Die deutsche Bildungspolitik und ihr Verhältnis zu Inklusion

von Brigitte Schumann

 

Inklusion – ein allgemeines Menschenrecht

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat uns mit dem Menschenrecht auf Inklusion ein Leitbild für eine humane Gesellschaft gegeben. Inklusion bedeutet ein selbstverständliches Zusammenleben aller Menschen und gleichberechtigte, selbstbestimmte Teilhabe, unabhängig von individuellen Merkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Sprache, Religion, Fähigkeiten und Behinderungen.

Inklusion steht für den positiven Umgang mit Unterschiedlichkeit und gegen soziale Exklusion. Sie ist ein allgemeines Menschenrecht und kein Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen. Wenn dieses Recht ausdrücklich von der Konvention für diese Personengruppe eingefordert wird, dann geschieht das vor dem Hintergrund, dass sie besonders von Diskriminierung und Exklusion betroffen bzw. bedroht ist.

Behinderung entsteht nach dem Verständnis der Konvention aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren. Die Konvention verabschiedet sich folgerichtig von der medizinischen Definition von Behinderung, die Behinderte als Objekte der Fürsorge sieht. Mit Inklusion verbindet sich der gesellschaftliche und politische Auftrag, die Barrieren zu identifizieren und aus dem Weg zu räumen, die in unseren Köpfen und in den vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen behindernd wirken. Dem Staat kommt dabei die Verpflichtung zu, für Bewusstseinsbildung zu sorgen und die entsprechenden Rahmenbedingungen für Inklusion zu schaffen.

 

Die Bedeutung des Inklusionsgebots für das Schulsystem

Der Katalog der völkerrechtlichen Verpflichtungen, die sich aus der Ratifizierung der UN-Konvention ergeben, stellt die deutsche Bildungspolitik in den Bundesländern zweifellos vor erhebliche Herausforderungen:

  • Die Länder haben den individuellen Rechtsanspruch der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen auf inklusive Bildung und damit auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu gemeinsamem Lernen in einer wohnortnahen Regelschule mit angemessenen Vorkehrungen anzuerkennen.
  • Zwangszuweisungen zur Förderschule sind nicht mehr erlaubt. Förderschulen auf unbestimmte Zeit fortzuschreiben oder gar auszubauen verstößt gegen die Konvention. Eine planvolle Überführung der sonderpädagogischen Ressourcen in die allgemeinen Schulen ist im Rahmen der progressiven Entwicklung eines inklusiven Schulsystems vorzunehmen.
  • Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Recht auf gemeinsames Lernen in einer Schule für alle. Die jetzt noch getrennten weiterführenden Schulformen sind mit diesem Entwicklungsauftrag ausnahmslos in eine inklusive Schulentwicklung einzubeziehen.

Wenn Deutschland bei der konventionskonformen Umsetzung im Schulbereich besonders herausgefordert ist, dann doch hauptsächlich wegen des selbstverschuldeten Reformstaus, der sich heute als Barriere für inklusive Bildung darstellt. Während in anderen europäischen Ländern schon in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts integrierte Schulsysteme entstanden, verharrte Deutschland in der ständisch geprägten Tradition des gegliederten selektiven Schulsystems. Zu einem Zeitpunkt, wo andere Länder damit begannen, Kinder mit Behinderungen in das allgemeine Schulsystem zu integrieren, baute man das differenzierte Sonderschulsystem in Deutschland aus.

Der Einwand aus den Kultusministerien, man dürfe nichts überstürzen, Gründlichkeit gehe vor Schnelligkeit und außerdem „müsse man alle mitnehmen“, ist nichts weiter als ein Versuch, dem unabweisbaren menschenrechtlichen Auftrag auszuweichen. Selbstverständlich soll es darum gehen, das Inklusionsgebot als transparent und partizipatorisch gestalteten Prozess mit klaren politischen Zielvorgaben verantwortungsvoll zu realisieren. Natürlich muss die Lehrerschaft für die Gestaltung von Lernprozessen in heterogenen Gruppen aus- und fortgebildet werden, sind multiprofessionelle Unterstützungssysteme innerhalb und außerhalb der allgemeinen Schulen aufzubauen.Nicht zuletzt benötigen die kommunalen Schulträger bei ihrer Verpflichtung zu inklusiver Schulentwicklungsplanung landespolitische Unterstützung. Daneben aber gilt es, schon jetzt und hier den individuellen Rechtsanspruch des einzelnen Kindes auf inklusive Bildung im allgemeinen Schulsystem mit individuellen Vorkehrungen anzuerkennen.

