Was provoziert mehr? Ein Siebtklässler, der in einem Pflaumenbaum sitzt, “Nichts bedeutet irgendetwas” ruft und die Mitschülerinnen und Mitschüler auslacht, weil sie noch etwas werden wollen? Oder eine 7. Klasse, die sich das nicht gefallen lässt und immer härtere Maßnahmen ergreift, um Dinge zusammenzutragen, die für sie eine Bedeutung haben?
Kaum ein Jugendbuch hat in jüngster Zeit jedenfalls so viel Kritik und die Frage nach der pädagogischen Eignung ausgelöst wie Janne Tellers “Nichts. Was im Leben wichtig ist”. Dabei stößt das Buch bei Jugendlichen überwiegend auf positive Resonanz, während sich Erwachsene, gerade auch Pädagoginnen und Pädagogen kritisch geäußert haben und das Buch für den Unterricht verbieten wollten.
Neben den Kritikern gibt es aber auch die begeisterten Erwachsenen; “Nichts. Was im Leben wichtig ist” wurde inzwischen mit mehreren Preisen ausgezeichnet und in 13 Sprachen übersetzt.
“Nichts” – worum es geht
Nach den Sommerferien kommen die Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse im kleinen Vorort Taering wieder in ihrer Schule zusammen. Kurz nach Beginn des Unterrichts verlässt Pierre Anthon den Klassenraum, klettert auf einen Pflaumenbaum und wirft abwechselnd unreife Pflaumen und Sätze herab, die die anderen in der Klasse treffen. Die Sätze ranken sich alle um eine Aussage: Es lohnt sich nicht, etwas zu tun, weil nichts Bedeutung hat. Ab und zu folgt eine Begründung: “Denn alles fängt nur an, um aufzuhören. (…) Das Leben ist die Mühe überhaupt nicht wert” (S. 11).
Die anderen in der Klasse, zu denen auch die Ich-Erzählerin Agnes gehört, begegnen diesem Geschehen mit einer Mischung aus Ahnung, dass Pierre Anthon recht haben könnte (“Denn irgendetwas hatte er begriffen. Auch wenn wir uns nicht trauten, das zuzugeben.” S. 11) und dem Versuch, den Mitschüler vom Gegenteil zu überzeugen. Erst werfen sie Steine nach ihm, dann kommt ihnen eine Idee: Sie tragen Gegenstände zusammen, die von Bedeutung sind und wollen Pierre Anthon auf diese Weise überzeugen, dass es “die Bedeutung” gibt.
Nachdem sie schnell davon abkommen, Gegenstände zu holen, die früher einmal eine Bedeutung hatten oder für jemand anderen eine Bedeutung haben, begegnen sie sich mit einem radikalen Anspruch: Jeder muss etwas geben, das für ihn selbst von Bedeutung ist. Dabei zählt nicht die eigene Auswahl der Gegenstände, sondern immer ein anderer bestimmt, was der Nächste zu geben hat. Zum Ort des Geschehens wird ein altes Sägewerk; darin sammeln sie ihre Gegenstände und es wächst ein Berg von Bedeutung. Gleichzeitig wachsen auch Wut und Rachegefühle. Denn jeder und jede, die etwas gegeben hat, verpflichtet den nächsten Mitschüler auf ein noch größeres Opfer. Dabei landen so ziemlich alle Bedeutungswelten auf dem Berg im Sägewerk: angefangen bei den Lieblingsbüchern und den teuren Sandalen über einen Hamster, Gebetsteppich und Kruzifix, bis zu einen Sarg. In dem Sog, der entsteht, machen die Jugendlichen auch nicht vor der körperlichen Unversehrtheit halt: Sophie soll ihre Unschuld opfern und Jan-Johann, der letzte in der Reihe, seinen Finger, den er zum Gitarre spielen braucht.
Schließlich wird der Berg aus Bedeutung entdeckt. Zunächst machen sich Erschrecken und Entsetzen unter den Erwachsenen breit, dann jedoch werden die Jugendlichen bekannt und berühmt. Es scheint, als hätten sie ihr Ziel erreicht.
