Auf dem Weg zu mehr Bildungsgerechtigkeit? Zum Zusammenhang von Schulreform und Schulstruktur*

Friedhelm Kraft

 

Vor kurzem erzählte mir eine befreundete Kollegin von den Schulsorgen ihrer Tochter. „Ich möchte nicht in die dritte Klasse versetzt werden. Da geht es ja nur um Noten“, so die Aussage der Tochter, die bis dahin mit Freude und Begeisterung die ersten beiden Schuljahre gemeistert hat. Eigentlich muss sich das Mädchen um ihre Noten keine Sorgen machen: Sie liest mit großer Begeisterung, sprachlicher Ausdruck und mathematisches Verständnis sind tadellos und erste Musikstücke werden bereits vom Blatt gespielt. Es stimmt der familiäre Hintergrund für eine Bildungskarriere und natürlich das Geschlecht. Der Weg zum Abitur ist also vorprogrammiert. Vermutlich ist das dem Mädchen durchaus bewusst. Denn die World Vision Kinderstudie vom Herbst letzten Jahres hat eines in erschreckender Weise deutlich gemacht: Kinder haben bereits eine klare Vorstellung, ob sie zu den Bildungsverlierern bzw. Bildungsgewinnern gehören. Schon im Alter von zehn Jahren glauben in Deutschland viele Kinder nicht mehr an ihre Chance. Während Kinder aus der oberen Mittelschicht zu 68% und Kinder aus der Oberschicht sogar zu 81% das Gymnasium oder das Abitur als Bildungsziel benennen, können sich nur 20% der Kinder aus der Unterschicht vorstellen, mit Abitur die Schule zu verlassen. 1 Die Studie bestätigt damit aus der Perspektive von Kindern nur das, was spätestens seit Pisa 2000 jeder weiß: Erfolgreiche Teilhabe an Bildung ist im deutschen Schulsystem im hohen Maße durch die soziale Herkunft bestimmt.

Dennoch hat die Debatte um eine bildungsgerechte Schulstruktur noch längst nicht alle Kultusministerien erreicht. Nach den ernüchternden, wenn nicht gar schockierenden Rückmeldungen internationaler Vergleichsuntersuchungen zum Leistungstand deutscher Schülerinnen und Schüler in ausgewählten Bereichen ist viel im deutschen Schulwesen geschehen, aber unter einer Bedingung: Die Frage der Schulstruktur wird als Handlungsfeld schulischer Qualitätssicherung- und weiterentwicklung ausgeklammert, sie ist nicht einmal als Fragestellung von Relevanz und wird auch zuletzt in den „Gemeinsamen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung“ vom März des Jahres sorgfältig ausgespart. 2

Dennoch geraten die Strukturen der allgemeinbildenden Schule unter einen immer stärker werdenden Veränderungsdruck. Und dieser Druck wird noch erhöht durch Beiträge aus Bereichen, die in der Vergangenheit nicht zur Speerspitze von Strukturreformen im Schulsystem gehörten. So setzt sich das Handwerk in Baden-Württemberg für eine längere gemeinsame Schulzeit ein und spricht sich für eine 9-jährige Basisschule aus. 3 Und auch aus dem Raum der Evangelischen Kirche melden sich Stimmen zu Wort: Die Initiative aus der westfälischen Landeskirche „Länger gemeinsam lernen“ ist in Nordrhein-Westfalen auf eine beeindruckende Resonanz gestoßen.

Bevor ich auf Perspektiven aktueller Schulreform zu sprechen komme, möchte ich in drei Schritten den Begründungszusammenhang laufender Strukturdebatten skizzieren:

 

Pisa und die Frage der Bildungsgerechtigkeit die Krise der Hauptschule demografische Veränderungen und Schulreform

Pisa und die Frage der Bildungsgerechtigkeit

Die Erfassung von Schülerkompetenzen im Rahmen von PISA (Programme for International Student Assessment) startete im Drei-Jahres-Zyklus in den Jahren 2000, 2003 und 2006 und war die bislang umfassendste Leistungsvergleichsuntersuchung in Deutschland. Untersucht wurden mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung Schülerkompetenzen in den Domänen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften bei 15-jährigen Schülerinnen und Schülern. 4