Um die tiefgreifenden Reformansprüche der Konvention abzuwehren, stellt man diejenigen, die sie vertreten, jetzt auch öffentlich unter massiven Ideologieverdacht. Die Vertreter der Inklusion werden beschuldigt, auf dem Rücken der Kinder mit Behinderungen ihre alte Ideologie der sog. Einheitsschule durchsetzen zu wollen. Entsprechende Artikel in namhaften Medien wie der FAZ dienen der Verbreitung dieser unerträglichen Diffamierung. Sie ist in aller Schärfe zurückzuweisen.

Lange vor der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) hat die UNESCO auf ihrer Weltkonferenz 1994 in Spanien mit der Erklärung von Salamanca und dem „Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse“ unmissverständlich festgelegt, was unter inklusiver Bildung zu verstehen ist. Die Leitgedanken dazu lassen sich wie folgt zusammenfassen: Alle Kinder haben das Recht auf Bildung. Alle Schulen nehmen alle Kinder in ihrem Umfeld auf, auch Kinder mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten. Alle Kinder lernen miteinander und voneinander. Alle Schulen passen sich den Kindern an und entwickeln eine kindzentrierte Pädagogik. Die gemeinsame Schule für alle gewährleistet erfolgreiches Lernen für alle. Die UN-BRK greift mit ihrer Forderung nach inklusiver Bildung auf eben dieses international bekannte Rahmenkonzept von Salamanca zurück, um wirksame und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Behinderungen zu sichern.

Seit der Weltkonferenz von Salamanca wirbt die UNESCO für inklusive Bildung und fordert, Inklusion zum übergreifenden Prinzip der Bildungspolitik und der Bildungspraxis zu machen, um Bildung für alle zu realisieren. 2009 hat sie Leitlinien für die Politik veröffentlicht, die die Deutsche UNESCO-Kommission auch ins Deutsche übersetzt hat. Walter Hirche, Präsident der Deutschen UNESCO-Kommission, stellt in seinem Grußwort dazu unmissverständlich fest: „Um inklusive Bildung zu ermöglichen, müssen Bildungssysteme alle Kinder erreichen und nach ihren individuellen Möglichkeiten optimal fördern. Die Systeme müssen dabei von der frühkindlichen Bildung an so gestaltet werden, dass sie sich den verschiedenen Bedürfnissen der Kinder flexibel anpassen können. Allen Kindern soll ermöglicht werden, in einem gemeinsamen Unterricht voll am schulischen Leben teilzuhaben. Erst wenn Systeme dies für alle Kinder leisten, können wir von umfassender Bildungsgerechtigkeit sprechen.“

 

Politische Barrieren

Schon 1994 war also mit der internationalen UNESCO- Erklärung auch Deutschland dringend empfohlen worden, die Schulstruktur und Lernkultur von der Selektion auf Inklusion umzustellen. Obwohl Deutschland die Erklärung mitzeichnete, fühlte sich die deutsche Bildungspolitik nicht zur Umsetzung verpflichtet. Ihrem Desinteresse haben wir zu verdanken, dass die Empfehlungen ins Leere liefen, während in anderen Staaten damit begonnen wurde, das Konzept der Inklusion zu implementieren. Wieder wurde kostbare Zeit für eine bildungspolitische Weichenstellung in Deutschland verspielt.

Weil jedoch die Inklusion nach der Ratifizierung der UN-Konvention durch Bundestag und Bundesrat nicht mehr eine unverbindliche Empfehlung, sondern deutsches Recht geworden ist, versucht die Kultusministerkonferenz (KMK), dieses brandheiße Thema mit allen Tricks zu entschärfen. Wer – wie die KMK – festen Willens ist, dass am Grundkonsens eines gegliederten Schulsystems mit einem ausdifferenzierten Sonderschulsystem nicht gerüttelt werden darf, für den musste allein schon die bloße Nennung des Begriffs Inklusion einer Bedrohung gleichkommen. So wird verständlich, warum die KMK geradezu zwanghaft alle Anstrengungen darauf richtete, im Vorfeld der Ratifizierung den Begriff „Inklusion“ durch den geläufigen Begriff der „Integration“ in der offiziellen deutschen Übersetzung des Konventionstextes zu ersetzen. Mit Rückgriff auf diesen Übersetzungstrick sollte der Eindruck erweckt werden, dass es schon „vielfältige Übereinstimmungen“ zwischen der Konventionsforderung und der sonderpädagogischen Praxis in Deutschland gäbe.

