Im März 2009 ratifizierte die Bundesrepublik Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung. Darin geht es auch um das Recht auf Bildungs-Teilhabe und inklusives Lernen an allgemeinen Schulen, zusammen mit „nicht“ behinderten Schülerinnen und Schülern. Die seitdem auf vielen Ebenen geführte Debatte um den gemeinsamen Unterricht betrifft auch den Religionsunterricht. Dazu sollen im Folgenden einige Stichworte und Thesen formuliert werden.
Der Beitrag des Religionsunterrichts zur Diskussion um inklusiven Unterricht
Religionsunterricht kann sich auf ein Menschenbild beziehen, das den einzelnen Menschen wertschätzt und das Miteinander der Verschiedenen fördert. Seine Inhalte sind auf den ganzen Menschen ausgerichtet und sprechen alle Dimensionen des Menschseins an. (vgl. zum Folgenden Müller-Friese 1996). Damit bietet er grundlegende Orientierung in der Frage nach Einstellungen zu sich selbst und zu anderen und zu Haltungen gegenüber Behinderung und Leistung:
- Jeder Mensch ist ein von Gott gewolltes und geschaffenes Wesen und dadurch einmalig und wertvoll – unabhängig von seiner physischen und psychischen Konstitution, unabhängig von seiner Leistung(sfähigkeit) und unabhängig von sozialem Status und gesellschaftlicher Anerkennung. Diese unantastbare Würde des Menschen ist in Deutschland auch grundgesetzlich verankert.
- Verschiedenheit ist menschlich. Die biblischen Schöpfungsgeschichten zeigen: von Anfang an sind die Menschen zu zweit und in ihrer Verschiedenheit aneinander gewiesen und aufeinander angewiesen. Die Menschen sind auf Beziehung angewiesen zum Mitmenschen, zum Geschlechtspartner und zu Gott (Gen 1,27).
- Die Gemeinde Jesu Christi versteht sich von Beginn an als eine Gemeinschaft der Verschiedenen, die ihre Heterogenität in der Einheit des Glaubens aufgehoben, nicht aber in Einheitlichkeit aufgelöst sieht (Gal 3, 26-28). Das hier gelebte Modell des Zusammenlebens in gegenseitiger Akzeptanz ist ein kritisches Korrektiv gegenüber Machtstrukturen, Ausgrenzung und Unterdrückung von Randgruppen in Kirche und Gesellschaft.
- Zur Identität des Menschen gehört es, Ambivalenzen wahrzunehmen und wahr sein zu lassen. Zum Leben gehören Gelingen und Scheitern, Abbrechen und Aufbau von Beziehungen, Glück und Schuld, Erfolg und Versagen. Genauso steckt in jedem Leben die Sehnsucht nach Überschreiten gegenwärtiger Grenzen, Offenheit und Veränderbarkeit. Der Gedanke der Geschöpflichkeit ist ein kritisches Korrektiv gegenüber jeder Idealisierung von Menschsein und ermutigt ‚dem Traum zu entsagen, mehr als ein Mensch zu sein‘ (Ulrich Bach).
Mit diesen Aspekten kann Religionsunterricht in der Diskussion um Inklusion ein Wächteramt ausüben. Inklusive Bildung ist ein Menschenrecht für alle Menschen. Eine Diskussion, die sich nur auf Konzepte, Strukturen und Methoden beschränkt, greift zu kurz.
Inklusive Religionspädagogik
Inklusiver Religionsunterricht braucht Konzepte, die das Lernen in Vielfalt und auf unterschiedlichen Wegen ermöglichen. Damit steht auch die religionspädagogische Theoriebildung vor neuen Herausforderungen.
Zunächst einmal gilt es Abschied zu nehmen: z.B. von der gymnasialen Engführung religionspädagogischer Konzeptdiskussion; von der Idee und dem Ideal der „7 G“ (alle gleichartigen Kinder haben beim gleichen Lehrer mit dem gleichen Lehrmittel im gleichen Tempo das gleiche Ziel zur gleichen Zeit gleichgut zu erreichen); von der Textlastigkeit und kognitiven Beschränkung vieler Unterrichtsentwürfe und Materialien. Ob und wieweit die bisher geltende konfessionelle Trennung einem auf Heterogenität basierenden Unterricht noch angemessen ist, muss zumindest überlegt werden.
Dennoch muss sich inklusive Religionspädagogik nicht von Grund auf neu erfinden, sie kann auf vorhandene religionspädagogische Konzepte und Methoden zurückgreifen und daran anknüpfen. Eine umfangreiche Sammlung religionspädagogischer Methoden für den inklusiven Religionsunterricht, die das „Miteinander der Verschiedenen“ und ihren gemeinsamen Lernprozess gezielt unterstützen, bietet Wolfhard Schweiker in der „Arbeitshilfe Religion Inklusiv, Basisband I“ (Stuttgart 2012, Seite 45ff). Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind exemplarisch zu nennen: Symboldidaktik, Elementarisierung, performativer Religionsunterricht, Kirchen- und Sakralraumpädagogik, Jeux Dramatiques, Godly Play, Religionspädagogische Praxis (RPP), Bewegter Religionsunterricht. Dazu kommen Erzählkonzepte, die auf die Beteiligung aller Sinne ausgerichtet sind. Alle diese Ansätze betonen den Blick auf den ganzen Menschen, stellen Erfahren, Erleben und Handeln neben oder vor Reflektieren und Nachdenken.
