieren, lassen jedoch die mahnenden Forschungsergebnisse von Albert Schweitzer außer Acht, dass es sich bei diesen Rekonstruktionen um Projektionen der Forscher handelt, die ihre Idealvorstellungen auf Jesus übertragen, der das vorlebt, was sie für höchst erstrebenswert halten. (Vgl. Schweitzer 2013.) Wengst vermerkt in Bezug auf eigene ältere Veröffentlichungen: „Der Jesus, den ich dort fand, hatte an der Studentenbewegung teilgenommen.“ (Wengst 2013, S. 7.)
Wengst hält es für wichtiger, das „eigene Recht der Evangelien“ (a.a.O, S. 44) zu bedenken. Das Neue Testament enthält vier Mal die Erzählung des Lebens Jesu. Sie wollen kein historisches Protokoll sein. Ein Blick in die jeweiligen Passionsgeschichten der Evangelien zeigt: Die Evangelien verfolgen mit der erzählerischen Ausgestaltung der Passion Jesu ein bestimmtes theologisches Interesse. Mit welchen Worten auf den Lippen starb Jesus nun? „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34); „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30) oder „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“ (Lk 23,47)
Ich möchte hier einige Aspekte der Passionsgeschichten des Mk, Lk und des Joh (mit einem Blick auf die je eigene Erzählweise von der Auferstehung Jesu) herausarbeiten, um deutlich zu machen: Das hat Jesus für die Erzähler der Evangelien in ihrer je eigenen Situation bedeutet. Dies trieb die Erzähler an, ihre Geschichte genau so zu erzählen. Das Mt muss an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben. Die Golgatha-Szene (Mt) schließt sich in zentralen Elementen der Vorlage des Mk an. Eine Analyse der Passionsgeschichte des Mt muss sich aber auch mit der heftigen Kritik und Polemik bestimmter jüdischer Gruppen (u.a. Mt 23) beschäftigen. Dafür fehlt hier der Platz.
Eine weitere Vorbemerkung: In der Leben-Jesu-Forschung wurde die Kreuzigung Jesu immer als ein historischer Fixpunkt angesehen. Die pure Feststellung des historischen Sachverhaltes hilft jedoch nicht weiter. Es geht vielmehr darum zu fragen: Was bedeutet es für die Evangelien, dass sie von Jesus als jemandem erzählen, der von der römischen Staatsmacht hingerichtet wurde? Die Hinrichtung Jesu durch Rom verweist auf einen Problemzusammenhang, in dem sich auch die Evangelien bewegen. Die Kreuzigung stellte im römischen Reich eine Strafe für Aufrührer dar. Die genauen Motive für die Verhaftung Jesu durch die römische Provinzverwaltung lassen sich nicht rekonstruieren. Mit der Kreuzigung jedoch bekommt die Bewegung, die von Jesus ausging und die sich über die Jahrzehnte nach seinem Tod verbreitete, in der Gesellschaft des Imperium Romanum ein bestimmtes Etikett verliehen. Wer sich auf einen Gekreuzigten beruft, gehört zu den Feinden Roms. Auch die Evangelien sind davon betroffen. Sie erzählen von dem Menschen, der von Rom gekreuzigt wurde. Sie setzen sich so mit Roms gewaltsamer Herrschaft auseinander.