Ohne auf Einzelergebnisse im Detail eingehen zu können, lässt sich sagen, dass die öffentliche Diskussion von zwei wesentlichen Momenten bestimmt wird: Einerseits wird das nur mäßige bis unterdurchschnittliche Abschneiden der deutschen Schülerleistungen beklagt, andererseits ist der Zusammenhang von Schulerfolg und sozialer Herkunft in wenigen Ländern so ausgeprägt wie in Deutschland. Im Blick auf die vergleichende Untersuchung von Lesekompetenzen kommt PISA 2000 zu dem Ergebnis:

„Deutschland und die Schweiz sind die beiden Länder mit den größten Unterschieden in der Lesekompetenz von Jugendlichen aus höheren und niedrigen Sozialschichten. (…) Selbst die Vereinigten Staaten, die immer wieder als Beispiel für große soziale Disparitäten in den Bildungschancen angeführt werden, weisen zwar beträchtliche, aber signifikant niedrigere sozial bedingte Leistungsunterschiede auf.“ 5

Insgesamt erreichten in Deutschland fast 10 Prozent der 15-Jährigen bei der Lesekompetenz nicht die Kompetenzstufe I. Weitere 12,7 Prozent der untersuchten Schülerinnen und Schüler befanden sich auf der Kompetenzstufe I. 6 Auch die Folgestudien zeigten begrenzte Fortschritte: Waren es bei PISA 2000 fast 23 Prozent an Schülern, deren Lesekompetenzen als unzureichend für eine Bildungs- und Berufskarriere gewertet wurden, so waren die Veränderung bei PISA 2003 mit 22 Prozent statistisch ohne Bedeutung, während PISA 2006 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler zur so genannten „Risikogruppe“ zählt. Damit hat eine tendenzielle Verbesserung stattgefunden, aber immer noch ist die Quote im unteren Leistungsbereich erschreckend hoch: Ein Fünftel der Jugendlichen gelten im Blick auf zukünftige Bildungs- bzw. Berufskarrieren als so genannte „potenzielle Risikoschüler“, deren berufliche Zukunft in Frage gestellt ist bzw. deren Übergang in das Berufsleben mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist.7

Bemerkenswert und von bildungspolitischer Bedeutung ist die Feststellung der PISA-Autoren, dass im internationalen Vergleich eine Entkopplung von sozialer Herkunft und Leistungsvermögen keineswegs mit Einbußen im durchschnittlichen Leistungsniveau verbunden ist. Tatsache ist, dass einige Länder sowohl ein hohes durchschnittliches Leistungsniveau als auch niedrige Leistungsdifferenzen aufweisen. Ein hohes Leistungsniveau in Anwendung der PISA-Kriterien muss also keineswegs mit großen Ungleichheiten einhergehen.

Gleichzeitig belegt PISA den Zusammenhang von Leistungsdefiziten und Milieubedingungen auch in Deutschland: „30 Prozent der Gymnasien haben eine Schülerschaft, die in der Mehrheit der Oberschicht angehört; umgekehrt konzentrieren sich in Sonderschulen und einem Teil der Hauptschulen Kinder sozial schwacher Familien, die dann auch das soziale Gefüge einer Einzelschule bestimmen.“8

Deutschland gehört damit zu den vier Ländern, in denen sich eine überdurchschnittliche Bildungsungleichheit mit unterdurchschnittlichen Leistungen verbindet. Diese Aussage sollte den eigentlichen PISA-Schock ausmachen. Das Ziel von Bildungspolitik, die Verwirklichung der grundgesetzlichen Aufgabe „gleicher Lebensbedingungen“ durch eine gerechte Verteilung der Bildungschancen, hat Deutschland deutlich verfehlt. Eine zentrale Ursache für die soziale Segregation ist die frühe Verteilung der Schülerinnen und Schülern auf unterschiedliche Schulformen. In keinem Land in Europa mit Ausnahme Österreichs werden Kinder so frühzeitig in verschiedene Bildungsgänge aufgeteilt mit der Folge, dass in einem überproportionalen Maße Bildungsverlierer entstehen. Die Schule verstärkt dadurch die Nachteile, die Kinder von zu Hause mitbringen.

