Religion entdecken – verstehen – gestalten - Ein Lehrwerk für einen geschlechtersensiblen Religionsunterricht?

von Christiane Rösener

 

Mit dem Beginn von etwas Neuem werden oft große Hoffnungen verbunden. So auch mit einem neuen Schulbuch. Tatsächlich werden mit der Einführung eines Religionsbuches an einer Schule entscheidende Weichen für den Unterricht gestellt: Das Buch vermittelt die Theorie in die Praxis und damit die Theologie in den Unterricht. Seine Texte, Bilder und Aufgaben prägen für viele Jahre den Religionsunterricht einer Schule. Es ist daher nicht übertrieben, ein Religionsbuch als die “Visitenkarte”1 des Religionsunterrichtes zu bezeichnen.

Viele Gymnasien in Niedersachsen weisen sich heute mit dem Lehrwerk “Religion entdecken – verstehen – gestalten” für ihren Religionsunterricht aus. 2008 ist der Band für den Doppeljahrgang 5/6 in zweiter überarbeiteter Auflage erschienen2 und wird nun an vielen Schulen im Unterricht eingesetzt. Was für einen Unterricht ermöglicht dieses neue Buch? Wie “gut” ist es? – Dieser Frage gehe ich im Folgenden nach. Was ist eigentlich ein “gutes” Religionsbuch? Von den vielen Kriterien, mithilfe derer diese Frage beantwortet werden muss,3 wähle ich eines aus – nicht ohne andere zu berühren: das Kriterium der Eignung für einen geschlechtersensiblen Religionsunterricht.

 

Was ist ein “geschlechtersensibler Religionsunterricht”?

Meine folgenden Überlegungen beruhen auf der Grundüberzeugung, dass die Kategorie “Geschlecht” für den Religionsunterricht konstitutiv ist. Wenn wir mit der Geschlechterforschung davon ausgehen, dass Geschlecht nicht primär eine biologische Kategorie ist (sex), sondern es vielmehr sozial konstruiert wird (gender), und wenn wir davon ausgehen, dass alle diesen Prozess der Geschlechterkonstruktion fortwährend interaktiv vollziehen (doing gender), dann kann auch der Religionsunterricht nicht davon ausgenommen werden. Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass unsere Konstruktionen von Geschlecht nicht zufällig oder rein persönlich sind, sondern sich innerhalb eines kulturellen “Systems der Zweigeschlechtlichkeit” (Carol Hageman-White) bewegen, das “weibliche” und “männliche” Eigenschaften von einander unterscheidet und hierarchisiert, d.h. mit klaren Wertungen zugunsten des Männlichen verbindet.4 Innerhalb dieses Systems ordnen wir Menschen aufgrund bestimmter Geschlechterstereotypen einem Geschlecht zu und reduzieren und bewerten damit die Vielfalt möglicher Geschlechterkonstruktionen.

Nachdem lange Zeit die Kategorie Geschlecht in der Religionspädagogik als nicht relevant erachtet wurde, hat sich in den letzten zwanzig Jahren eine Feministische Religionspädagogik5 entwickelt, die zunächst vor allem die Mädchen im Blick hatte, inzwischen aber die Notwendigkeit eines Religionsunterrichtes deutlich macht, der sensibel wird für die Rollenzwänge, Erfahrungen, Perspektiven und Bedürfnisse sowohl der Mädchen als auch der Jungen, da die gegenwärtige Schule beiden nicht gerecht zu werden scheint.6

Auf der Grundlage dieser Überlegungen definiere ich einen geschlechtersensiblen Religionsunterricht als einen Unterricht, der sowohl Mädchen als auch Jungen in ihrer Vielfalt wahrnimmt, ihre unterschiedlichen Geschlechterkonstruktionen zur Sprache bringt und Lernprozesse initiiert, in denen einengende Geschlechterkonstruktionen bewusst und befreiende, vielfältige Konstruktionen in der Auseinandersetzung mit der christlichen Überlieferung ermöglicht werden.7

 

Welche Rolle spielen die Lehrbücher für einen geschlechtersensiblen Religionsunterricht?

