Lara liegt brabbelnd auf dem Wickeltisch. Christine beugt sich über sie. Lara lächelt, greift nach den Haaren. Christine erwidert das Lächeln. Leise summt sie ein Lied, krault liebevoll Laras Arme, Beine, den Oberkörper. “Wunderbar sind deine Finger”, singt sie, “wunderbar sind deine Beine, wunderbar sind deine Arme, wunderbar sind deine Augen, wunderbar bist du gemacht!” Lara genießt augenscheinlich diesen Augenblick der Zuwendung und vertrauten Zweisamkeit. Das geht ihrer Erzieherin Christine genauso. Für sie seien diese Augenblicke das Schönste bei der Arbeit mit kleinen Kinder, sagt sie, es sei fast so etwas “wie segnen und gesegnet werden.”
Eine Szene aus einer Krippe. Für die Erzieherin hat sie eine religiöse Dimension. War da jetzt Gott “im Spiel”? Hat das Erleben, das sich beim Streicheln und Singen auf dem Wickeltisch bei Lara einstellt, etwas mit der Entwicklung ihrer Religiosität zu tun? Was hat Lara dabei in religiöser Hinsicht gelernt?
Noch vor wenigen Jahren wären solche Fragen belächelt worden. Religion und religiöse Praxis begannen frühestens im Kindergartenalter. Deshalb setzte auch die Auseinandersetzung in der Religionspädagogik um religiöse Entwicklung von Kindern und religiöses Lernen erst mit Kindern im Kindergartenalter ein.
Inzwischen hat ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Es ist vom “kompetenten Säugling” die Rede, die auch auf den Bereich der Religion und das religiöse Lernen übertragen wird. Auch religiöse Bildung findet statt “von Anfang an”.
Wie aber entwickelt sich Religiosität im Säugling? Welche Entwicklungsstadien durchlebt und erarbeitet sich ein Kind von den ersten Momenten seiner Geburt und wie wurzelt darin das religiöse Erleben?
n Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Anhand neuerer Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Hirnforschung und der Religionspsychologie (insbesondere der Spiritualitätsforschung) sollen die Entwicklungsaufgaben von Säuglingen und Kleinkindern nachgezeichnet und ihre impliziten religiösen Dimensionen benannt werden. Daran anschließend sollen die religionspädagogischen Konsequenzen aufgezeigt werden, die nötig sind, um die religiöse Entwicklung zu fördern.
Religiöse Entwicklung im Stadium der Vorsprachlichkeit zielt nicht auf die kognitiven Gehalte einer Religion. Vielmehr steht das Erleben und sinnliche Wahrnehmen im Vordergrund. Religion – so könnte man vorausgreifend sagen – ist für den Säugling und das Kleinkind “Sinn und Geschmack fürs Unendliche”. Diese Definition Schleiermachers umfasst in ihrer Weite auch den Bereich der Emotionalität und Atmosphäre.
Entwicklungsaufgaben von Säugling und Kleinkind aus psychologischer Perspektive
Im Rahmen ihrer Studie “Wie Kinder sich die Welt erschließen – Persönlichkeitsentwicklung und Bildung im Kindergartenalter” hat Barbara Senckel Entwicklungsaufgaben von Kindern unter entwicklungspsychologischer Perspektive formuliert. Zugleich hat sie die nötigen Bedingungen und Voraussetzungen benannt, die für die jeweiligen Entwicklungsschritte gegeben sein müssen.
Bis zum ersten Lebensjahr besteht die Aufgabe im Blick auf die Entwicklung des Säuglings darin, sichere Bindungen zu erwerben. Daraus entsteht ein “Beziehungsurbild”, das Selbsterleben und Erwartungen prägt: Das Leben gewährt, was ich brauche. Es bietet genügend Möglichkeiten der Befriedigung und ich bin ihrer wert. Ich kann mich selbst annehmen und auf das Dasein einlassen. “Denn ich darf vertrauen: anderen Menschen, mir selbst und dem Leben überhaupt.” (Senckel 2004, S. 27)
Im ersten Lebensjahr steht zunächst dieser passive Aspekt des Urvertrauens (“Ich bin es wert, versorgt und geliebt zu werden”) im Vordergrund. Aus dieser Erfahrung bildet sich die erste Wurzel des späteren Selbstwertgefühls eines Kindes heraus.