Doch am Ende eskaliert die Situation. Sofie wehrt sich gegen den Verkauf des Bergs aus Bedeutung an ein Museum und macht den anderen deutlich, dass sie mit dem Verkauf alle Opfer der Bedeutungslosigkeit anheim gestellt haben. “Sofie schrie und schrie. (…) Aber das Schlimmste war, dass mit diesem Schrei alles auseinanderzubrechen schien. Als habe der Berg aus Bedeutung tatsächlich keine Bedeutung mehr, und damit verlor auch alles andere seine Bedeutung.” (S. 128) Es kommt zu einer wilden Schlägerei, Agnes rennt und holt Pierre Anthon. Doch sie können ihn nicht von der Bedeutung überzeugen. Da entlädt sich die Wut auf die verlorene Bedeutung an ihm …
“Nichts” – was es bedeuten kann
In Rezensionen und Materialien wird die Erzählung mal als Jugendroman, mal als Parabel bezeichnet. Auffällig ist, dass die Personen in der Erzählung kaum individuelle Prägungen bekommen. Man erfährt über die Personen nur das Nötigste, damit man den Gang der Erzählung versteht. Wer ist eigentlich dieser Pierre Anthon, welche Erfahrungen, Entscheidungen oder Widerfahrnisse haben ihn veranlasst, sich für ein Leben im Pflaumenbaum zu entscheiden? Was hat die Erkenntnis “Nichts hat Bedeutung” entstehen lassen?
Nichts davon ist Bestandteil der Erzählung. Man kann sich auch kaum mit einer der Personen identifizieren. Es wird kein Schicksal erzählt und der Leser oder die Leserin nimmt auch nicht teil etwa an einem möglichen Auf und Ab der Gefühlswelt einer der Jugendlichen.
Stattdessen werden die Gestalten typisiert dargestellt. Sie verkörpern typische Haltungen, die Menschen einnehmen können, aber sie werden in der Darstellung auf diese Haltung auch beschränkt. Das schafft beim Lesen eine eigentümliche Distanz und trägt in die Erzählung tatsächlich parabelartige Züge ein. Man merkt: Es geht nicht um eine oder mehrere Lebensgeschichten, es geht auch nicht um die komplexe Gefühlswelt von 14-Jährigen und ihr Ringen mit Anstrengung und Genuss, sondern es geht um eine Fragestellung, die anhand einer – man könnte fast sagen beliebigen 7. Klasse in Nordeuropa – in ihren Thesen und Widersprüchen ausprobiert wird. Es ist eine literarisch konstruierte Konfrontation unterschiedlicher Lebenshaltungen.
Um welche Haltungen geht es?
Pierre Anthon provoziert seine Klassenkameraden mit einer Haltung der Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Streben nach individueller Bedeutung und Einflussnahme. Mit Sätzen wie “Nichts bedeutet irgendetwas. (…) Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. (…)”, oder “Und selbst wenn ihr etwas lernt, damit ihr glaubt, ihr könntet etwas, ist immer jemand da, der das besser kann als ihr” (S. 23) relativiert er die Bedeutung des Einzelnen und seiner Wirkmöglichkeiten. An vielen Stellen im Buch wird die Begründung über einen “kosmischen” Blick auf das große Ganze und den naturgegebenen Weltlauf vollzogen, angesichts dessen jeder Einzelne klein und unbedeutend ist und nach verhältnismäßig kurzer Zeit im Dasein wieder verschwindet. “In wenigen Jahren seid ihr alle tot und vergessen und nichts, also könnt ihr genauso gut sofort damit anfangen, euch darin zu üben.” (S. 12)
Daneben findet sich auch noch eine andere Ausrichtung in den Äußerungen Pierre Anthons, nämlich eine gesellschaftliche Kritik an bestehenden Wertmaßstäben:
“Warum tun alle so, als sei das, was nicht wichtig ist, sehr wichtig, während sie gleichzeitig unheimlich damit beschäftigt sind, so zu tun, als wenn das wirklich Wichtige überhaupt nicht wichtig ist?” (S.21) “Falls dieser Misthaufen jemals etwas bedeutet hat, war damit an dem Tag Schluss, als ihr dafür eine Bezahlung angenommen habt.” (S. 132)
Es ist die Frage nach der Bedeutsamkeit und dem Wert des eigenen Lebens angesichts der Erfahrung von begrenzten Möglichkeiten und es ist die Kritik an dem Versuch, diese Bedeutsamkeit durch das Befolgen von gesellschaftlich etablierten aber gleichwohl leeren Bedeutungsproduktionsstrategien zu gewinnen.