Ein Lehrbuch kann durch die Auswahl von Texten und Bildern sowie seine Aufgabenstellungen bestehende Geschlechterstereotypen entweder verfestigen oder thematisieren und öffnen. Eine wichtige Rolle spielen dafür die Vorbilder, die es anbietet. Wie Silvia Arzt aufgezeigt hat, identifizieren sich Kinder und Jugendliche vor allem dann mit Figuren und Personen, wenn sie ihnen in Alter und Geschlecht entsprechen.8 Das heißt nicht, dass sich Kinder gar nicht mit gegengeschlechtlichen Figuren identifizieren, sie tun dies aber in anderem Maße. Helga Kohler-Spiegel führt hierzu aus:

“Auch wenn Jungen und Mädchen sich mit männlichen Helden identifizieren, nehmen sie sehr wohl wahr, welche Rolle dabei die Frauen spielen; es bleibt die Wertung bzgl. des eigenen Geschlechtes. Im Kontext religiösen Lernens heißt das zum Beispiel: Auch wenn Mädchen gerne mit Mose mitfühlen, wissen sie sehr wohl, dass sie selbst Mädchen sind und ihre Rolle nicht die des Anführers sein wird.”9

Sollen sich also sowohl Mädchen als auch Jungen mit den vorgestellten Figuren eines Lehrbuches identifizieren können, müssen die Bücher sowohl weibliche als auch männliche Vorbilder anbieten können. Und sollen durch diese Identifikation nicht nur bestehende Rollen weitertradiert, sondern vielfältige, neue Geschlechtskonstruktionen ermöglicht werden, müssen sowohl alte Rollenbilder problematisiert wie auch vielfältige neue Rollenvorbilder gegeben werden.

 

“Religion entdecken – verstehen – gestalten 5/6”

Aus den dargelegten Gründen möchte ich nun exemplarisch für das Lehrwerk dessen ersten Band10 auf seine Eignung für einen geschlechtersensiblen Religionsunterricht prüfen. Anknüpfend an die bisherige feministische Religionsbuchforschung11 werde ich mich dabei von folgenden Fragen leiten lassen:

  1. Welche Bibelstellen, Texte und Bilder werden ausgewählt? Zeigen sie Mädchen/Frauen und Jungen/Männer, und wenn ja, wie? Tradiert die Darstellung Rollenklischees oder bricht sie sie auf?
  2. Werden Geschlechterdifferenzen angesprochen, Stereotypen bewusst gemacht, thematisiert und zu überwinden versucht?
  3. Ermöglichen Material (Bilder, Texte und Lieder) und Aufgabenstellungen vielfältige Zugänge und bieten sie unterschiedliche Anknüpfungspunkte sowohl für Jungen als auch für Mädchen?
  4. Werden Ansätze aus der feministischen Theologie bzw. Religionspädagogik mit einbezogen?

 

1. Mädchen und Frauen sind auf der Ebene der Geschichten und Arbeitsanweisungen gut repräsentiert, werden aber wenig als biblische oder historische Protagonistinnen erkennbar.
Mädchen und Frauen kommen in diesem Buch neben Jungen und Männern vor – wenn auch nicht an erster Stelle: Das Buch enthält kein Kapitel, in dem eine einzelne (biblische) Frauenfigur oder die Situation von Mädchen in den Mittelpunkt gestellt würde. Ebenso wenig erscheint der Name einer Frau in einer Kapitelüberschrift. Mädchen und Frauen sind aber sowohl in den Bildern, als auch in den Geschichten, Bibeltexten und Arbeitsanweisungen präsent. – Betrachten wir zunächst einmal die Bilder. Das Buch enthält viele Kunstdrucke, die in großer Zahl (zumeist biblische) Figuren zeigen. Während bei zahlreichen Abbildungen ein Mann im Zentrum steht, machen lediglich auf vier Bildern eine oder mehrere Frauen das Zentrum aus.12 Dieses Ungleichgewicht entspricht zum Teil der Auswahl von Themen und Texten (s. u.), zum Teil geht es aber darüber hinaus.13

Noch stärker ist das Ungleichgewicht bei den Fotos, die durchgängig Männer bzw. Jungen zeigen. So werden etwa in dem Kapitel über das Judentum Fotos von vier jüdischen Jungen gezeigt – und keines von einem Mädchen. Da Fotos den stärksten Grad an unmittelbarer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit haben und bei der Übereinstimmung von Geschlecht und Alter mit den Lesenden besonders zur Identifikation einladen, stellt die Abwesenheit von Mädchenfotos eine Lücke im Identifikationsangebot für Schülerinnen dar.