Jürgen Baumert, Mitglied des deutschen PISA-Konsortiums, beschreibt die Folgen frühzeitiger Differenzierungen in möglichst leistungshomogenen Lerngruppen wie folgt:

„Je früher Schülerinnen und Schüler auf unterschiedliche Bildungsgänge verteilt werden, desto kürzer wird das Zeitfenster, das für schulische Interventionen zum Ausgleich herkunftsbedingter Leistungsunterschiede zur Verfügung steht, und desto stärker schlagen die sozialschichtabhängigen Lebenspläne, die Eltern für ihre Kinder entwerfen, auf die Übergangsentscheidungen durch … Mit frühen Differenzierungsentscheidungen nehmen, wenn man nichts zusätzlich unternimmt, die sozialen Disparitäten der Bildungsbeteiligung zu.“ 9

Zudem belegen Studien, die das Empfehlungsverhalten von Lehrerinnen und Lehrern am Ende der Grundschulzeit untersuchen, die Benachteiligung von Kindern unterer Sozialschichten bei der Empfehlung der weiterführenden Schulform. Kinder unterer Sozialschichten erhalten bei gleicher Schulleistung seltener eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus privilegierten Elternhäusern. 10 Weiterhin dokumentieren die erheblichen Differenzen bei der Feststellung von Schulformeignungen die Problematik von Schullaufbahnempfehlungen: So erhalten in Niedersachsen 33% der Grundschüler eine Hauptschulempfehlung und 32% eine Gymnasialempfehlung. Diese Quote erscheint auf dem ersten Blick unauffällig. Die Differenzen dieser Empfehlungen in den 47 Verwaltungsbezirken sind aber beträchtlich. Bei der Hauptschule reichen sie von 21% bis 40%, beim Gymnasium von 18% bis 49%. 11

Die Autoren der PISA-Studie sind im Blick auf bildungspolitische Empfehlungen eher zurückhaltend. Deutlich sind aber die Hinweise auf die Notwendigkeit einer gezielteren Förderung bestimmter Schülergruppen, die als „Risikogruppe“ zu den derzeitigen Bildungsverlierern gehören.

 

Die Krise der Hauptschule

„Die Entscheidung ist im Grunde längst gefallen. Die Eltern haben entschieden und der Hauptschule bereits den Todesstoß versetzt“. So kommentierte der „Hellweger Anzeiger“ am 15. Mai 2006 die Bekanntgabe der Schulstatistik in Nordrhein-Westfalen zum Schuljahr 2005/06. 12 In der Tat: Eltern versuchen nach Möglichkeit alles in die Wege zu leiten, damit ihre Kinder nicht auf eine Schulform gelangen, die im öffentlichen Ansehen als Schule der Bildungsverlierer gehandelt wird. Damit sind alle Versuche praktisch gescheitert, das Image der Hauptschule durch Reformen zu verbessern. Überall in Deutschland geht die Zahl der Hauptschüler zurück mit der Folge: „Je geringer der Hauptschulanteil beim Übergang nach der Grundschule ist, desto stärker homogenisiert sich dieser Anteil als Ansammlung von Verlierern und Hoffnungslosen.“ 13 Zu dieser Gruppe zählen insbesondere Jugendliche aus schwierigen Familienzusammenhängen, mit Migrationshintergrund und diejenigen, die im System des gegliederten Schulwesens nach unten weitergegeben wurden.

Gewiss, auch die Hauptschulen in Deutschland zeigen ein vielfältiges Erscheinungsbild und der Brandbrief des Kollegiums der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln vom März 2006 spiegelt die Problemlage nur eines Teils der Hauptschulen wider. Bildungsforscher geben aber immerhin ihren Anteil mit 16 Prozent aller Hauptschulen an.14 Auch wenn Hauptschule nicht gleich Hauptschule ist, bleibt dennoch bestehen, dass es Schülerinnen und Schüler dieser Schulform besonders schwer haben, den Einstieg ins Berufsleben zu schaffen. Nach dem Bildungsbericht 2008 von Bund und Ländern hat jeder zweite Hauptschüler 13 Monate nach Schulabschluss noch keinen Ausbildungsplatz, auch zweieinhalb Jahre nach Verlassen der Schule haben 40 Prozent noch keine reguläre Lehrstelle gefunden. 15 Und es ist wenig verwunderlich, dass die Jugendlichen, die bei der Lesekompetenz besonders schlecht abschneiden, überwiegend Haupt- und Sonderschulen besuchen. 16

Die Grundfrage aber bleibt: Ist es pädagogisch sinnvoll tendenziell problembelastete Schülerinnen und Schüler in einer Schulform zu konzentrieren, die nur noch zehn Prozent eines Jahrganges besuchen und durch das Stigma „Restschule“ noch zusätzlich belastet wird?