Welche Haltung verkörpern die Jugendlichen?
Schon ganz zu Beginn werden auch die anderen Jugendlichen in der Klasse zu Partizipienten dieser kritischen Haltung. Alle Jugendliche wissen: Die Bedeutungswelten der Erwachsenen sind fragwürdig. Sie spüren am eigenen Dasein, wie aus ihnen etwas gemacht werden soll, was sie eigentlich nicht sind. “Aus uns sollte etwas werden. Etwas werden bedeutete jemand werden, aber das wurde nicht laut gesagt. Es wurde auch nicht leise gesagt. Das lag einfach in der Luft oder in der Zeit oder im Zaun rings um die Schule oder in unseren Kopfkissen oder in den Kuscheltieren, die, nachdem sie ausgedient hatten, ungerechterweise irgendwo auf Dachböden oder in Kellern gelandet waren, wo sie Staub ansammelten.” (S.9) Die Haltung, die den Jugendlichen dann “unterlegt” wird, ist die der Angst. Sie trauen sich diese Einsicht nicht zu, sondern setzen alles daran, die gesellschaftlich anerkannten Symbolwelten, von der Literatur über Mode und Sport bis Religion und Familie in ihrer Bedeutung für sich selbst spürbar werden zu lassen. Dieses Spüren von Bedeutung läuft über den Modus des nicht freiwilligen Opferns. Denn: Habe ich mich selbst entschieden etwas aufzugeben, dann habe ich mich möglicherweise schon von der Bedeutung, die es für mich hat(te), getrennt. Erst wenn ich unvorhersehbar gezwungen werde, etwas herzugeben, was für mich wichtig ist, spüre ich, dass mir etwas fehlt. Über den Verlust von Bedeutungsvollem soll Bedeutung gewonnen werden – das ist der Plan.
Schonungslos sich selbst und den anderen gegenüber legen die Jugendlichen nun ein Verhalten an den Tag, das von Bedeutungsverlustgewinn zu Bedeutungsverlustgewinn selbstzerstörerischere Züge annimmt. War schon das Opfer eines Haustieres an der Grenze des Erträglichen, so zeigt das Ausgraben des toten Bruders, das Töten des Hundes und schließlich das Aufgeben der sexuellen Unversehrtheit und das Abhacken eines Fingers die steigende Bereitschaft von Destruktion. Es ist die Angst, die eigene Bedeutung zu verlieren, die schließlich Gewalt hervorbringt und zwar in einem Ausmaß, das letztendlich vor der eigenen Zerstörung und der anderer nicht halt macht.
In der Schlussszene bezeichnet Pierre Anthon im Sägewerk den Berg aus Bedeutung mit all den materiellen, ideellen, leibhaften und seelischen Opfern noch einmal als “Misthaufen” und verlacht die anderen, weil sie diesen Berg, der ihnen so wichtig erschien, verkauft haben. Daraufhin wird er von den Jugendlichen gelyncht.
“Nichts” – in der Lebenswelt Jugendlicher
Unter Jugendlichen hat das Buch große Begeisterung ausgelöst. Was hält es an Potential für Jugendliche bereit?
Es nimmt ernst, dass es für Jugendliche in der Zeit des Erwachsenwerdens tatsächlich darum geht, Bedeutungswelten auf ihre Glaubwürdigkeit für sich selbst zu hinterfragen. Diese Auseinandersetzung birgt Gefährdungen, die sich nicht ein für allemal abschaffen lassen. Dass etwas auf dem Spiel steht, wenn es darum geht, seine Bedeutung in der Welt zu finden, das verschweigt “Nichts” nicht.
Die Erzählung zeigt auch abgebrühtes Verhalten von Jugendlichen, kühle Konkurrenzgedanken, schonungslosen Gruppendruck. Dies alles in einer unemotionalen Weise, die Jugendliche weder auf ein Podest noch in den Abgrund der “schlimmen Jugend” stellt. Ebenso wenig wird versucht, das Handeln durch zu viele Begründungen verstehbar zu machen und zu legitimieren.