Protest gegen Macht und Gewalt – das Markusevangelium
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Die Auslegung von Mk 15,34 wird bestimmt von der Diskussion, ob der hier zitierte Ps 22 in seiner Gänze gehört werden will oder ob der Akzent auf dem Beginn des Psalms liegt. Wird die Hoffnungsperspektive von Ps 22, mitgehört oder stirbt Jesus in Gottverlassenheit? Die Art und Weise, wie Ps 22 hier aufgenommen wird, zeigt : Der Schwerpunkt liegt auf dem leidvollen Ergehen eines Menschen, der nicht verstehen kann, wie Gott ihn verlassen kann. Es geht um das Leiden eines gerechten Menschen. Seine gerechte Lebensweise bewahrt ihn nicht vor den Gewalttätern. Daran verzweifelt diese Person, was in Ps 22,2 zum Ausdruck kommt. Jesus wird im Mk in dieser Traditionslinie des „leidenden Gerechten“ verstanden. Das Mk erzählt die Folterung und Hinrichtung des Boten für das Reich Gottes. In Jesu Handeln ist Gottes Reich präsent. Die in Mk 1,11 und Mk 9,7 gemachte göttliche Zusage („Du bist mein geliebter Sohn.“ bzw. „Das ist mein lieber Sohn.“) gerät auf Golgatha in die totale Krise. Jesus schreit seine Verzweiflung heraus – und keine göttliche Stimme ist zu hören. Jesus stirbt, ohne dass von Gott eine Antwort kommt. (Vgl. Jochum-Bortfeld 2008, S. 269-273.)
Zweierlei steht hier zur Debatte: Jesus wird damit im Mk als Opfer menschlicher Gewaltgeschichte verstanden. Damit wird diese Welt angeklagt, dass sie keinen Platz hat für die, die sich auf Gottes Reich einlassen und für dieses eintreten. Gleichzeitig steht damit aber auch die Gottheit Gottes in Frage: Warum greift er nicht ein? Warum triumphiert auf Golgatha die Gewalt?
Diese Sicht des Mk resultiert aus der historischen Situation, in der das Mk entstanden ist. Nach der Zerstörung Jerusalems durch römische Truppen (70 n. Chr.) und nach Ende des brutalen Krieges gegen Israel stehen die Überlebenden vor der Frage: Wie konnte dies geschehen? Wo ist Gott? Das Mk greift diese Fragen auf und gestaltet von hier aus seine Passionsgeschichte. In der Geschichte des gekreuzigten Messias werden die leidvollen Erfahrungen und Fragen vieler Opfer des Krieges eingetragen. In der Thematisierung ihrer Leiden zeigt sich die besondere Perspektive des Mk: Hier wird nicht die Geschichte triumphaler Sieger erzählt. Die Erfahrungen der Opfer werden ernst genommen und nicht vergessen. Das Mk nimmt sich der Opfer an und erzählt ihre Geschichte – ein Protest gegen die Machthaber dieser Welt. Gleichzeitig werden damit aber auch die Erfahrungen der Menschen klagend vor Gott gebracht.
Das Mk spricht dem Sterben Jesu sühnende Wirkung zu. Sein Blut wird für die vielen vergossen (Mk 10,45). Die Grundlage für diese befremdliche Vorstellung findet sich in 2 Makk 7. Dort wird eine fiktive Episode aus dem jüdischen Befreiungskampf gegen den hellenistischen König Antiochos IV geschildert. Eine Frau und ihre sieben Söhne werden vor dem König zu Tode gefoltert, da sie sich weigern, Schweinefleisch zu essen. Im Sterben bleiben sie bei ihrem Widerstand und der Tora Gottes. Sie hoffen auf Gottes Gerechtigkeit und dass er die Märtyrer nicht im Tod belässt – und zwar gegen die Gewalt des Königs. In der Hoffnung auf Auferstehung durch Gottes schöpferische Kraft zeigt sich der Protest der Widerstandskämpfer gegen die Gewalt des Königs. In dieser Geschichte spiegelt die Rede des jüngsten der sieben Söhne ein besonderes Verständnis des eigenen Leidens wider: „Ich aber gebe wie meine Brüder Leib und Leben hin für die väterlichen Weisungen und appelliere dabei an Gott, er möge dem Volk alsbald gnädig werden … , an mir … und meinen Brüdern möge er den Zorn des Allmächtigen zum Stillstand kommen lassen, der zu Recht über unser ganzes Volk ergangen ist (2 Makk 7,37f). Das persönliche Geschick wird nicht vom eigenen Volk getrennt. Der toratreue Widerständler hebt sich nicht von den anderen ab, die von Gott abgefallen sind. Vielmehr versteht er sein Sterben als Hilfe für das Volk. Klaus Wengst versteht die Worte des jüngsten Bruders als „Appell an Gott gegen Gott. Das wird an der eigenartigen Formulierung deutlich, in der Gott angerufen wird, ‚den Zorn des Allmächtigen zum Stillstand kommen zu lassen‘ – als wäre der Allmächtige ein anderer und nicht er selbst, Gott. Es ist ja berechtigt, dass er zürnt. Aber er möge es doch nun mit diesen Martyrien genug sein lassen. Es möge doch nun endlich Schluss sein mit dieser Gewaltgeschichte.“ (Wengst 2012, S. 33.)