Danach folgt die Phase strahlender Siegesgewissheit und wachsender “Allmacht”. In ihr entsteht die zweite Wurzel des Selbstwertgefühls. Sie lässt sich so beschreiben: “Ich vermag mich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und sie zu meistern… Erst die Sicherheit, nicht verlassen zu sein, ermöglicht die fortgesetzte Zuwendung zur Welt; erst die durch Spiegeln bestätigte Freude sichert die Wirksamkeit des Erfolgs.” (Senckel, S. 33).
Die Entwicklungsphase im zweiten und dritten Lebensjahr wird allgemein als “Trotzphase” bezeichnet. Dem Trotzverhalten liegt der Symbiose/Autonomie – Konflikt zugrunde. Das Kind will die geliebte emotionale Einheit erleben und gleichzeitig und vollständig seine gerade entdeckte Autonomie behaupten. Die Aufgabe im Blick auf die Entwicklung des Kindes besteht darin, eine emotionale Konstanz auszubilden, und zwar als Sicherheit, “dass bei allen äußeren veränderlichen oder gar gegensätzlichen Erscheinungsformen das eigentlich Wesentliche der Beziehung (Beziehungskonstanz), des eigenen Selbst (Selbstkonstanz) und des bedeutsamen Anderen (Objektkonstanz) erhalten bleibt.” (Senckel, S. 35) Aus dieser Sicherheit heraus kann sich das Kind für einige Stunden aus der räumlichen Nähe der primären Bezugsperson entfernen. Autonomie entwickelt sich also nur unter der Voraussetzung sozialer Bindung.
Generell kann gesagt werden, dass für das Säuglings- und Kleinkindalter die Ausbildung emotionaler Sicherheit und das Erlangen einer Überzeugung der Selbstwirksamkeit des eigenen Handelns von zentraler Bedeutung sind. Bedingung dafür ist die Erfahrung verlässlicher Bindung, die Bestätigung des ursprünglich vorhandenen Vertrauens, ohne die ein Kind auch keine Autonomie, keine Selbstwirksamkeit entwickeln kann.
Das Kind braucht einen, “der seine Füße auf weiten Raum stellt”, der ihm etwas zutraut, es dann aber auch lässt. Dazu bedarf es der Atmosphäre von Liebe und Achtsamkeit. Ein Kind braucht Vorbilder und innere Leitbilder. Es identifiziert sich mit den erwachsenen Bezugspersonen. Es erlebt lebensdienliche Bewältigungsstrategien und ahmt diese nach. Im Zuge der kindlichen Persönlichkeitsentwicklung entstehen daraus innere Leitbilder, die durch weitere Bilder aus Erzählungen und Geschichten ergänzt werden.
Religiöse Dimensionen und religionspädagogische Konsequenzen der Entwicklungspsychologie: Die religiöse Bedeutung der Bezugsperson
Für die genannten Entwicklungsaufgaben ist es von entscheidender Bedeutung, eine Atmosphäre der Geborgenheit und des Zutrauens in die sich entwickelnden Fähigkeiten des Kindes zu schaffen. Dabei kommt den primären Bindungspersonen eine wichtige Funktion zu. Ihre Art und Weise der Beziehungsnahme zum Kind prägt die Atmosphäre und lebt Beziehungsmuster vor. (Zu diesen primären Bindungspersonen gehören neben den Eltern z.B. auch die Erzieherinnen in der Krippe.) “Die ersten Bezugspersonen eröffnen den Kindern den Zugang zur Welt. Sie ermöglichen das Gefühl der Geborgenheit und das Vertrauen, in dem die Kinder ihre Neugier all den Dingen um sie herum zuwenden können. Die Bezugspersonen geben mit ihrer Zuneigung und Zuwendung der Welt des Kindes ihr besonderes Gesicht, sie repräsentieren die Welt als Ganzes und haben darin religiöse Bedeutung.” (Harz 2007, S. 121, Hervorhebung R.R.)
Die religionspädagogische Aufgabe im Bereich der unter drei Jahre alten Kinder (im Folgenden: U3-Bereich) besteht nun für die Bezugspersonen darin, die geschilderten Entwicklungsaufgaben in ihren Wurzeln und Bedingungen zu stützen und zu stärken. Durch Rituale, Gebete, Lieder, einfache biblische Geschichten z.B. werden die Erfahrung von Geborgenheit und Selbstwirksamkeit in einen größeren transzendenten Rahmen gestellt. “Sinn und Geschmack fürs Unendliche” entwickeln sich im Sinne einer “ahnungsvollen Horizonteröffnung”.