Und schließlich traut die Erzählung den Jugendlichen eigene Handlungsmacht zu. Erwachsene kommen in dieser Welt der Jugendlichen so gut wie gar nicht vor. Alles, was in der Erzählung geschieht, steht in der Verantwortung der Jugendlichen. Das Bedürfnis nach Eigenständigkeit, Herausforderung und eigenen Risiken scheint mir heute einer der wichtigsten Aspekte für Jugendliche zu sein, die zwar wenig kontrolliert, aber dafür umso mehr verplant und verregelt ihre Zeit verbringen.
Religionssensible Aspekte und didaktische Entscheidungen für die Thematisierung im Religionsunterricht
“Nichts” thematisiert die Frage nach dem Zustandekommen von Bedeutung und eigenem Selbstwerterleben. Es geht aus meiner Sicht nicht um eine allgemeine Frage nach dem “Sinn des Lebens”, sondern um die Fragilität von Bedeutung angesichts der Möglichkeit einer radikalen Infragestellung menschlicher Existenz durch seine Sterblichkeit.
Dabei gibt das Buch eine Antwort auf die Frage und hält eine Kritik bereit:
Die Antwort des Protagonisten ist, dass die Erfahrung der eigenen zeitlichen und räumlichen Begrenzung die Bedeutung des Lebens so sehr infrage stellt, dass es besser ist, möglichst wenig Gewicht auf die eigene Existenz zu legen und dann das Beste daraus zu machen. Die Erfahrung der Begrenzung kommt dabei in einer unmittelbaren Weise auf. Sie muss nicht unbedingt in einem philosophischen System verankert werden, wird aber gerade als konkrete Erfahrung verhandelbar.
Die Kritik richtet sich an einen gesellschaftlichen Umgang mit der Auseinandersetzung mit Bedeutung und der Erfahrung von Begrenzung, der darin besteht, eigene Bedeutungswelten zu schaffen und sich eine Scheinwelt von Bedeutungen zu bauen, in denen die Frage nach der Bedeutung und die Erfahrung von Begrenzung keinen Platz mehr hat. In gewisser Weise duplizieren die Jugendlichen mit dem Bau eines Berges aus Bedeutung genau dieses Erschaffen einer eigenen Bedeutungswelt und nehmen damit eben dieselbe Selbstverleugnung vor, die sie anfangs noch in der Welt der Erwachsenen gespürt haben.
In gewisser Weise wird in “Nichts” an den Jugendlichen durchexerziert, was passiert, wenn man sich der Illusion von übernommenen (und im Buch jedenfalls so verstandenen: überkommenen) Bedeutungswelten hingibt: Man lebt latent mit dem Selbstbetrug und jeder Versuch, sich daraus zu befreien, endet zerstörerisch.
Das Buch nimmt m.E. eine eindeutige Positionierung vor: Es gilt, Bedeutungslosigkeit auszuhalten und sich nichts vorzumachen. Pierre Anthon hat recht und behält recht. Die Jugendlichen werden anfangs noch etwas ambivalent und unsicher gezeigt, sie durchschauen das gesellschaftliche Spiel um Bedeutung; dann aber werden sie Zug um Zug die Verteidiger der Gesellschaft. Ausgestattet mit einem den Jugendlichen eigenen Radikalismus führen sie so der Gesellschaft vor, was passiert, wenn man die Bedeutung der Frage nach der Bedeutung nicht ernst nimmt.
Thematisiert man die Aspekte auf der Ebene der Antworten (Nihilismus, Gesellschaftskritik), dann entsteht daraus entweder ein völlig offener Lernprozess (im Sinne einer ganz allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens) oder ein relativ geschlossener Lernprozess, der sich mit dem Nihilismus in seinen verschiedenen Spielarten auseinandersetzt.