Ganz anders hingegen ist das Verhältnis von Jungen und Mädchen bei den illustrierenden Zeichnungen, vor allem bei denjenigen, die auf den Methodenseiten angefertigt sind. Hier ist das Verhältnis in jeder Hinsicht ausgewogen: Es gibt lesende Mädchen und Jungen und auch gemischtgeschlechtliche Gruppen, die jeweils den Aufforderungs­charakter der Seite verstärken.

Bei den Texten lässt sich eine ähnliche Tendenz feststellen: In den (literarischen) Geschichten sind Mädchen und Jungen relativ ausgewogen repräsentiert. Ebenso ist es in den Arbeitsanweisungen: Dort wird durchgängig entweder die zweite Person oder in Bezug auf die Mitschülerinnen oder Partner inklusive Sprache benutzt. Anders sieht es bei den Autorinnentexten aus, in denen beispielsweise historische Hintergrundinformationen zum Neuen Testament vermittelt werden. Hier spielen Frauen und Mädchen oft kaum eine Rolle. Die Rede ist – da man sich offenbar jenseits der Arbeitsaufträge gegen die inklusive Sprache entschieden hat – z. B. von “den Römern”, “den Christen”, “den Pharisäern und Sadduzäern” und “den Freunden Jesu”. Obwohl hier zum Teil durchaus Frauen mitgemeint sein könnten (es gab ja durchaus Jüngerinnen und Pharisäerinnen!), baut sich ohne deren explizite Erwähnung kein Bild vor den Augen der Kinder auf, das Frauen einschließen würde. An einzelnen Stellen werden Frauen durch diese Sprachregelung sogar explizit ausgeschlossen.14

Ein quantitatives Missverhältnis besteht auch bei der Auswahl der biblischen Texte: erwähnt werden Eva, Maria, Mirjam und die Tochter des Pharaos. Im Mittelpunkt eines Textes stehen allein Sara und Hagar. Sonst sind Frauen kaum repräsentiert. Besonders auffällig ist die Abwesenheit biblischer Frauengeschichten in dem Jesuskapitel. Hier er­scheint nur ein einziges Gleichnis mit einer Protagonistin (das Gleichnis vom Sauerteig).15 Demgegenüber sind 29 Bibelstellen aufgenommen, in denen Männer vorkommen. Ähnlich ist es in dem Kapitel über die Apostelgeschichte. Dadurch, dass als Übersetzung die revidierte Lutherbibel, bzw. die Gute Nachricht verwendet wurde und nicht die Bibel in gerechter Sprache, werden Frauen auch sprachlich dort nicht sichtbar, wo sie nicht im Mittelpunkt stehen, aber durchaus mitgemeint sind.

 

2. Die Art der Darstellung von Mädchen/Frauen und Jungen/Männern bietet verschiedene Identifika­tionsangebote, die jedoch bei den biblischen Frauen­gestalten nicht ganz ausgeschöpft werden.
Bei einer qualitativen Untersuchung der Geschichten und Bilder lässt sich wiederum auf der Ebene der Geschichten bzw. der Arbeitsaufträge feststellen, dass es viele verschiedene weibliche und männliche Identifikationsfiguren gibt. Jungen erscheinen sowohl aggressiv als auch kumpelhaft, nachdenklich, ernst, ängstlich und versorgend. Sie kennen sich, ebenso wie ihre Väter und Großväter, mit religiösen Traditionen aus und sind auch selbst religiös. Auch Mädchen sind in diesem Buch religiös kompetent, spielen Fußball, streiten sich, sorgen sich um ihre Figur und philosophieren. Zuweilen wird sogar deutlich gängigen Stereotypen entgegengearbeitet, wenn beispielsweise ein Vater sein Kind tröstet, wenn es Angst hat, oder ein Mädchen bei der Internetrecherche abgebildet ist. Lediglich bei einer Aufgabenstellung finden wir ein gängiges Geschlechterstereotyp.16