Die markinische Passionsgeschichte bringt auch hier den Protest gegen die Gewalt der Herrschenden zum Ausdruck. Sie will sich nicht damit abfinden, dass die Gewalttäter auf ewig siegen. In diesem Zusammenhang wird der erlittenen Gewalt die Hoffnung auf den Gott Israels entgegen gesetzt. Dabei wird besonders die Schöpfermacht Gottes betont. Die Brüder und ihre Mutter berufen sich auf den Gott Israels, der das Leben geschaffen hat – ein theologisches Zentrum des Glaubens Israels. Sie gehen in den Tod in der Hoffnung, dass der Gott, der ihnen das Leben geschenkt hat, sie nicht fallen lassen wird (Mk 7,23). In diesem Sinne ist Mk 10,45 zu verstehen. Mit dem Martyrium Jesu möge Gott es genug sein lassen und die Gewaltgeschichte beenden.
In Mk 16, 1-8 versucht das Mk der Krise von Golgatha etwas entgegenzusetzen (vgl. Jochum-Bortfeld 2008, S. 277-285):
Der Gekreuzigte ist auferstanden (16,7). Die Reaktion der Frauen auf diese Botschaft ist allerdings Verstörung, Erschütterung und Entsetzen. Das ursprüngliche Mk endet in 16,8 nicht mit dem Erscheinen des Auferstandenen, sondern mit dem Schweigen der Auferstehungszeuginnen. Dass die Frauen die frohe Botschaft für sich noch gelten lassen können, zeigt, wie mächtig die Erfahrungen von Leid und Gewalt sind. Diese werden mit keinem Auferstehungstriumphalismus überkleistert. Die Menschen um Jesus werden in Mk 16,7 auf den Weg nach Galiläa gewiesen, d.h.: Sie sollen den Weg Jesu durch Galiläa noch einmal mitgehen, ihm nachfolgen. Erst auf diesem Weg können sie die Kraft der Auferstehung erfahren, und zwar dort, wo Menschen im Vertrauen auf Jesu Auferstehung aus lebensfeindlichen Verhältnissen aufbrechen, wo Menschen im Sinne der Tora solidarisch miteinander leben, wo Menschen einander vergeben können. In diesem Sinne können viele Wundergeschichten im Mk als Auferstehungsgeschichten gedeutet werden.
Stiftung von Gemeinschaft – das Lukasevangelium
Die Passionsgeschichte im Lukasevangelium geht einen anderen Weg. Dies zeigt schon die besondere Gestaltung der Erzählung des letzten Mahls Jesu mit der Nachfolgegemeinschaft (Lk 22,14-38). In Lk 22,24-27 wird im Gegensatz zu Mk 10,42-45 der Lösegeldgedanke nicht aufgenommen. In 22,19-20 wird betont, dass Jesu Leib und Blut für die Menschen gegeben ist. Das „für euch“ deutet Böttrich im Rahmen des proexistenten Handelns Jesu im gesamten Evangelium. Das Handeln Jesu zielt im Lk auch auf den Aufbau und die Festigung von sozialen Beziehungen ab, wozu auch der Zuspruch der Sündenvergebung gehört. In Lk 22,32 sagt Jesus auch denen die Vergebung zu, die ihn in seiner schwersten Stunde verlassen und verleugnen werden. Petrus und sein Verhalten stehen hier stellvertretend für die gesamte Nachfolgegemeinschaft. Ihr gilt die Vergebung und die Verheißung des Reiches Gottes, auch wenn sie auf dem Weg der Nachfolge an ihre Grenzen stößt.