Wird also die Realschule die Hauptschule als „Grundbildungsgang“ beerben? Die Diskussion darüber ist längst entfacht und bekommt eine Dynamik, die erst einmal nicht pädagogischen Motiven entspringt.

 

Demografische Veränderungen und Schulreform

Der demografische Wandel macht vor den Toren der Schule nicht halt: In den nächsten Jahren wird sich das Schüleraufkommen in den Eingangsklassen der weiterführenden Schulen insgesamt vermindern. Die Prognosen ergeben insgesamt in den nächsten 10 – 15 Jahren das Bild eines langfristig niedrigen Geburtenaufkommens. 17

Im Blick auf die Hauptschule ist zu erwarten, dass sich in den nächsten Jahren die Zahl der Hauptschüler erheblich verringern wird. Schon jetzt gelten allein 400 der 1000 Hauptschulen in Bayern als gefährdet. 18 Der Rückgang der Schülerzahlen ist schon heute in den Grundschulen sichtbar. So wurde der Rückgang der Grundschüler für das Land Schleswig-Holstein ausgehend von 2004 bis 2010 um 21,5 Prozent und bis zum Jahr 2015 um 22,7 Prozent vorausberechnet. 19 Deutlich wird schon jetzt, dass vor allem Schulen in den ländlichen Räumen die Vorgaben im Blick auf Mindestgrößen nicht mehr erreichen können, auch wenn die Größenordnungen des Schülerrückganges sich regional unterschiedlich auswirken. Vor diesem Hintergrund sorgen sich Kommunen und Landkreise um den Erhalt ihrer Schulen. Die demografischen Veränderungen setzen das gegliederte Schulsystem unter Druck, denn Schulschließungen wären die unvermeidliche Folge der derzeitigen schulrechtlichen und finanziellen Bedingungen. Angesichts dieser Situation stellt sich um so mehr die Frage nach schulstrukturellen Alternativen, die nicht nur zu mehr Standortsicherheit führen, sondern ebenso die Gesichtspunkte Bildungsgerechtigkeit und Abbau sozialer Selektivität berücksichtigen.

 

Alternativen zum gegliederten Schulsystem: der Ansatz der Gemeinschaftsschule

PISA hat die Debatte um Gesamtschulen als Alternative zum gegliederten Schulsystem mit Hinweis auf die integrierten Schulsysteme der PISA-Sieger neu entfacht. Es schien, als ob sich die jeweiligen Lager wieder positionieren würden, die vor mehr als dreißig Jahren die Auseinandersetzung bestimmt haben: Auf der einen Seite die Konservativen, die mit Hinweis auf Begabungsunterschiede und der Notwendigkeit von homogenen Lerngruppen für das gegliederte Schulsystem streiten, während auf der anderen Seite die Linke angesichts der Disparatheit der Bildungsverläufe für die Einführung einer neun Jahre umfassenden integrierten Gesamtschule kämpft. Zum Glück wiederholt sich Geschichte in der Regel niemals völlig. Dies spiegelt ebenso die aktuelle schulpolitischen Debatte wider: Eine „saubere“ Frontenbildung nach ideologischen Lagern scheint überwunden, auch wenn zum Teil altbekannte Argumentationen in der Diskussion mitschwingen.

Ein gewichtiger Faktor ist die – im Blick auf schulpolitische Strukturreformen – eher behutsame Positionierung der Erziehungswissenschaft. Ausgehend von der Tatsache, dass aus den PISA-Daten keine unmittelbaren Handlungsanweisungen schulstruktureller Art abzuleiten sind und auch Gesamtschulen nicht per se soziale Disparitäten ausgleichen können, orientieren sich erziehungswissenschaftliche Voten stärker als zuvor an Ergebnissen empirischer Unterrichtsforschung. 20 In dieser Perspektive ist die Schulstruktur ein gewichtiger Faktor, der aber alleine Leistungsunterschiede nicht erklären kann. 21