Entwicklungsaufgaben im Säuglings- und Kleinkindalter aus neurobiologischer Sicht
Die neurobiologische Forschung hat die nutzungsabhängige Formbarkeit der Hirnentwicklung nachgewiesen: Neuronale Netze und Nervenverbindungen entstehen und werden durch jede Wahrnehmung und Handlung des Kindes ausgebaut und verstärkt. In ihnen werden Erfahrungen dauerhaft gespeichert. Bereits geknüpfte Verbindungen werden mit neuen Eindrücken verknüpft, so dass aus ersten Nervenverbindungen immer festere Nervenbahnen entstehen. Ausmaß und Art der neuronalen Vernetzung des Gehirns sind also Produkt sozialer Aktivität. Die für die spätere Entwicklung grundlegenden Netzwerke werden dabei schon in den ersten Lebensjahren eines Menschen herausgebildet. Die Entwicklung beginnt schon im Säuglingsalter, wenn vielfältige Gelegenheiten geboten werden, sich selbst und die eigenen Wirkungen auf andere Menschen wahrzunehmen.
Im Gegensatz zur Tierwelt, in der das Gehirn möglichst schnell auf bestimmte Weise für bestimmte Zwecke genutzt werden soll, hat die menschliche Hirnentwicklung das Ziel, ein möglichst großes Spektrum an Strategien zur Lebensbewältigung zu entwickeln. Der Neurobiologie Gerald Hüther (Gebauer/Hüther 2002) sieht es deshalb als Voraussetzung für eine optimale Hirnentwicklung an, zum einen ein Höchstmaß an emotionaler Sicherheit und Geborgenheit in stabilen sozialen Verhältnissen zu schaffen, zum anderen aber auch eine möglichst große Vielfalt an unterschiedlichen Anregungen und Herausforderungen anzubieten, die allein oder mit Hilfe von Erwachsenen zu bewältigen sind.
Um das Anregungspotential möglichst umfassend zu nutzen, sind nach Hüther (vgl. Gebauer/Hüther, S. 11) folgende Fähigkeiten zu entwickeln und als Entwicklungsaufgaben an Kleinkind und Säugling gestellt:
- möglichst lange Aufrechterhaltung spielerischer Neugier,
- ungerichtete Aufmerksamkeit,
- vorbehaltlose Begeisterungsfähigkeit,
- Entdeckerfreude und Offenheit für alles Neue.
Zugleich verweist auch Hüther auf die Bedeutung der primären Bezugsperson. Schon Kleinkinder brauchen eine positive Resonanz ihrer primären Bezugsperson. Denn die Suchaktivitäten zur Ausbildung eines Selbst- und Weltverständnisses setzen mit der Geburt ein. Von Geburt an erfasst ein Säugling die emotionale Bedeutsamkeit von Gesten und Handlungen. In der Resonanz der Mutter werden elementare Strukturen des Selbst- und Weltgefühls, die die Grundlagen für die Selbstwirksamkeit sind, ausgebildet.
Über das Sprechen werden diese Erfahrungen auf einer symbolischen Ebene gespeichert und sprachlich geordnet. So dienen diese Erfahrungen zum Aufbau innerer Vorstellungen und Strukturen, die dann wieder helfen, neue Inhalt aufzunehmen und bei Problemen Lösungsstrategien zu entwickeln. Erst über die Erfahrung emotionaler Geborgenheit einerseits und eigener Kompetenz andererseits sind Kinder in der Lage, eine eigene Vorstellung von ihrer Rolle in der Welt zu entwickeln. “Diese Vorstellungen sind innere Bilder, die ihnen Halt und Sicherheit bieten und an denen sie sich im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung orientieren.” (Gebauer/Hüther, S. 16) Und es sind diese inneren Bilder, die uns helfen, Krisensituationen durchzustehen. Jedes Lebewesen entwickelt solche Bilder. Im neuronalen Netz des Gehirns sind sie es, die am besten synaptisch verschaltet sind und in Stresssituationen als letzte zerstört werden. (vgl. Hüther 2004)
Damit kommt diesen Bildern eine Schutz- und Widerstandsfunktion zu: sie helfen, Entwicklungsrisiken standzuhalten und Krisensituationen auszuhalten.