Zweiter wichtiger Punkt, an dem Jesus gemeinschaftsstiftendes Handeln in der Passionsgeschichte deutlich wird, ist die Bitte um Vergebung für die Mörder am Kreuz: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Auf die erlittene Gewalt reagiert der Messias nicht mit Gegengewalt. Der Wundertäter, der die Dämonen ausgetrieben und den gottfeindlichen Mächten widerstanden hat, vergibt seinen Mördern und denen, die seine Hinrichtung als Schauspiel mit ansehen. Keine Verfluchung der Gewalttäter, stattdessen ein fürbittendes Gebet um Vergebung.
Das Lk erzählt davon, dass Jesus im Angesicht des Todes bei seiner in Lk 4,16-21 selbst formulierten Programmatik, den Armen frohe Botschaft zu bringen und das Gnadenjahr des Gottes Israels auszurufen (vgl. Lev 25), bleibt. Die Armen sollen nicht mehr in Abhängigkeit von den Reichen leben. Alle sollen genug zum Leben haben. Niemand soll unter den Ungleichheiten der Gesellschaft leiden. Es geht im lukanischen Doppelwerk um eine Gesellschaftsform, in der alle alles gemeinsam besitzen (Apg. 2,44). Das Wirken Jesu wird von der Vision einer Gemeinschaft mit solidarischen Beziehungen getragen. Die Kreuzigung Jesu bedeutet den gewaltsamen Abbruch seines Wirkens für diese Vision. Derjenige, der Sozialität stärken wollte, ist ein Opfer der Mächtigen geworden. Die beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus machen dies sehr deutlich: „Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde.“ (Lk 24,21) Diese Hoffnungen sind zunichte geworden. Das Recht der Gewalt hat über die Praxis Jesu gesiegt.
Für das lukanische Verständnis, wie die Auferweckung Jesu erfahren werden kann, finden sich in der Emmaus-Geschichte (Lk 24,13-35) wichtige Hinweise. Der Botschaft der Frauen schenken die beiden Jünger kein Vertrauen, die bloße Feststellung, dass das Grab leer ist und dass die Frauen dem Auferstandenen begegnet sind (Lk 24,23), reicht nicht aus, um die Macht der Tatsachen zu überwinden. Entscheidend für das Erkennen des Auferweckten ist das gemeinsame Mahl. „Das Mahl … ist der Ort, an dem ihnen (den Jüngern, CJB) ‚die Augen geöffnet’ werden“. (Böttrich 2005, S. 428.) Die Abendmahlzeit ist die Fortsetzung der Praxis des irdischen Jesus, die deutlich macht, dass die Mächtigen mit ihrer Gewalt den Messias, der Beziehungen zwischen den Menschen heilen will, nicht aus dem Wege räumen konnten. Das Wirken Jesu schien beendet. Beim gemeinsamen Mahl erfahren die beiden Jünger jedoch das Gegenteil, eine Erfahrung, die auf dem Weg nach Emmaus in der Begegnung mit Jesus ihren Anfang nimmt. Jesus redet mit den beiden über ihre Trauer und Enttäuschung, er legt ihnen die Tora und die Propheten aus und – quasi als Höhepunkt und Abschluss – isst er mit ihnen zu Abend, wobei er wie in Gethsemane das Brot bricht. Auferweckung ist im Lk nicht einfach das Sehen des Auferweckten. Dass Jesus auferweckt worden ist, bedeutet im Lukasevangelium die Stiftung und Stärkung von menschlichen Beziehungen im Angesicht menschlicher Gewalt. Auferweckung erfahren – das geschieht nach dem Lk in kommunikativen Prozessen, wie dem gemeinsamen Weg von Jerusalem nach Emmaus, der im gemeinsamen Mahl gipfelt. Böttrich zeigt, dass im Fortgang der Apg die gemeinsame Mahlzeit der Ort der Begegnung mit dem Auferstandenen ist. (Vgl. Böttrich 2005, S. 429.)