Was die Bibelstellen angeht, so bewegen sich die Erzählungen von Abraham, Noah, Mose, den Aposteln und Jesus unvermeidlicherweise im androzentrischen Rahmen der biblischen Tradition, der allerdings immer wieder auch von befreienden Elementen durchbrochen wird. Beide Stränge zeigen sich auch hier: Da ist Moses, der sich am brennenden Dornbusch als schlechter Redner zu erkennen gibt. Und da ist der unerschrockene Abraham, der bereit ist, seinen eigenen Sohn zu schlachten. Auch die wenigen Bibelstellen, in denen Frauen sichtbar werden, haben das Potential, Geschlechterstereotypen zu durchbrechen, das durch die nacherzählten Texte und deren Illustration jedoch nicht immer klar hervortritt. So wird zwar Mirjam gezeigt, wie sie ihr Volk mit einem revolutionären Lied zur Pauke anführt. Die Texte von Sara und Hagar und das Gleichnis vom Sauerteig fallen aber hinter dieser Klarheit zurück. Das befreiende Potential dieser Texte liegt darin, dass hier typisch weibliche Tätigkeiten aufgewertet werden: die knetende Frau wird zum Gleichnis für das Reich Gottes, der Sklavin erscheint ein Engel Gottes, der sie in ihrem Leid wahrnimmt. Die Texte des Buches heben jedoch diese Aufwertung nicht hervor. Die nacherzählte Geschichte legt den Fokus auf Hagar als Opfer17 und stellt Ismael anstelle von Hagar als bedeutungsvoll für den Islam heraus.18 Auf die frauenbefreiende Dimension des Gleichnistextes wird weder im Werkbuch noch in einer Aufgabenstellung hingewiesen.

 

3. Differenzen von Männern und Frauen bzw. von Mädchen und Jungen werden nicht thematisiert, Geschlechterrollen werden nicht problematisiert.
Den Differenzen der Geschlechter ist ebenso wie den Frauen oder Männern bzw. den Mädchen oder Jungen selbst (s.o.) kein eigenes Kapitel und keine eigene Seite gewidmet. Sie sind in keinem Text und in keinem Bild zentrales Thema. Unterschiedliche gesellschaftliche Rollen oder Positionen der Geschlechter werden nicht sichtbar. Mögliche Differenzen zwischen Mädchen und Jungen kommen ebenfalls nicht zur Sprache.19 Einengende Geschlechterrollen werden nicht problematisiert. Insgesamt ist das Buch getragen von der Tendenz, die Differenzen zwischen den Ge­schlechtern unsichtbar zu machen. Dies zeigt sich beispielsweise in den Sachtexten. So berichtet etwa der Text von der römischen Besatzung in Israel, dass “Handwerker, Hirten, Fischer, kleine Bauern und Händler” für die Verschwendung der Römer aufkommen mussten. Wie sich das Leiden unter der römischen Besatzung auf die Frauen auswirkte, die gesellschaftlich in anderer Position und mit anderer Rolle arbeiteten, wird nicht erwähnt. Auch in zahlreichen erzählenden oder lyrischen Texten bleibt das Geschlecht der Ich-Erzählerin oder des Ich-Erzählers verborgen. Da das “Ich” meist keinen Namen nennt, könnte es sich bei vielen Texten sowohl um einen erzählenden Jungen als auch um ein Mädchen handeln.

Bei vielen der auf den Bildern dargestellten Personen ist es ebenfalls nicht möglich, klar ein Geschlecht zu identifizieren: so etwa bei den Strichmännchen von Keith Haring oder Charley Case oder bei einer Kinderzeichnung. An wenigen Stellen werden Unterschiede zwischen den Geschlechtern zwar erwähnt, aber nicht weiter erklärt oder problematisiert: So räumt ein Zusatzmaterial in dem Werkbuch den Frauen unter der Überschrift “Menschen im Alltag Jesu” einen eigenen Abschnitt ein.20 Ein Junge berichtet davon, dass Frauen und Männer in der Synagoge getrennt sitzen, erwähnt werden die Frauen am Kreuz Jesu. An keiner Stelle aber werden diese Differenzen in einer Aufgaben­stellung vertieft. Hier wird nur ein einziges Mal explizit dazu angeleitet, auf theologischer Ebene über Geschlechterdifferenzen nachzudenken.21 Beispiele dafür werden jedoch nicht gegeben. Biblische Texte, in denen Gott mit weiblichen Metaphern identifiziert wird, fehlen.