Religiöse Dimensionen und religionspädagogische Konsequenzen der Neurobiologie: Die schützende Macht der inneren religiösen Bilder
Für die religionspädagogische Forschung interessant ist, dass einer der – sowohl in der neurobiologischen Forschung als auch in der Resilienzforschung benannten – Schutzfaktoren die Religion oder der Glaube ist. Seine schützende Wirkung lässt sich mit dem Begriff des “inneren Bildes” erläutern: Bilder entstehen durch Vor-Bilder.
Das sind Menschen in meinem Umfeld, die mir in ihrer religiösen Prägung zu einem Vorbild geworden sind oder Geschichten von Menschen, die mir erzählt wurden und die sich mir als inneres Bild eingeprägt haben.
Solche inneren Bilder entwickeln sich auch von Gott. Zunächst fungiert das Gottesbild wie ein Phantasiebegleiter bzw. ein Übergangsobjekt, das dazu hilft, die Abwesenheit der Bezugspersonen auszuhalten. Wie Gott als Phantasiebegleiter und inneres Bild in der Einbildungskraft des Kindes ausgestaltet wird, hängt von der sozialen und religiösen Umwelt ab, von den biblischen Geschichten über Gott, die ihm erzählt werden und aus denen es Elemente für sein Gottesbild auswählt. Erlebt ein Kind dann Erwachsene, die ihre Gottesbeziehung ernsthaft pflegen und mit dem Kind in einen Dialog treten, kann sich der Phantasiebegleiter verändern und in der weiteren Entwicklung zu einem tragenden symbolischen Deutungsmuster werden.
Solch ein inneres Bild von Gott kann durch Geschichten plastisch werden, selbst wenn die Geschichten intellektuell noch gar nicht erfasst werden können. Gott wird ein unsichtbarer Freund, dem man sich anvertrauen kann, der hilft und tröstet, Mut macht und Menschen etwas zutraut. Dies etwa ist ein inneres Bild, das für Geborgenheit, Trost und Schutz, Vertrauen und Hoffnung steht. Und es sind eben diese Bilder, die uns helfen, Krisensituationen durchzustehen.
Entwicklungsaufgaben für Säuglinge und Kleinkinder aus Sicht der Spiritualitätsforschung
Die besonders im englischen Sprachraum verankerte Spiritualitätsforschung versteht unter Spiritualität meistens eine sowohl vertikal als auch horizontal ausgerichtete Verbundenheit mit der Natur, der sozialen Umwelt, mit mir selbst und einem “höheren Wesen”. Unter anderem beschäftigt sie sich mit der Frage, ob schon Kinder zu intensiven spirituellen Erlebnissen und Erfahrungen fähig sind (vgl. Bucher 2007). Spiritualität kann sich nach diesem Verständnis auch außerhalb einer geprägten Religion entwickeln und ist zunächst unabhängig von bestimmten Wissensinhalten einer Religion. Da es im U3-Bereich besonders auf den Bereich des Erlebens ankommt, sollen im Folgenden auch einige Ergebnisse der Spiritualitätsforschung dargestellt und auf mögliche religionspädagogische Konsequenzen hin bedacht werden.
In der spirituellen Erziehung gilt der pädagogische Grundsatz, dass sich die Erziehung an meinem Bild vom Kind ausrichtet: traue ich dem Kind etwas zu, dann wird sich auch das Kind etwas zutrauen. Traue ich dem Kind nichts zu, wird sich auch das Kind irgendwann immer weniger zutrauen.
Für die spirituelle Erziehung bedeutet das: Ist meine eigene Lebens- und Erziehungshaltung spirituell geprägt, sehe ich selbst das Kleinkind als geistbegabtes, zu spirituellen Erlebnissen und Erfahrungen fähiges Wesen, dann wird sich diese Dimension des Erlebens von Wirklichkeit auch eher dem Kind erschließen.
Die Spiritualitätsforschung weist darauf hin, dass die Wahrnehmungsfähigkeit von Kleinkindern nach wie vor unterschätzt wird. Z.B. können Kleinkinder zwar weniger scharf sehen, aber durchaus Gegenstände und Tiefe wahrnehmen. Schon Embryos können Geräusche wahrnehmen. Säuglinge unterscheiden Gerüche voneinander und erinnern sich daran. Bereits in seinen ersten Lebenstagen beginnt ein Säugling mit Imitationen. In dieser Zeit schon bildet sich damit verbunden ein Kernselbstempfinden heraus.