Interessanter scheint mir die Ebene der Fragen herauszufiltern und sie mit religiösen und / oder philosophischen Deutungen in Beziehung zu setzen. Ich sehe drei Aspekte:
- Die Frage nach der Weltsicht,
- Die Frage nach der Entstehung von Bedeutsamkeit,
- Die Frage nach der Macht und Verführbarkeit von Menschen.
1. Die Frage nach der Weltsicht
“Nichts” bietet eine bestimmte Weltsicht. Dass das eigene Leben angesichts der Begrenzung in Zeit und Raum nichts ist, ist eine Deutung, die man teilen kann, aber nicht teilen muss. Der rein physisch-mathematische Vergleich der Dauer eines Menschenlebens mit dem Zeitraum des Bestehens der Erde muss mich als Individuum nicht unbedingt beschweren. Erfahrungen von Wirksamkeit und Veränderung könnten dieser Weltsicht auch widersprechen.
Im Kontext religiöser Weltdeutungen trifft die Deutung sich in mancher Hinsicht mit Aussagen des Predigers Salomo. Die Erfahrung von Begrenzung wird dort ebenso unveränderlich dargestellt: “Es ist alles eitel und ein Haschen nach Wind.” “Der Mensch müht und plagt sich sein Leben lang und was hat er davon? Die Generationen kommen und gehen; und die Erde bleibt, wie sie ist.” (Koh 1,3f.) Der Vergleich mit der Größe des Kosmos, in dem das eigene Leben klein erscheint, taucht auch in der atl. Weisheit auf.
2. Die Frage nach der Entstehung von Bedeutsamkeit
Bedeutung ist eine Zuschreibung, die auf Wertvorstellungen basiert. Nichts hat von sich aus eine Bedeutung, sondern bekommt Bedeutung durch Anerkennungsprozesse zugeschrieben. Anerkennung von Bedeutung ist immer sozial vermittelt. Im Kontext christlich-jüdischer Weltdeutung ist die Anerkennung der Person ein gottgewolltes Geschehen (“Und siehe, es war sehr gut.” Gen 1). Das protestantische Gottesverständnis deutet die Person als anerkennenswert und bedeutungsvoll und begründet die Bedeutung einer Person nicht innerweltlich, sondern transzendental, und zunächst einmal unabhängig von menschlicher Einflussnahme und Macht. Bedeutung lässt sich nicht “herstellen”, sondern nur zusagen, und die Grundaussage der Schöpfung ist eine Zusage der positiven Bedeutung der Schöpfung und seiner Geschöpfe. Insofern zeigt sich gerade an den Bedeutungen, die im eigenen Leben auftauchen, sowohl die Relevanz von sozialen Anerkennungsprozessen als auch deren Begrenzung. Mir kann etwas noch so bedeutend sein, es muss ein anderer nicht genauso sehen. Die konsequente Ablehnung von Bedeutungszuschreibungen in “Nichts” macht sichtbar, dass trotz aller Anstrengung “Bedeutung” kein Akt willentlicher Entscheidung ist.
Die Unmöglichkeit, Bedeutung herzustellen, wird in biblischem Kontext z.B. in der Erzählung vom goldenen Kalb thematisiert. Die Unsicherheit göttlicher Existenz verführt hier dazu, selbst wertvolle Gegenstände zu sammeln und ihnen dann göttliche Bedeutung zuzuschreiben, was letztendlich ebenso scheitert wie bei dem Berg aus Bedeutung.
Die Frage, was Bedeutung gewährleistet, wird in “Nichts” unterschiedlich beantwortet: Pierre Anthon sagt “nichts”, es gibt die Gewähr nicht. Die Klassenkameraden sagen: das subjektive Erleben. Sie scheitern nicht daran, ihre eigenen Dinge als bedeutsam zu erleben, wohl aber daran, sie einem anderen zu vermitteln. Die menschlich vermittelten Bedeutungen können sich verändern. Die Radikalität und Abschreckung der Erzählung bestehen u.a. darin, dass alles, selbst seelisches Leiden und körperliche Unversehrtheit, bedeutungslos werden kann.