 

4. Die Texte, Bilder und Arbeitsaufträge ermöglichen vielfältige Zugänge für alle Schülerinnen und Schüler.
Das Buch enthält viele verschiedene Materialien. Es enthält zahlreiche, vor allem künstlerische Bilder, die großformatig und ohne Deutungen dargeboten werden,22 Lieder und authentische Texte, die sich um die Enthaltung einer Wertung bemühen. Es wird direkt und ohne Kommentar aus dem jüdischen Gebetbuch oder aus der Bibel zitiert. Nur dort, wo Geschehnisse zusammengefasst werden oder das Original zu schwierig ist, werden Texte nacherzählt. Hintergrunds- und Überblickstexte sind selten. Diese Auswahl und Präsentation der Materialien ermöglicht vielfältige Zugänge, die von den Lehrenden frei gewählt werden können und so sehr verschiedene Jungen und Mädchen ansprechen können. Diese Offenheit wird auch durch zahlreiche Aufgabenideen unterstützt, die sowohl die Selbstständigkeit als auch das gemeinschaftliche Lernen anregen. Klassische Aufträge, wie etwa die Bildbeschreibung oder die Recherche, finden sich neben kreativen Aufgaben (Geschichten erzählen, Theater spielen, einen Brief schreiben). Es finden sich Anregungen zu längerfristigen Projekten, Aufgaben zum Hören, Singen und Malen, kurz: sehr verschiedene Aufgaben, die sehr verschiedene Lerntypen und Interessen ansprechen.

 

“Religion entdecken – verstehen – gestalten 5/6”: geeignet für einen geschlechtersensiblen Religionsunterricht?

In meiner abschließenden Bewertung des Buches greife ich mit Faulstich-Wieland23 auf die Unterscheidung zwischen der Dramatisierung von Geschlechterunterschieden (deren Hervorhebung und Thematisierung) und ihrer Entdramatisierung (das Zurückstellen der Kategorie Geschlecht zugunsten des Individuums) zurück. Dabei gehe ich wie sie davon aus, dass eine ausgewogene Balance beider Prozesse wünschenswert ist, da eine einseitige Dramatisierung stereo­type Zuschreibungen verfestigen kann. Die einseitige Entdramatisierung läuft jedoch Gefahr, strukturelle Ungleichheiten in Geschichte und Gegenwart zu übersehen.

So möchte ich meine Bewertung des Buches auf folgende Formel bringen: Das Buch entdramatisiert Geschlechterunterschiede und bietet daher breite Identifikationsmöglichkeiten für Jungen und Mädchen, es dramatisiert sie jedoch an kaum einer Stelle und trägt so nicht zu einer bewussten Auseinandersetzung mit Ungleichheiten und möglichen Geschlechterunterschieden und damit zu deren Transformation bei.

Die Entdramatisierung der Kategorie Geschlecht zeigt sich beispielsweise in den Texten, die in der ersten Person erzählen, die geschlechtlich nicht klar zugeordnet werden kann. Hier kann sich jede und jeder – jenseits von Geschlechterstereotypen – mit jeweils den Erfahrungen identifizieren, die mit dem eigenen Leben in Verbindung stehen. Sie zeigt sich auch in den vielfältigen Materialien und Arbeitsaufträgen, in der Bebilderung der Arbeitsaufträge, in der inklusiven Ansprache der Mädchen und Jungen sowie in der bildlichen Darstellung vieler geschlechtsneutraler Figuren, die sowohl Mädchen als auch Jungen zur Identifikation einladen sollen.24