Dennoch ist ein Konsens in zweierlei Hinsicht erkennbar: In schulstruktureller Hinsicht wird eine Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre vorgeschlagen, an deren Ende der Übergang in ein zweigegliedertes Schulsystem erfolgt. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler würde das Gymnasium besuchen, der andere Teil würde nur noch eine Schulform besuchen. Eine neue Sekundarschule würde damit die bisherigen Schulformen Hauptschule, Realschule und Gesamtschule ersetzen. Das so genannte „Zwei-Säulen-Modell“ ist als „pragmatische“ Lösung zur Beendigung eines lähmenden Grundsatzstreites um die Gestaltung der Sekundarschule nicht nur in einem Aufruf renommierter Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik vom 22.11.07 vorgeschlagen worden 22, sondern ist Teil der umfangreichen Empfehlungen des ersten Jahresgutachtens 2007 des neu gegründeten „Aktionsrates Bildung“ zum Thema „Bildungsgerechtigkeit“. 23

Mit den Empfehlungen für ein „Zwei-Säulen-Modell“ sind die ostdeutschen Länder zum möglichen Vorbild der „alten“ Bundesländer geworden, da hier das zweigliedrige Schulsystem von Anfang an eingeführt wurde. 24 Dass die Schulpolitik auch in den Altländern in Bewegung gekommen ist, zeigen neue Entwicklungen in Hamburg und Schleswig-Holstein. In Hamburg sollen künftig Schülerinnen und Schüler vom Schuljahr 2010/2011 an die Primarschule in sechs Schuljahren durchlaufen, gleichzeitig sollen neben dem Gymnasium Stadtteilschulen die bisherigen Schultypen Haupt-, Real- und Gesamtschule ersetzen. Schleswig-Holstein kann als Vorreiter einer integrativen Schulreform gelten. Hier wurde bereits im März 2007 die Gemeinschaftsschule als neue Sekundarschule schulgesetzlich verankert. 25

Mit dem Label „Gemeinschaftsschule“ wird eine Schulform markiert, die äußere Schulreform und Entwicklung einer veränderten pädagogischen Praxis verbindet. Leitziel ist die Schaffung einer gemeinsamen Schule für alle Schülerinnen und Schüler, die zu den verschiedenen Abschlüssen der Sekundarstufe I führt. Die Anbindung einer gymnasialen Oberstufe ist möglich, aber nicht verpflichtend. Das Konzept ist vom Dortmunder Erziehungswissenschaftler Ernst Rösner entworfen worden. Es folgt dem Gedanken einer „prozesshaften Entwicklung“. Dabei geht es weniger um das „Konzept eines Standardmodells“, sondern „seine Struktur ist flexibel und orientiert sich an den jeweils individuellen schulischen und regionalen Rahmenbedingungen“ 26. Die Gemeinschaftsschule folgt dem Grundgedanken des gemeinsamen Lernens auf der Basis eines pädagogischen Konzepts, das drei wesentliche Punkte beinhalten muss: „1. in welchen Schritten Formen längeren gemeinsamen Lernens über die Jahrgangsstufen 5 und 6 hinaus bis Jahrgangsstufe 10 realisiert werden, 2. wie die im Hinblick auf die unterschiedlichen Schulabschlüsse erforderliche innere und äußere Differenzierung erfolgen soll und 3. welche Formen der Leistungsbeurteilung zur Anwendung kommen“. 27

Unmittelbar einsichtig ist, dass lediglich mit der Zusammenführung von Schülerinnen und Schülern unter einem gemeinsamen Dach die Aufgabe der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung der Schule und das Ziel einer individuellen Förderung des einzelnen Schülers nicht gelöst sind. Neue Formen von Sekundarschulen müssen sich verbinden mit vielfältigen Maßnahmen und Innovationen, die auf eine Verbesserung der Unterrichtsqualität zielen und insbesondere einen „intelligenten Umgang mit Heterogenität“ (Jürgen Baumert) ermöglichen. Veränderungen müssen den konkreten Unterricht erreichen durch den Ausbau von Unterstützungssystemen für Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Schulen. Dass sich in diesem Sinne Kollegien auf den Weg gemacht haben, belegen nicht nur die im Netzwerk „Blick über den Zaum“ verbundenen Schulen. 28 Gerade die „Eigenverantwortliche Schule“ bietet Handlungsspielräume für pädagogische Veränderungen, die von Schulen genutzt werden, ohne auf die „großen“ Strukturentscheidungen der Bildungspolitik zu warten. Die Frage der Strukturreform des Schulwesens hat damit ihre Dringlichkeit nicht verloren. Der Diskurs über die Weiterentwicklung des deutschen Schulwesens muss geführt werden, ohne die Debatten der 70er Jahre zu duplizieren.