3. Die Frage nach der Macht und Verführbarkeit des Menschen
Die Erfahrung, in einem sozialen Kontext Bedeutsamkeiten durch Anerkennung wachsen zu lassen, stellt vor die Frage nach der Verführbarkeit und nach Situationen der Versuchung. Irgendwann steigern die Klassenkameraden sich so in die Sammlung hinein, dass sie nicht mehr herauskönnen. Sie lassen sich provozieren und mit der ihnen von Pierre Anthon abgesprochenen Macht zur Veränderung widersetzen sich die Jugendlichen einem Verharren in Nichtstun und Resignation. Sie erwidern diese Haltung mit dem Einsatz von Leidenschaft und Schuldigwerden. Sie probieren radikales Handeln aus und erfahren sich als handelnde, verantwortliche und schuldfähige Wesen. Erst diese Grenzüberschreitung wird etwas, das bleibend für sie Bedeutung gewinnt. Aus der Asche, die nach dem Brand des Bergs aus Bedeutung übrig geblieben ist, nimmt jeder etwas mit. “Ich habe immer noch die Streichholzschachtel mit der Asche vom Sägewerk und dem Berg aus Bedeutung. Dann und wann hole ich sie vor und schaue sie an. Und wenn ich vorsichtig die abgenutzte Pappschachtel öffne und auf die graue Asche blicke, bekomme ich dieses merkwürdige Gefühl im Bauch. Und selbst wenn ich nicht erklären kann, was das ist, weiß ich doch, dass es etwas ist, was Bedeutung hat.” (S. 140)
Im Kontext religiöser Deutung kann diese Versuchung thematisiert und auch verglichen werden mit biblischen Versuchungserzählungen. Auch in der Versuchungserzählung Adams und Evas ist die Grenzüberschreitung, das Erleben von eigenmächtigem Handeln und Schuldfähigkeit in Abgrenzung zum Vorgegebenen der Moment, in dem die Person als erkenntnisfähiges und urteilsfähiges, mündiges Subjekt entsteht. Auf die Bedeutung des Baumes in diesem Zusammenhang weist Norbert Brieden (Brieden 2013) hin.
Alle drei Aspekte berühren zentrale Fragen von Menschen im Jugendalter: Es geht um das Verhandeln von Weltsichten, die Infragestellung von Bedeutungswelten und die Erfahrung eigener Macht und Ohnmacht. Alle drei Themenschwerpunkte setzen eine Lektüre des Buches in der Klasse voraus.
Quelle:
Teller, Janne: Nichts. Was im Leben wichtig ist, München 2010
Vorschläge für den Unterricht Welt deuten – Welt unterschiedlich sehen
1. Pierre Anthon und wie er die Welt sieht
a. Tragt die Äußerungen Pierre Anthons über seine Sicht
der Welt zusammen. Unterscheidet die Äußerungen in drei Aspekte:
- Wie beschreibt er das Leben des Menschen?
- Was empfiehlt er zu tun?
- Mit welchen Argumenten begründet er seine Haltung?
b. Sammelt Eigenschaften,
wie ein Mensch sich selbst sieht, der diese Haltung vertritt. Schreibt die Eigenschaften um das Bild.
© Foto: littleny – Fotolia.com
c. Versetzt euch in die Haltung von Pierre Anthon.
Schreibt einen kleinen inneren Monolog “Die Welt in meinen Augen”.
d. Diskutiert die Haltung von Pierre Anthon.
Welche Erfahrungen und Beschreibungen teilt ihr? Wo widersprecht ihr?
2. Die Welt mit anderen Augen sehen
a. Pierre Anthon trifft …
Neben die Weltsicht Pierre Anthons sollen weitere Weltsichten gestellt werden. Das kann z.B. durch andere literarische Gestalten geschehen. Von jeder wird ein Textauszug bereitgestellt, mit dem sich die Schülerinnen und Schüler auseinandersetzen. So wird einer fiktiven Gestalt keine reale Gestalt gegenübergestellt, die es vermeintlich “besser” weiß. Auf der literarischen Ebene werden verschiedene Deutungskonzepte verarbeitet. Die literarische Verarbeitung von Positionen ermöglicht außerdem eher wahrzunehmen, dass es sich bei allen Positionen um eine Deutung der Welt handelt, die nicht “objektiv” gegeben ist.