Um das Sonder- bzw. Förderschulsystem als Stütze für das gegliederte allgemeine Schulsystem zu erhalten, begründet die KMK mit dem Hinweis auf das Elternwahlrecht und auf das Kindeswohl die Notwendigkeit für ein Parallelangebot von separierter und inklusiver Förderung. Diese Tendenz, das Recht auf inklusive Bildung als Elternrecht auszugestalten, hat die Monitoringstelle am Deutschen Institut für Menschenrechte in ihrer grundsätzlichen Stellungnahme vom 31. März 2011 scharf kritisiert.

„Das Recht auf Inklusion ist ein Recht der Person mit Behinderung“, so Aichele, der Leiter der Monitoringstelle. Eltern sind über dieses Recht aufzuklären und „haben bei der Ausübung der elterlichen Sorge den Leitgedanken der Inklusion zu beachten und ggf. zu erklären, warum sie keine inklusiven Bildungsangebote wahrnehmen“. Ein Wahlrecht ist „nur übergangsweise vertretbar“. Es darf nachweislich nicht den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems verzögern oder untergraben, indem „es die erforderliche Reorganisation von Kompetenzen und Ressourcen für das Regelschulsystem erschwert“. Ein unbefristetes Doppelangebot von Regel- und Sonderbeschulung für Kinder mit Behinderung ist ebenso wenig zulässig wie der Ausbau des Sonderschulsystems durch neue Sondereinrichtungen. Zu fördern ist dagegen die Umwandlung von Förderschulen zu Kompetenzzentren als „Schulen ohne Schüler“.

Wenn das Kindeswohl dazu herhalten muss, den subjektiven Inklusionsanspruch zu vereiteln, dann wird allerdings die Konvention völlig auf den Kopf gestellt. Ist doch nach der Werteentscheidung von Artikel 24 der Konvention das inklusive Bildungssystem eben die Gewährleistung dafür, dass das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderung diskriminierungsfrei und auf der Basis von Chancengleichheit wahrgenommen werden kann. Die Qualität inklusiver Bildung muss so beschaffen sein, dass durch angemessene Vorkehrungen die Rechte aller beteiligten Kinder beachtet werden und kein Kind zu Schaden kommt.

Die UN-BRK hat eine ungeheure öffentliche Dynamik entwickelt. Das zeigt die Vielzahl der Veranstaltungen und der Veröffentlichungen zu dem Thema. Wenn sie aber auch Aufregung, Verunsicherung, Ängste und Ablehnung auslöst, dann geht dies auf das Konto der Politik, die nur zögerlich, ja widerwillig und insgesamt widersprüchlich mit den Verpflichtungen der Konvention umgeht. Dazu gehört auch, dass sie es tunlichst vermeidet, die menschenrechtliche Bedeutung der Konvention anzusprechen.

 

Schulstrukturelle Barrieren und Systemzwänge

Unseren Lehrerinnen und Lehrern wird durch das starre gegliederte Schulsystem, das ausdifferenzierte Förderschulsystem und durch eine versäulte, schulformbezogene Lehrerausbildung beigebracht, dass leistungshomogene Lerngruppen die beste Voraussetzung sind für gute Leistungsergebnisse und für die optimale Förderung der unterschiedlich Begabten. Diese Vorstellung von einem leistungs- und begabungsgerecht gegliederten Schulwesen hat eine lange Bil­dungstradition in Deutschland und hat sich bis heute verfestigt, wie wir alle wissen.

Auch Lehrerinnen und Lehrer, die diese Vorstellung nicht teilen, weil sie einen dynamischen Begabungsbegriff haben, müssen sich an der Herstellung von Homogeni­tät durch Selektion im Schulalltag beteiligen.Dies geschieht über Ziffernnoten, Klassenwiederholung, Abschulung, Förderschulzuweisung, über die ganz normale Aufteilung nach Klasse 4 und über die Aufteilung in E-und G-Kurse in der Gesamtschule. Das System verpflichtet den Lehrer und die Lehrerin zur Selektion.