In der amerikanischen Spiritualitätsforschung wurde untersucht, welche Auswirkung Spiritualität auf die Kindheit hat. Man fand heraus, dass es einen Unterschied macht, ob die Mutter in der Schwangerschaft hämmernde Technobeats oder meditative Musik gehört hat. Neugeborene, deren Mütter vor der Geburt heilige Namen mantramäßig aufgesagt hatten, waren besonders ausgeglichen und reagierten positiv auf die Stimme der Mutter. Kleine Kinder bevorzugten die Geschichte, die ihnen die Mütter erzählten, als sie noch im Schoß waren (vgl. Bucher, S. 45).
Begünstigt durch den kindlichen Animismus leben Kinder in enger Verbundenheit mit der Natur. Auch die Spiritualitätsforschung macht darauf aufmerksam, dass sich Kinder schon vor dem dritten Lebensjahr imaginäre Gefährten schaffen, die – je nach Anregung – die Gestalt von Engeln, Elfen oder Pokemons haben können und denen sie sich anvertrauen. Diese inneren Welten haben für Erwachsene eine nur schwer zugängliche Realität. Manchmal können Kinder sie sprachlich noch nicht adäquat fassen, manchmal werden sie auch bewusst verborgen gehalten.
Auch in spiritueller Hinsicht sind Kinder nach Bucher kompetenter und eigenständiger als bisher angenommen. Darum gilt: “Spirituelle Erziehung … ist nicht ein Teilbereich, etwa neben sozialer, ökologischer oder moralischer Erziehung. Sie ist vielmehr ihr belebendes Prinzip und nicht möglich ohne Begeisterung. Sie kann alles durchdringen, so wie Hefe jede Brotkrume oder wie Zucker, der in ein Wasserglas gegeben wurde, jeden Tropfen, auch wenn er nicht mehr zu sehen ist.” (Bucher, S. 13)
Religionspädagogische Konsequenzen: Aus spiritueller Verbundenheit wird spirituelle Verbindung
Die religiös-spirituelle Rede vom Menschen als “Geschöpf” ist ein symbolischer Ausdruck für die Einsicht, dass sich kein Mensch selbst erschaffen kann. Als Geschöpf bin ich von Anfang an verbunden mit meiner sozialen und natürlichen Umwelt (als Mitgeschöpf), mit einem höheren göttlichen Wesen (dem Schöpfer) und meinem eigenen Selbst.
Die religionspädagogische Aufgabe besteht darin, diese Verbundenheit, die für den Säugling und das Kleinkind zunächst passiv erfahrbar wird als Eingebunden-Sein in und Abhängig-Sein von einer sozialen, natürlichen und transzendenten Umwelt, zu einer vom Kind selbst gestalteten Verbindung werden zu lassen. Dafür braucht es eine entsprechende Haltung von den Bezugspersonen und Anregungen, durch die das Kind diese Verbindung zu Welt, Selbst und Gott aktiv gestalten, erweitern, stärken und ausbauen kann.
Gott in der Krippe – Religiöses Erleben fördern
Fragt man nach der Gemeinsamkeit der religiösen Dimensionen im Rahmen der Ansätze aus der Psychologie, der Hirnforschung und der Spiritualitätsforschung, so kann man sagen: Ausgangspunkt aller Religiosität ist das religiöse Erleben. Noch vor dem Verstehen von Inhalten beginnt religiöse Bildung und Erziehung deshalb damit, Möglichkeiten zur Wahrnehmung und zum religiösen Erleben zu schaffen. Aus diesen Erlebnissen werden später Erfahrungen. Denn Erfahrungen sind gedeutete, sprachlich verarbeitete Erlebnisse. Um Erfahrungen zu machen, muss ich zuerst etwas erlebt haben. Solche Erlebnisse, Eindrücke und Prägungen sind es, die in der religionspädagogischen Arbeit für Kinder unter drei Jahren angeboten werden können und sollen.