Pierre Anthon trifft …
- z. B. Polleke (M 1)
- z. B. Oskar (M 2)
Auszüge aus den Büchern werden vorgestellt und gelesen. Es kann ebenso wie bei Pierre Anthon eine genauere Beschäftigung mit der Lebenshaltung, den Erfahrungen und dem Umgang damit geben. Schließlich können die Schülerinnen und Schüler eine Diskussion der drei Figuren führen.
b. Salomo, Paulus, Maria und Co. Biblische Gestalten sehen die Welt.
In ähnlicher Weise können Textauszüge biblischer Gestalten gewählt werden. Der Prediger Salomo bietet sich an. Daneben aber auch Texte von Paulus oder z. B. eines Propheten.
Intention dieses Arbeitsschrittes ist es, zum einen die Frage nach einer religiösen Deutung der Welt ins Spiel zu bringen. Dies aber nicht im Sinne einer “Überbietung”, sondern so, dass auch innerhalb biblischer Deutungen die Unterschiede und verschiedenen Zugänge deutlich werden.
Berge aus Bedeutung
1. Bedeutungswelten in “Nichts”
a. Agnes und ihre Mitschülerinnen und Mitschüler
sammeln Dinge, die für sie Bedeutung haben. Schreibt diese Gegenstände auf ein Blatt. Die Gegenstände können stellvertretend stehen für ganze “Bedeutungswelten”:
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Findet für alle Gegenstände passende “Bedeutungswelten und Lebensbereiche, die Menschen wichtig sind”. (Vgl. auch Althoff/v. Schachtmeyer 2012, S. 11f.)
b. Die Bedeutung der Dinge,
die die Klassenkameradinnen und Klassenkameraden auf den Berg aus Bedeutung geben, scheint zuzunehmen. Einigt euch auf eine Einteilung: Wo wird jeweils eine neue Bedeutungsebene erreicht? Begründet eure Entscheidung.
2. Bedeutungen entstehen und vergehen
a. Pierre Anthon erkennt “Die Bedeutung” bis zuletzt nicht an.
Er führt mehrere Gründe an. Tragt sie zusammen. Welche Gründe leuchten euch ein?
Obwohl die Klasse bis an die Grenzen des Möglichen geht, um Bedeutungsvolles zusammenzutragen, kann sie aus ihren Gegenständen für Pierre Anthon keine Bedeutung machen.
Überlegt: Warum lässt sich Bedeutung nicht “herstellen”? Formuliert einige Sätze über das “Wesen von Bedeutung”.
b. Welche Dinge oder Bedeutungswelten prägen euch?
Tragt Beispiele zusammen. Nehmt euch jeweils ein Beispiel heraus und überlegt: Wie ist die Bedeutung für mich entstanden?
c. In der Bibel gibt es die Erzählung vom goldenen Kalb.
Die Israeliten tragen wertvolle Gegenstände aus Gold zusammen und machen daraus ein goldenes Kalb, das sie anbeten.
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Vergleicht das, was die Israeliten machen mit dem, was die Jugendlichen machen. Gibt es Gemeinsamkeiten? Wo seht ihr Unterschiede?
Die Israeliten stellen etwas her und geben ihm die Bedeutung “Gott”. In der Erzählung wird gesagt, Gott hält das für einen falschen Weg. Nehmt Stellung dazu.
d. Die Autorin Janne Teller verbindet mit dem Buch eine Kritik an der Gesellschaft. In einem Interview sagt sie:
“Junge Leute stellen sich alle fundamentalen Fragen ganz von allein. Es sind die Erwachsenen, die sich unwohl fühlen, wenn an der Lackierung all dessen gekratzt wird, was wir aus reinem Konformismus täglich mitmachen. (…) Eigentlich kämpft jeder gegen den Pierre Anthon in seinem eigenen Kopf. Diese Kinder werden Fanatiker, ihn dort herauszubekommen – wie so viele Erwachsenen, die mit ihren religiösen oder anderweitigen Wahrheiten den Zweifel zu überdröhnen versuchen.”
(www.zeit.de/kultur/literatur/2010-08/janne-teller)
Erklärt die Meinung der Autorin. Seht ihr in der Gesellschaft heute Beispiele, wie die Frage nach Bedeutung verdeckt oder “überdröhnt” wird? Nennt Beispiele oder Gegenbeispiele.