Eine Dramatisierung der Kategorie Geschlecht findet dagegen nicht statt. Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden kaum angesprochen und fast gar nicht problematisiert. Gesellschaftliche Ungleichheiten (z.B. zur Zeit Jesu oder in den christlichen Kirchen heute) und mögliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern werden nicht bewusst gemacht und können so weder kritisiert noch verändert werden. Dieser Nichtthematisierung von Geschlechterdifferenzen scheint die Annahme zugrunde zu liegen, dass es auch möglich ist, Glaube und Wirklichkeit zu denken, ohne zu reflektieren, wie diese Gedanken durch die eigene geschlechtliche Erfahrung bestimmt sind. Dass dies jedoch kaum möglich ist, zeigt sich meines Erachtens auch auf der Ebene der Konzeption des Buches: Wenn auch auf der Ebene der Heranwachsenden die Geschlechter ausgewogen repräsentiert sind, so werden Frauen jedoch auf der historischen und biblisch-theologischen Ebene weitgehend ausgeblendet. Das liegt m.E. daran, dass Forschungsergebnisse der Feministischen Theologie (etwa die Rolle der Frauen in der Jesusbewegung, die Problematik einer androzentrischen Überlieferungs- und Auslegungsgeschichte der biblischen Texte etc.) in die theologische Konzeption nicht eingegangen sind. Das Ziel der Herausgeber, ein Lehrbuch zu machen, das “gegen Einseitigkeiten aller Art immunisiert”,25 scheint mir an diesem Punkt nicht eingelöst. Durch die fehlende Dramatisierung der Kategorie Ge­schlecht wird hier die Chance vertan, mit dem Lehrbuch theologische Anstöße zu geben, die auch Mädchen zur Identifikation einladen, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern thematisieren und Rollenstereotypen aufbrechen helfen.

Eignet sich nun das Lehrbuch für einen geschlechtersensiblen Religionsunterricht? Es enthält wichtige Bausteine dafür, ist jedoch in anderer Hinsicht ergänzungsbedürftig. Für eine dritte Auflage, die ich dem Lehrwerk wünsche, möchte ich daher folgende Diskussionsanregungen geben. Zu wünschen wären

  1. die Einarbeitung von weiteren biblischen Frauengestalten (in Text und Bild),
  2. das Aufzeigen und Problematisieren von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in Geschichte und Gegenwart,
  3. mehr Mut zur (Anleitung zur) Reflexion über einengende und befreiende Geschlechterkonstruktionen auf Ebene der Schülerinnen und Schüler und in der Theologie.

 

Anmerkungen

  1. Pithan, 421.
  2. Koretzki, Gerd-Rüdiger/Tammeus, Rudolf (Hgg.): Religion entdecken – verstehen – gestalten,    Göttingen 22008.
  3. Vgl. hierzu z.B. die Kriterienliste von Hahn.
  4. Vgl. hierzu Wischer, 148.
  5. Einen einführenden Überblick gibt www.theo-web.de/zeitschrift/ ausgabe-2003-02.
  6. Vgl. Schweitzer/Kohler-Spiegel, 362.
  7. Vgl. hierzu auch Riegel/Ziebertz, die die Anforderungen an einen solchen Unterricht ausführen.
  8. Vgl. Arzt, 69.
  9. Kohler-Spiegel,167.
  10. Ich beziehe mich hier wie im Folgenden auf das Lehrbuch und den Materialband, nicht auf die CD mit den Arbeitsblättern.
  11. Zur Einführung vgl. Volkmann (2004) und Heß/Janowski.
  12. Gezeigt werden Mirjam, die Samaritanerin am Brunnen, Hagar, sowie ein Bild zweier Frauen.
  13. So gibt es zwar zwei Texte, die Hagar in den Mittelpunkt stellen, aber nur einer wird von einem Bild von ihr begleitet. Der zweite Text zeigt ein Foto von muslimischen Pilgern, dessen Zusammenhang zu Hagar nicht deutlich wird.
  14. Z.B. berichtet ein erzählender Text, dass Jesus nicht nur mit seinen Freunden, sondern auch mit Zöllnern, Kranken und Frauen Abendmahl feierte, was impliziert, dass Frauen nicht zu seinen Freunden gehörten.
  15. Es hätte hier sowohl weitere Gleichnisse wie auch Heilungsgeschichten mit Protagonistinnen gegeben.
  16. So lautet ein Arbeitsauftrag: “‚Bei dem Lied muss ich immer heulen`, sagt die Mutter eines Schülers. Versetze dich in ihre Lage und beschreibe, wie sie das Bild versteht.” Religion entdecken – verstehen – gestalten, 19.
  17. Dies zeigt sowohl die Zeichnung der verzweifelten Hagar als auch die Formulierung der Kompetenz: “Ich kann Hagars Not und Saras Bitterkeit beschreiben.” Religion entdecken – verstehen – gestalten, 56.
  18. So wird die Kompetenz formuliert: “Ich kenne die Bedeutung von Hagars Sohn Ismael für den Islam.” Ebd. Dabei ist Hagars Lauf um die Suche nach Wasser bis heute fester Bestandteil der Pilgerfahrt nach Mekka.
  19. Dies wäre z.B. beim Thema Mobbing möglich gewesen, das hier ausschließlich aus weiblicher Sicht beschrieben wird.
  20. Die Darstellung ihres Lebens reduziert sich allerdings auf Hausarbeit und ihre Benachteiligung, während die Stärken, die Frauen gerade auch in die Nachfolgegemeinschaft um Jesus eingebracht haben, nicht erwähnt werden.
  21. Anknüpfend an das Gespräch von Kindern über Gott wird die Frage gestellt, was sich verändert, wenn Gott mit weiblichen Formen bezeichnet wird.
  22. Dies ist expliziter Teil des Konzeptes. Vgl. Koretzki/Tammeus, 5.
  23. Vgl. Faulstich-Wieland, Bildung, 9.
  24. Ob die Bilder dies allerdings tun, erscheint mir auf dem Hintergrund der Forschung von Silvia Arzt fraglicher, als dass bei den Texten der Fall ist. Lädt eine bildlich dargestellte Figur ohne klares Geschlecht alle oder niemanden zur Identifikation ein? – Die Frage bleibt für mich offen.
  25.  Koretzki/Tammeus, 6.