Zu solchen Angeboten gehört z.B., eine Atmosphäre zu schaffen, zu Hause oder in der Krippe, in der ein Kind Gewissheit und Bestätigung spüren kann und so in seinem Vertrauen gestärkt wird. Dazu gehören z.B. Gute-Nacht-Rituale, gemeinsames Beten oder Singen, das Erleben einer Phantasiereise oder das Erleben von Stille, die Begegnung mit Personen wie der Pastorin oder der Erzieherin oder dem Nikolaus, das Hören von Geschichten über Gestalten und Figuren der Tradition. Dazu gehören das Erleben von Kirchräumen und das Mitgestalten von religiösen Bräuchen. Und dazu gehört es vor allem, von einer Bezugsperson im Arm gehalten zu werden, die sich ihrer eigenen spirituellen Verbundenheit und religiösen Anbindung bewusst ist und daraus Kraft und Stärkung zieht. Diese Angebote sind der Nährboden für die religiöse Entwicklung. Welche Nährstoffe ein Kind daraus aufnimmt, welche es sich aneignet und verarbeitet, entscheidet das Kind selbst. Nicht thematische Inhalte sind dabei zuerst wichtig, sondern die sich emotional in Gesten oder in symbolischer Sprache vermittelnden Gehalte der Zuwendung und Akzeptanz. In der Atmosphäre und im Stil dieser Angebote vermittelt sich in ganz unmittelbarer und spürbarer Weise die Liebe Gottes, vermittelt sich das Gefühl “Ich bin geliebt und angenommen, ich bin froh und dankbar für mein Leben”. Aus diesem Gefühl kann so auch die Motivation entstehen, das eigene Leben gemeinsam mit anderen zu gestalten.
In diesen Angeboten, die sich durch besondere Zeiten, besondere Orten, Gesten und Symbolhandlungen auszeichnen, kann sich religiöse Erfahrung vermitteln, und zwar zuerst auf affektiver Ebene und erst später auf rationaler Ebene. Kinder erleben Sinn und Sicherheit und sie nehmen wahr, dass ihnen dieses Erleben Schutz und Halt bietet.
Deshalb ist es umso wichtiger, Kinder schon früh an diesen gemeinschaftlichen Vollzügen von Religion teilhaben zu lassen. Es sind diese Vollzüge, die ihnen ahnungsvoll den Horizont eröffnen und mit denen sich vor aller rationalen Erkenntnis unmittelbar erfahrbar wird, woran Religion teilhaben lässt: am Sinn und Geschmack für das Unendliche.
Was hat Lara also auf dem Wickeltisch gelernt?
Es kribbelt Lara an den Füßen und im Bauch, und es tut gut. Und mit zunehmender Sprachfähigkeit entwickeln sich aus diesem Erleben in ihr innere Leitbilder von Geborgenheit und Selbstwirksamkeit, die gespeist werden von dem Glauben, dass alles einen guten Anfang hat und dass sich alle Dinge letztlich zum Guten wenden werden. Und vielleicht wird sie später für ihre Erfahrung ähnliche Worte finden wie Polly Elam (zit. nach Valentin 2007, S. 2).
Wie erkenne ich, wer ich bin?
Ich erfahre von dir, wer ich bin.
In deinen Augen sehe ich mich widergespiegelt.
Aus deiner Stimme höre ich, wie du mich siehst.
Du bist der Spiegel, in den ich blicke
und der das Bild meiner selbst formt.
Ich spüre, wie du mich hältst,
und durch deine Berührungen
fühle ich meine Gestalt, meine Form.
Und wenn mir gefällt, was ich sehe,
in deinen Augen
in deiner Stimme
in deiner Berührung,
antwortet mein Herz und öffnet sich.
Und während es sich immer weiter öffnet,
wächst es und wächst es
bis ich mich als eigenständig erkenne.
Dieses eigenständige Selbst – wiederum –
Kann dir die Liebe erwidern.
Weil du mich gelehrt hast, wer ich bin
und dass ich geliebt werde.
Literatur
- Bucher, Anton: Wurzeln und Flügel – Wie spirituelle Erziehung für das Leben stärkt, Düsseldorf 2007
- Gebauer, Karl / Hüther, Gerald: Kinder suchen Orientierung – Anregungen für eine sinnstiftende Erziehung, Düsseldorf / Zürich 2002
- Harz, Frieder: Bildung in evangelischer Verantwortung – Profilentwicklung in Kindertageseinrichtungen, Nürnberg 2007
- Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder – Wie Visionen das Gehirn und die Welt verändern, Göttingen 2004
- Senckel, Barbara: Wie Kinder sich die Welt erschließen – Persönlichkeitentwicklugn und Bildung im Kindergartenalter, München 2004
- Valentin, Lienhard: Achtsame Kommunikation mit Kindern, in: Mit Kindern wachsen, Januar 2007, Freiburg