Alle Macht der Welt
1. Machtspiele: Was geht…?
Ich kann in 3 Sekunden die Welt erobern Ref: Und das ist alles nur in meinem Kopf. Wir sind für 2 Sekunden Ewigkeit unsichtbar Ref: Und das ist alles… Du bist wie ich, ich bin wie du Ref: Und das ist alles nur in meinem Kopf. © Edition You Can Buy Taste / Edition Viertelkind; BMG Rights Management GmbH, Berlin; Sony/ATV Music Publishing (Germany) GmbH, Berlin |
a. Lest den Liedtext und tragt zusammen, was einer in Gedanken kann.
Seht euch die erste Zeile an: In drei Sekunden passiert Entgegengesetztes. Überlegt, was ihr in drei Sekunden “könntet”. Versucht es mit ähnlichen Unterschieden in einen Strophe zu bringen.
Seht euch die zweite Zeile an: In ihr werden Grenzen überschritten. Nennt die Grenzen. Welche Grenzen möchtet ihr überschreiten? Versucht auch das in eine Strophe zu bringen.
“Das ist alles nur in meinem Kopf” heißt es im Text. Wer oder was hat wirklich Macht, die Welt zu erobern und Grenzen zu überschreiten?
Sammelt alles, was euch einfällt.
b. Was ist eigentlich Macht?
Definitionen von Macht: Macht ist, andere dazu zu bringen, das zu tun, was man selbst möchte. |
Diskutiert die Definitionen von Macht. Welche leuchten euch ein? Nennt Gründe oder Beispiele.
Verführbarkeit und Macht.
Die Machtverhältnisse in “Nichts”
a. Die Machtverhältnisse in “Nichts”
Teilt die Erzählung in Abschnitte:
Pierre Anthon provoziert seine Mitschüler
Die Klasse lässt den Berg aus Bedeutung entstehen
Sofie wehrt sich gegen den Verkauf
Überlegt für jeden Teil: Wer hat Macht über wen?
Welche Definition von Macht passt?
b. Verführbarkeit und Macht
“Wir hätten aufhören sollen, bevor es so weit gekommen war. Jetzt war es irgendwie zu spät, auch wenn ich tat, was ich konnte.” (S. 28)
Agnes kommt schon ganz am Anfang zu dem Schluss, dass die Jugendlichen in einen Sog geraten.
Erklärt, wie es dazu kommt.
Nennt aktuelle politische und gesellschaftliche Beispiele, in denen eine Sogwirkung durch Gruppendruck oder durch Wut und Rache entstehen.
c. Adam und Eva
In der Bibel werden gleich zu Beginn die ersten Menschen verführt: Adam und Eva. Erst nachdem sie ein Gebot übertreten, können sie zwischen Gut und Böse unterscheiden, heißt es.
Was glaubst du: Was treibt Menschen, Grenzen zu überschreiten? Gehört es zum Menschsein dazu?
Literatur
- Althoff, Christiane/von Schachtmeyer, Christiane (Hg.): Lektüre. Kopiervorlagen. Nichts. Was im Leben wichtig ist, München 2012
- Brieden, Norbert: Die ungeheuerliche Story vom “Nichts”. Janne Tellers Roman “Nichts. Was im Leben wichtig ist” als moderne Sündenfallparabel, in: Katechetische Blätter 2/2013, S. 96-101
- Löwenstein, Sascha: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Zum Umgang mit der Sinnkrise in der Gegenwartsliteratur. Ein Aufriss, in: Thomas Maier (Hg.): Literatuur in crisistijd. Kirse – welche Krise!?, Berlin 2011
- Roschmann, Achim: Einfach Deutsch. Unterrichtsmodell. Nichts. Was im Leben wichtig ist, hg. v. Johannes Diekhans, Paderborn 2012
- Sauer Fabian: Eine Kiste voller Bedeutung Eine 7. Klasse lässt sich auf ein Experiment in Anlehnung an Janne Tellers Roman “Nichts” einin: Katechetische Blätter 2/2013, S. 102-104
- http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-08/janne-teller. Letzter Abruf: 9. April 2013