 

Literatur

  • Andres, Dagmar: Die vergessene Weiblichkeit. Sexistische Einflüsse in Unterrichtswerken für den katholischen RU der Sekundarstufe I, in: Katechetische Blätter 113 (1988b), 904-910.
  • Arzt, Silvia: Frauenwiderstand macht Mädchen Mut. Die geschlechtsspezifische Rezeption einer biblischen Erzählung, Innsbruck, Wien 1999.
  • Hahn, Matthias: Religionsbücher, in: Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik, hg. v. Harry Noormann, Ulrich Becker, Bernd Trocholepczy, Stuttgart 32007, 316-319.
  • Heß, Ruth/Janowski, J. Christine: Die Irritation der Irritation? Zum “Genderbewusstsein” im Religionsschulbuch und in systematisch-theologischen Lehrerkompendien, in: ZPT 3/05, 244-249.
  • Faulstich-Wieland, Hannelore: Geschlechteraspekte in der Bildung, Expertise für die Bundeszentrale für Politische Bildung, Dezember 2003, www.bpb.de/files/55B5YQ.pdf, 1-11, abgerufen am 20.8.2009.
  • Kohler-Spiegel, Helga: Gender im Religionsunterricht – Mädchen/Jungen im Religionsunterricht, in: JRP 18 (2002), 157-170.
  • Koretzki, Gerd-Rüdiger/Tammeus, Rudolf: Vorwort der Herausgeber, in: Werkbuch Religion entdecken – verstehen – gestalten. Materialien für Lehrerinnen und Lehrer, 5./6. Schuljahr, Göttingen 2006.
  • Pithan, Annebelle: Religionsbücher geschlechtsspezifisch betrachtet. Ein Beitrag zur Religionsbuchforschung, in: EvErz 45 (1993) 421-435.
  • Riegel, Ulrich/Ziebertz, Hans-Georg: Mädchen und Jungen in der Schule, in: Hilger/Leimgruber/Ziebertz, Religionsdidaktik, München 2001, 361-372.
  • Schweitzer, Friedrich/Kohler-Spiegel, Helga: Wie geht es weiter mit Religionspädagogik und Gender?, in: ZPT 4/04, 361-365.
  • Volkmann, Angela: “Ebenso...”? – Aktuelles Unterrichtsmaterial auf dem Prüfstand der Geschlechtergerechtigkeit, in: theo-web 2003, Heft 2, 2. Jg, 39-52.
  • Volkmann, Angela: “Eva, wo bist du?” Die Geschlechterperspektive im Religionsunterricht am Beispiel einer Religionsbuchanalyse zu biblischen Themen, Würzburg 2004.
  • Wischer, Mariele: Differenzen im Paradies. Aspekte einer geschlechtergerechten Bibeldidaktik in Theorie und Praxis, in JRP 23 (2007) 146-155.
  • Zeit der Freude, hg. von Werner Trutwin, Düsseldorf 2006.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2010

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