Die „inklusive Herausforderung“ besteht nun darin, auf der Grundlage und mit Hilfe dieser und anderer Ansätze eine Konzeption zu entwickeln, die die Heterogenität der Lerngruppe von Anfang an positiv und kreativ berücksichtigt.
Dazu auch hier nur einige Stichworte:
Kompetenzorientierung ist an den Bildungsgängen der unterschiedlichen Schularten auszurichten. Dies kann z.B. durch die Erstellung einer Synopse der Bildungs-/ Lehrpläne geschehen, bei der für alle zu erreichende Kompetenzen ebenso wie besondere, individuelle Anforderungen in den Blick kommen.
Kompetenzen werden nicht im Sinne von Standards verstanden, sondern als Kompetenzspektrum formuliert. Damit wird angegeben, welche Kompetenzen an welchem Inhalt/ Baustein/Material zu erreichen sind. Welche Kompetenzen in diesem Rahmen von konkreten Schülerinnen und Schülern tatsächlich erworben werden (können), hängt von deren individuellen Lernmöglichkeiten und Förderbedarfen ab.
Lernzieldifferentes Arbeiten ist sowohl in Richtung auf die Bildungspläne der Förderschulen zu denken und zu planen, als auch bezogen auf unterschiedlich anspruchsvolle Anforderungen der Bildungspläne der allgemeinen Schulen. Damit ist auch die Förderung von Hochbegabungen möglich und erwünscht. In heterogenen Lerngruppen können und sollen nicht alle das Gleiche lernen, jeder wird aber entsprechend seinen individuellen Fähigkeiten gefördert und gefordert.
Binnendifferenzierung ist ebenso unverzichtbar wie die Erfahrung von Gemeinsamkeit.
Lernen geschieht auf mehrdimensionalen Aneignungswegen (vgl. Arbeitshilfe Religion Inklusiv I, Seite 41ff). Kurz gefasst lassen sich vier Zugangsweisen benennen, die bei der Planung und Durchführung von Unterricht zu berücksichtigen sind. Sie werden am Beispiel der Entfaltung von Psalm 91,2 erläutert (nach Anita Müller-Friese, Arbeitshilfe Religion Inklusiv Band II, erscheint im Mai 2012): Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.
• Basal-perzeptive Zugangsweisen stehen jedem Menschen zur Verfügung. Sie sprechen im Besonderen die sinnliche Wahrnehmung an. Die Schülerinnen und Schüler nehmen sich selbst und die umgebende Welt wahr, indem sie fühlen, schmecken, riechen, hören, sehen und spüren. Auch die Bewegung (sich selbst bewegen und bewegt werden) und die vibratorische Wahrnehmung sind basale Formen des Kennenlernens und der Erkundung der Umgebung und können als Wege der Aneignung angeboten werden.
- Ein Schüler sitzt oder liegt in der Mitte unter einem großen Schirm. Einige Schüler sitzen um ihn herum, halten ihre Hände wie einen schützenden Schirm über ihn und sprechen gemeinsam das Psalmwort (evtl. in leichter Sprache1).
- Die Schülerinnen und Schüler fahren oder gehen im Regen mit einem Schirm spazieren. Einige sagen dabei den Vers auf.
- Die Schülerinnen und Schüler sitzen bei großer Hitze unter einem Schirm und hören auch in dieser Situation den Text des Psalms.
• Konkret-handelnde Zugangsweisen ermöglichen den Schülerinnen und Schülern, sich selbst und die sie umgebende Welt durch aktives Tun und Handeln zu erkunden und kennenzulernen. Im konkreten Umgang mit Personen und Dingen erleben und erforschen sie ihre Umwelt und eignen sich dabei praktische Fähigkeiten an. Sie lernen auch, sich nach sozialen Regeln zu verhalten.
- Die Schülerinnen und Schüler experimentieren mit einem großen Regenschirm und finden heraus: wie müssen wir den Schirm halten, damit er zu dem Psalm passt? Wie müssen wir uns verhalten, damit möglichst viele von uns unter dem Schirm Platz finden?
• Anschaulich-modellhafte Zugangsweisen knüpfen an die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler an, eine Vorstellung von sich selbst zu entwickeln und sich von der Welt, von Ereignissen und Personen und Gegenständen ein „Bild“ zu machen. Sie verwenden dafür anschauliche Darstellungen, Modelle oder andere sinnlich wahrnehmbare Wege. Im Rollenspiel erproben sie Verhalten, versetzen sich in die Position anderer Menschen und entdecken Lösungen für unterschiedliche Probleme.
- Die Schülerinnen und Schüler basteln einen Schirm und kleben ihn in ihr Heft. Sie malen sich selbst (und andere Menschen) dazu und schreiben den Vers auf die Seite.