 

Evangelische Perspektiven einer Schulreform

Die evangelischen Kirchen nehmen Bildungsverantwortung in mehrfacher Weise wahr:

Sie beteiligen sich an der öffentlichen Debatte über das Verständnis und die Aufgaben von Bildung und unterhalten als „Bildungsinstitutionen“ (Reiner Preul) Bildungseinrichtungen im gesamten Feld öffentlicher Bildung und Erziehung. Die Kirchen haben sich in der aktuellen Bildungsdebatte für ein umfassendes, integriertes Bildungsverständnis ausgesprochen, das „den Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertebewusstsein und Handeln im Horizont sinnstiftender Lebensdeutungen“ betont. 29 Evangelisches Bildungsdenken stellt die humane Dimension von Bildung und Bildungsprozessen in den Mittelpunkt.

Auch wenn kirchliche Stellungnahmen mit einer gewissen Zurückhaltung die Frage der Schulstruktur bedenken, gehören Bildung und Gerechtigkeit aus evangelischer Sicht untrennbar zusammen. Diese Verbindung findet sich bereits bei Martin Luther, dessen Verständnis von Erziehung auf die übergeordneten Ziele von Frieden und Gerechtigkeit – pax et justitia – ausgerichtet war.30 „Für Luther interpretieren sich Friede und Gerechtigkeit wechselseitig, nämlich im Horizont des biblischen Verständnisses einer umfassenden Gerechtigkeit als Schalom – als Frieden, der nur unter den Voraussetzungen gerechter Verhältnisse gelingen kann. Umgekehrt ist Bildung zur Gerechtigkeit dann als Beitrag zur Friedenserziehung zu sehen und auszulegen.“ 31

Friedrich Schweitzer formuliert in evangelischer Perspektive ein Verständnis von Gerechtigkeit, das durch die Momente „Entgrenzung“ und „Differenzierung“ gekennzeichnet ist. Von Entgrenzung ist im Blick auf den weltweiten Horizont von Gerechtigkeit die Rede, da „Bildung zur Gerechtigkeit“ die Grenzen nationaler Kontexte notwendigerweise überschreiten muss. Differenzierung meint, dass Gerechtigkeit als besondere Förderung und Unterstützung im Sinne einer „ausgleichenden oder individualisierenden Gerechtigkeit“ Beachtung finden muss. 32

Die EKD hat die Frage der Gerechtigkeit unter der Überschrift „gerechte Teilhabe“ thematisiert. In der Denkschrift des Rates der EKD „Armut in Deutschland“ zielt „gerechte Teilhabe“ auf die „umfassende Beteiligung aller an Bildung und Ausbildung sowie an den wirtschaftlichen, sozialen und solidarischen Prozessen der Gesellschaft“.33 Herausgestellt wird der Zusammenhang von Bildungsarmut und sozialer Armut. Gerade Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern müssen in besonderer Weise gefördert werden, damit auch sie ihre Begabungen entfalten und sich Bildung aneignen können. In diesem Zusammenhang stellt die Denkschrift erstmals die Schulstruktur des deutschen Schulwesens in Frage. So heißt es, dass unter „dem Aspekt der Schaffung eines armutsverringernden Bildungssystems“ auch „über die Kultur des drei- und mehrgliedrigen Schulsystems in Deutschland diskutiert werden“ müsse.34