In der Gemeinschaft der Jerusalemer Gemeinde, die sich durch die Lehre der Apostel und das gemeinsame Brotbrechen (als Teil der Mahlzeit) auszeichnet, beginnt das anbrechende Reich Gottes erfahrbar zu werden. Hier wird die Botschaft des Auferweckten weiter getragen.
Die Gegenwart Gottes und Jesu im Leiden – das Johannesevangelium
Das 4. Evangelium geht wieder einen anderen Weg: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30) – so lauten hier die letzten Worte Jesu. Das Handeln Jesu findet im Sterben seine Vollendung. Wird damit die Gewalttat der römischen Provinzverwaltung nicht göttlich legitimiert? Haben die Kritiker der Kreuzestheologie nicht Recht, wenn sie dem Christentum eine bestimmte Form von Gewaltverherrlichung unterstellen?
Für die Auseinandersetzung mit dieser Kritik lohnt sich ein genauer Blick in die Passionsgeschichte des Johannes. Jesus ist „Souverän des eigenen Geschicks“. (Wengst 2005, S. 30.) Bei der Verhaftung zeigt nicht Judas dem Verhaftungskommando, wer der Gesuchte ist. Jesus selbst geht auf die Soldaten zu, er gibt sich zu erkennen, worauf die Häscher zu Boden stürzen. Jesus gibt sich in Joh 18,5 mit den Worten „Ich bin es“ zu erkennen. Wengst sieht hier einen Hinweis auf biblische Traditionen, die mit diesen Worten Gottes Anwesenheit zum Ausdruck bringen. Gott ist – so das Joh – in den kommenden Szenen präsent. Er geht mit dem Messias in den Weg des Leidens. Entgegen manchen Vorurteilen gegenüber dem Joh werden die Qualen Jesu unter Folter durch die Römer alles andere als beschönigt. (Vgl. Wengst 2007, S. 231-233.) „Wenn aber Gott auch hier da ist …, dann wird ihm auch zugetraut, dieses negative Geschehen zu etwas Positivem zu wenden.“ (Vgl. Wengst 2012, S. 30.)
Dieser theologische Gedanke gilt auf der historischen Ebene einer Gemeinschaft, die durch Erfahrung von sozialem Ausschluss und anderer Repressionen seitens ihrer Umwelt (bedingt durch die Lebenssituation jüdischer Gemeinschaften im Imperium Romanum) zutiefst verunsichert ist. Ist in Jesu Handeln und Reden wirklich Gott präsent gewesen? (Vgl. Wengst 1992.) Durch die gegenwärtigen Erfahrungen sind sich die Menschen nicht mehr sicher. Sie befürchten sich geirrt zu haben. Manche verlassen aus Verzweiflung die Gemeinschaft (Joh 6,60-71). Das Evangelium setzt diesen Zweifeln den „verherrlichten Christus“ entgegen. Christus, der u.a. als Licht der Welt und Brot des Lebens (Joh 8,12; 6,35) verstanden wird, soll der Gemeinschaft Halt und Zuversicht geben, dass Gott im Leiden erfahrbar ist und das Leiden wenden wird. In diesem Zusammenhang steht Joh 19,20: Auch im Tod ist Jesus nicht von Gott getrennt. Sein ganzer Weg wird getragen vom Gott Israels. In diesem Sinne ist alles vollbracht. Es geht um Trost inmitten einer Welt voller Gewalt.