- Die Schülerinnen und Schüler wählen Bilder von Schirmen (und /oder) Burgen und erzählen dazu Geschichten von Regen, Sonne, Beschützt-Sein, Angst und Vertrauen.
• Abstrakt-begriffliche Zugangsweisen ermöglichen, die Welt mit Hilfe von Zeichen und Symbolen wahrzunehmen und zu erkunden. Texte erschließen neue Wissensgebiete. Die gedankliche Auseinandersetzung mit Fragen hilft, eigene Lösungswege zu entdecken und sich mit anderen auszutauschen.
- Die Schülerinnen und Schüler vervollständigen angefangene Sätze, z.B.: „Ich vertraue auf Gott, das ist wie wenn ich im Regen unter einem Schirm gehe“ „… ich im kühlen Schatten sitze, wenn die Sonne scheint“ „ich …“
- Die Schülerinnen und Schüler führen ein theologisches Gespräch: „Was bedeutet der Schirm des Allmächtigen?“ „Kann Gott uns beschützen wie ein Schirm oder eine Burg?“
Mit diesen unterschiedlichen Zugängen wird Wirklichkeit unterschiedlich erfahren und wahrgenommen. Darum sind die basalen Erfahrungen für alle Schülerinnen und Schüler grundlegend (nicht nur für Kinder mit kognitiven Einschränkungen!). Darauf aufbauend können dann die anderen Aneignungswege als zunehmende Spezifizierung verstanden werden.
Inklusiven Religionsunterricht planen
In der konkreten Planung und Durchführung des Unterrichts können folgende Aspekte zu einem ausgewogenen Verhältnis von Gemeinsamkeit und individuellen Lernmöglichkeiten beitragen.
- Die strukturierende und gemeinschaftsbildende Funktion von Ritualen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Rituale bieten wiedererkennbare Strukturen, die jeder Schülerin und jedem Schüler das Eintauchen in die Atmosphäre des Unterrichts und des jeweiligen Themas sowie das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Lerngruppe ermöglichen. Schlussrituale gestalten den Abschied von dem Thema, der Gruppe und den Übergang in den weiteren Unterricht. Alle Rituale finden immer in der Gesamtgruppe statt und erlauben die aktive und passive Teilhabe am Geschehen.
- Kooperative Lernformen ermöglichen gemeinsame Lernerfahrungen auf eine andere Weise als die Teilhabe an Ritualen. Jeder Schüler erhält in einer heterogen zusammengesetzten Kleingruppe eine bestimmte Rolle und Aufgabe. Die Ergebnisse der Gruppenaufgaben werden gemeinsam erarbeitet und präsentiert.
- Die notwendige Binnendifferenzierung lässt sich im Unterricht auf vielfältige Weise gewährleisten. Hilfreich sind z.B. Lernstationen und Lernwerkstätten. Hier können die Schülerinnen und Schüler an Aufgaben arbeiten, die ihren Lernvoraussetzungen entsprechen. Partnerarbeit ermöglicht den Austausch über das gegebene Thema und gegenseitige Bereicherung und Unterstützung. Geht dem Arbeiten mit Stationen eine Einführung durch die Lehrkraft voraus, die sich auf alle Sinne bezieht, können die Lernenden auf eine gemeinsame Erfahrung zurückgreifen.
- Projektorientiertes Arbeiten, das über einen längeren Zeitraum geplant wird (auch fächerübergreifend), gibt jedem Schüler die Möglichkeit, mit seinen Begabungen und Möglichkeiten zu dem Ergebnis der Gruppe beizutragen.
Solcher Unterricht gelingt nur, wenn bestimmte Rahmenbedingungen gegeben sind, zu nennen sind unter anderem: Unterstützung der Unterrichtenden durch sonderpädagogische Fachkräfte, angemessene Unterrichtsmaterialien und räumliche Gegebenheiten, Fortbildungsangebote zur Planung und Organisation von inklusivem Lernen, Teamfähigkeit der Lehrkräfte, Einbindung von Religionsunterricht ins Schulprogramm.
Fazit: Inklusiver Religionsunterricht geht von einem Menschenbild aus, das den einzelnen Menschen wertschätzt und das Miteinander der Verschiedenen fördert. Er greift auf religionspädagogische Konzepte zurück, die das Lernen in Vielfalt ermöglichen und auf unterschiedlichen Wegen anbahnen. Seine Inhalte sind auf den ganzen Menschen ausgerichtet und sprechen alle Dimensionen des Menschseins an. Damit leistet er einen unverzichtbaren Beitrag zur inklusiven Schule.
Anmerkung
- Ein Schirm schützt mich vor Regen. Schatten ist gut, wenn es heiß ist. Gott beschirmt mich und schützt mich. Darum bin ich froh. Ich verlasse mich auf Gott. (Zur leichten Sprache vgl. www.lebenshilfe-bremen.de).
Literatur
- Müller-Friese, Anita: Miteinander der Verschiedenen, Weinheim 1996