Auch wenn die Denkschrift keine konkreten Handlungsschritte benennt, die Debatte über die Frage einer gerechten Schulstruktur hat auch in den Parlamenten der Kirchen Einzug gehalten. So beauftragte die Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen ihre Kirchenleitung „Anforderungen für ein zukünftiges Bildungssystem in Nordrhein-Westfalen zu erarbeiten“ und „Foren für den öffentlichen Diskurs über die zukünftige Gestaltung des Bildungssystems“ zu organisieren. 35 Die westfälische Landeskirche avancierte damit in Nordrhein-Westfalen zum Vorreiter eines Bündnisses unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen und Einzelpersonen, das unter dem Motto „Länger gemeinsam lernen“ mit einem 10-Punkte-Aufruf an die Öffentlichkeit trat. Im Mittelpunkt steht auch hier die Forderung nach Veränderungen des gegliederten Schulsystems zugunsten einer „integrativen Schule“, „ohne Sitzenbleiben, Abstufungen oder Abschulungen“. 36

Wie bereits gesagt: die Gemeinschaftsschule ist kein Zauberwort für die Lösung aller Probleme des deutschen Schulwesens. Nur im Konzert mit weiteren Reformschritten – von der Verstärkung frühkindlicher Fördermaßnahmen bis zum Ausbau von Ganztagsangeboten – kann Bildungsgerechtigkeit zum bestimmenden Merkmal eines erneuerten Bildungssystems werden. Die Kirchen stehen vor der Aufgabe sich mit ihrem Verständnis von Bildung und Erziehung in diesen Reformprozess aktiv einzubringen. Denn:

„Das Engagement für Bildung gehört ebenso wie die Option für Arme und Benachteiligte zu den grundlegenden Prinzipien eines christlichen Welt- und Selbstverständnisses, das sich vom biblischen Menschenbild her ableitet. Die Frage nach Gerechtigkeit in der Bildung und im Bildungssystem ist deshalb in evangelischem Verständnis kein Randthema, sondern zentral.“ 37

 