Die Folgen sind schwerwiegend: Der Frontalunterricht, der sich am sog. „Mittelkopf“ orientiert, hat sich mit der selektiven Schulstruktur als das dominante Unterrichtsmodell herausgebildet. Auch die Angst der Lehrerinnen und Lehrer vor Heterogenität folgt daraus oder umgekehrt: die Sehnsucht der Lehrerinnen und Lehrer nach Homogenität.

Dass die Vorstellung von Homogenität ein Mythos ist, sagt die Alltagserfahrung: Jedes Kind ist anders. Und die Hirnforschung macht deutlich: Es lernt auch individuell. Dass die Leistungsergebnisse ebenfalls nicht rühmlich sind, zeigen uns die internationalen Leistungsvergleiche und die empirischen Untersuchungen zu den Förderschulen. Die Einzelheiten muss ich nicht ausbreiten. Dazu produziert unser Bildungssystem auffällige Bildungsungerechtigkeit.

Inklusion und Selektion vertragen sich nicht. Eine Systemänderung ist unausweichlich, um die paradoxe Situation aufzulösen.

 

Kein Paradigmenwechsel in Sicht

Inklusive Bildung ist nicht identisch mit den Formen des integrativen Lernens, die wir derzeit in unseren Schulen mit einem geringen Integrationsanteil von 20 Prozent bundesweit vorfinden. Es geht nämlich nicht mehr darum, vorab festzustellen, ob ein Kind integrationsfähig ist. Die Frage muss lauten: Ist die Schule inklusionsfähig? Und wenn nicht, was muss sich ändern an den Einstellungen, an der Lern- und Schulkultur und an den personellen, sächlichen und räumlichen Rahmenbedingungen? Das System muss sich den Kindern anpassen.

Zurzeit läuft es aber völlig entgegengesetzt. Weil die Barrieren für eine inklusive Entwicklung nicht offensiv bewusst gemacht und sukzessive abgeräumt werden von Seiten der Schuladministration und der Politik, nehmen Lehrerinnen und Lehrer die neue Anforderung der Inklusion in der Form an, dass sie sie an die institutionellen Vorgaben der Schulen anpassen. Gefangen in der Paradoxie von Auslese und Integration und ohne hinreichendes Wissen über angemessene didaktische und methodische Konzepte reduzieren Lehrkräfte die gemeinsamen Lernsituationen im Unterricht häufig auf das Maß, das sie persönlich noch für machbar halten. Folglich dominieren Formen der äußeren Differenzierung.

Als unvereinbar mit dem Ziel der Inklusion sind Rückstellungen, Klassenwiederholungen und Abschulungen. Tatsächlich würde mit dem bildungspolitischen Verzicht auf diese Selektionsmaßnahmen der entscheidende Schritt zur Auflösung der paradoxen und paralysierenden Situation für Lehrerinnen und Lehrer getan. Der allererste Schritt auf dem Weg zur Inklusion beginnt nämlich nicht mit der Aufnahme von Kindern mit Behinderungen. Er beginnt damit, dass Schulen die Verantwortung für das Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler übernehmen, die sie einmal aufgenommen haben, und diese individuell in ihrer Lernentwicklung unterstützen.

Heterogenität ist normal und „es ist normal, verschieden zu sein“. Vielfalt ist eine Bereicherung. Das gilt es mit Leben zu erfüllen und erfahrbar zu machen. Mit einer Vielfalt der Methoden, Vielfalt der Inhalte, Vielfalt der Lernziele und Vielfalt der Professionen, die in einer Schule zusammenarbeiten. Es geht um die Gestaltung, Unterstützung und Ermutigung von individuellen Lernprozessen, in denen Schüler und Schülerinnen befähigt werden, allein und kooperativ ihre individuellen Lernziele zu erreichen. Man muss keine neue Pädagogik für inklusive Bildung erfinden. Es gibt schon alles, was man in einem inklusiven Unterricht braucht. Nur wird es noch nicht allgemein praktiziert und muss von vielen noch gelernt werden. Der Unterstützungsbedarf der Lehrerinnen und Lehrer ist groß, die Unterstützungsangebote dagegen sind gering.

Solange die bildungspolitische Devise ausgegeben wird, dass es zur Erfüllung der Konvention keiner schulstrukturel­len Veränderung bedarf, solange wird das Menschenrecht auf Inklusion nur ein politisches Lippenbekenntnis bleiben.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2012

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