Maria am Grab kann als Personifizierung der Gemeinschaft verstanden werden. (Wengst 2007, S. 281.) Sie beweint das Ende des gemeinsamen Weges, sie betrauert den Verlust ihrer Hoffnung, in Jesus Gott erfahren zu haben. In der Begegnung mit dem Auferstandenen kommt es auf der Erzählebene des Joh zur entscheidenden Wende. Jesus spricht Maria an und erinnert damit an den gemeinsam gegangenen Weg. Das Joh betont damit die Gegenwart Jesu innerhalb seiner Gemeinschaft auch in leidvollen Zeiten. Der Auferstandene wird aber nicht glorifiziert. In der Begegnung mit Thomas wird betont, dass der Auferstandene der Gekreuzigte ist (Joh 20,24-28). Er trägt noch die Wunden der Hinrichtung, sie werden nicht verschwiegen oder literarisch wegretuschiert.
Der gedeutete Jesus
In den Passionsgeschichten wird zum Ausdruck gebracht, welche Bedeutung das Leben und Sterben Jesu für die Menschen hatte. Diese Geschichten stellen eine theologische Interpretationsleistung derer da, die sie erzählt und aufgeschrieben haben. Durch sie hindurch zu den historischen Ereignissen zu gelangen, um vielleicht etwas von Jesu ureigenem Selbstverständnis zu erfahren, halte ich für unmöglich. Neuere geschichtstheoretische Ansätze betonen: Geschichtliche Ereignisse sind nur in Gestalt von Quellen fassbar. Zum Ereignis selbst kommt man nicht mehr. Quellen sind ihrerseits nicht einfach Abbildungen des Gewesenen, sondern Deutungen von Ereignissen. (Vgl. Landwehr 2010, S. 47-56.) In Bezug auf Jesus haben wir eine Vielzahl von Deutungen vorliegen, die zeigen, was er für die Menschen unter Herrschaft des Imperium Romanum (und den damit verbundenen Gewalterfahrungen) bedeutet hat und wie das Erzählen von seinem Leben, Sterben und Auferstehen ihnen Kraft zum Leben inmitten von Unterdrückung und Gewalt gegeben hat. Die biblischen Schriften sind Glaubenszeugnisse von Menschen in bestimmten Zeiten und konkreten Situationen. Damit sind die so verstandenen biblischen Texte die vielversprechenderen Gesprächspartner für heutige Menschen als das Konstrukt des sogenannten historischen Jesus.
Literatur
- Böttrich, Christfried (2005): Proexistenz im Leben und Sterben. Jesu Tod bei Lukas, in: Jörg Frey/Jens Schröter (Hrsg.) Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, 413-436.
- Fiedler, Peter (2006): Das Matthäusevangelium, Stuttgart.
- Jochum-Bortfeld, Carsten (2008): Die Verachteten stehen auf. Widersprüche und Gegenentwürfe des Markusevangeliums zu den Menschenbildern seiner Zeit, Stuttgart.
- Schröter, Jens (42012): Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Leipzig.
- Schweitzer, Albert (21913): Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen.
- Stegemann, Wolfgang (2010): Jesus und seine Zeit, Stuttgart.
- Wengst, Klaus (2013): Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart.
- Wengst, Klaus (2012): „… dass der Gesalbte gemäß den Schriften für unsere Sünden gestorben ist. Zum Verstehen des Todes Jesu als stellvertretender Sühne im Neuen Testament, in: EvTh72, 22-39.
- Wengst, Klaus (22007): Das Johannesevangelium II, Stuttgart.
- Wengst, Klaus (41992): Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus, München.
- Zenger, Erich (1994): Ein Gott der Rache. Feindpsalmen verstehen, Freiburg.
- Landwehr, Achim (2010): Historische Diskursanalyse, Frankfurt a.M.