Anmerkungen

  1. Die I. World Vision Kinderstudie wurde von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bielefeld und des Forschungsinstituts TNS Infratest Sozialforschung in München erstellt. Sie zeigt auf, welche Auswirkungen soziale Unterschiede für Kinder haben und in welchem Maße die soziale Herkunft den Alltag von Kindern prägt. Vgl. www.worldvisionkinderstudie.de
  2. Vgl. die „Gemeinsamen Empfehlungen der Kultusministerkonferenz und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung“ vor dem Hintergrund der Ergebnisse von IGLU 2006 und von PISA 2006 vom 6. März 2008. Hier heißt es lediglich: „Die Konzentration bildungsbenachteiligter Schülerinnen und Schüler auf einzelne Schulen sollte vermieden werden.“ (8) Die strukturelle Ursachen für Milieuverengungen werden aber nicht genannt.
  3. Ekaterina Kouli: Zeit für ein grundlegendes Umdenken. Schulpolitik aus der Sicht des Handwerks, in: Lernende Schule 42/2008, 16f
  4. Vgl. zur Anlage und zur Philosophie von PISA Oelkers, Jürgen: Wie man Schule entwickelt. Eine bildungspolitische Analyse nach PISA, Weinheim u.a. 2003, 85ff. Bei PISA 2000 stand die Lesekompetenz, bei PISA 2003 mathematische und bei PISA 2006 naturwissenschaftliche Kompetenz auf dem Prüfstand. Gleichzeitig sollten aussagekräftige Vergleiche aller untersuchten Kompetenzen ermöglicht werden.
  5. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001, 383
  6. PISA 2000, 103. Auf der anderer Seite lag der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die die höchste Kompetenzstufe 5 erreichten, nur wenig unter dem Mittelwert der OECD-Mitgliedsstaaten (9,5 %) (104).
  7. Insbesondere im Bereich der naturwissenschaftlichen Kompetenz erbrachte PISA 2006 einen signifikanten Fortschritt gegenüber PISA 2003. Vgl. die Zusammenfassung von PISA 2006: www.pisa.ipn.uni-kiel.de
  8. PISA 2000, 459
  9. Baumert: Jürgen/ Artelt, Cordula: Bildungsgang und Schulstruktur, in: Pädagogische Führung 4/2003, 188. Die Autoren betonen in besonderer Weise die „Dialektik von innerer und äußerer Schulreform“.
  10. Vgl. PISA 2000, 353
  11. MK Niedersachsen: www.niedersachsen.de>Service>Statistik>Allgemeinbildende Schulen (Stand: 09/2006)
  12. Zit. n. Rösner, Ernst: Hauptschule am Ende. Ein Nachruf, Münster 2007, 16
  13. Rösner, Hauptschule, 16
  14. Besonders hohe Anteile von Hauptschulen mit „schwierigem Milieu“ haben die Länder Bremen (95,7%), Hamburg (68,8%), Berlin (60,0%), Hessen (52,2%) und NRW (44,0%). Vgl. Rösner, Hauptschule, 19
  15. Vgl. www.zeit.de/online vom 9.6.08
  16. Vgl. PISA 2000, 117
  17. Vgl. die Prognosen im Detail unter Einbeziehung der unterschiedlichen Entwicklungen in den neuen und alten Bundesländern bei Rösner, Hauptschule, 77ff
  18. Süddeutsche Zeitung vom 7.7.08, 2
  19. Rösner, Ernst: Schulentwicklung in Schleswig-Holstein. Veränderungen der Schulstruktur in Schleswig-Holstein als Konsequenz demografischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Gutachten des Instituts für Schulentwicklung Universität Dortmund, September 2004, 3.
  20. Vgl. die ernüchternden Ergebnisse der Langzeitstudie von Helmut Fend u.a.: Fend, Helmut: Schwerer Weg nach oben, in: DIE ZEIT vom 3.1.08.
  21. Diese Position vertritt insbesondere Manfred Prenzel. Vgl. das „Die-Zeit“-Gespräch mit Prenzel und Andreas Schleicher unter der Überschrift „Pisa gegen Pisa“: Zeit online 08/2005, in: www.zeit.de/2005/08/C-Interview .
  22. „Wie Deutschlands Schulsystem reformiert werden muss – ein Aufruf“, in: DIE ZEIT vom 22.11.07
  23. Vbw - Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (Hrsg.): Bildungsgerechtigkeit, Jahresgutachten 2007, 147
  24. Mecklenburg-Vorpommern hat sich zuerst am westdeutschen Vorbild orientiert, dann aber ebenfalls so genannte Verbundschulen eingerichtet.
  25. „Die Gemeinschaftsschule führt Schülerinnen und Schüler aller Begabungen in einem weitgehend gemeinsamen Bildungsgang zu den Schulabschlüssen der Sekundarstufe I oder zur Berechtigung des Übergangs in die gymnasiale Oberstufe.“ Landesverordnung über die Gemeinschaftsschulen (GemVO) vom 12.3.07, §1 (3). In Berlin wird zum Schuljahr 2008/2009 der Schulversuch „Gemeinschaftsschule“ als Pilotprojekt in zunächst elf Schulen bzw. Schulverbünden eingerichtet.
  26. Rösner, Ernst: Schulentwicklung in Schleswig-Holstein, 10
  27. Landesverordnung über die Gemeinschaftsschulen, 7
  28. www.blickueberdenzaun.de; vgl. die Beispiele erfolgreicher Einzelschulen, in: Lernende Schule 42/08
  29.  EKD – Kirchenamt der EKD (Hg.): Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, Gütersloh 2003, 90
  30. Vgl. Schweitzer, Friedrich: Bildung zur Gerechtigkeit – oder: Was ist unter Bildungsgerechtigkeit zu verstehen? Evangelische Perspektiven zur aktuellen Diskussion, in: Fischer, Dietlind/ Elsenbast, Volker (Hrsg.): Zur Gerechtigkeit im Bildungswesen, Münster 2007, 57f
  31. Schweitzer, Bildung zur Gerechtigkeit, 57
  32. Schweitzer, Bildung zur Gerechtigkeit, 60f
  33. EKD –Kirchenamt der EKD (Hg.): Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, Gütersloh 2006, 12
  34. EKD, Gerechte Teilhabe, 66
  35.  Verhandlungen der 4. (ordentlichen) Tagung der 15. Westfälischen Landessynode vom 13. bis 16. November 2007, 149 (Beschluss Nr. 138)
  36.  Das Bündnis ist maßgeblich von Hans-Martin Lübking, dem Leiter des Pädagogischen Instituts der Evangelischen Kirche von Westfalen, initiiert worden. Vgl. Ziele und Träger des Bündnisses, in: www.bestes-lernen.de
  37. Fischer, Dietlind: Einleitung: Gerechtigkeit im Bildungssystem, in: Fischer/Elsenbast (Hrsg.): Zur Gerechtigkeit, 10

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2009

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