In diesem Beitrag möchte ich grundsätzliche Überlegungen zu Abraham als Integrationsfigur für den Interreligiösen Dialog anstellen und sie mit einigen Unterrichtsvorschlägen verknüpfen. Anlass dafür waren unterrichtliche Erfahrungen mit dem (in den Vorgaben des Kultusministeriums für das Zentralabitur 2006 in Niedersachsen verbindlich vorgesehenen) Schwerpunktthema Islam, näherhin mit einem der sechs dort vorgesehenen "Verbindlichen Inhalte", nämlich "Christentum und Islam als abrahamitische Religionen."1 Die Vorgaben geben keinerlei weitere Hinweise darauf, in welche Richtung dieser "Verbindliche Inhalt" unterrichtet werden soll.
1. Einige Grundeinsichten des Interreligiösen Lernens
Zunächst sollen einige Grundregeln des Interreligiösen Lernens in Erinnerung gerufen werden, wie sie in den letzten Jahren vor allem von Johannes Lähnemann und seinen Mitarbeitern, aber auch von anderen, etwa Folkert Doedens, ausgearbeitet worden sind und breite Akzeptanz gefunden haben.
Die didaktische Notwendigkeit der Behandlung von Fremdreligionen im Unterricht – genauer: der intensiveren Behandlung von Fremdreligionen im Unterricht – ergab sich zunächst ganz zwanglos daraus, dass die Jugendlichen heute faktisch mit Angehörigen von Fremdreligionen zu tun haben, und zwar vor allem mit Moslems. Man mag zur multikulturellen Gesellschaft stehen, wie man will – de facto leben wir bereits darin: Für die Schülerinnen und Schüler sind islamische Mitschüler(innen) der Regelfall. Es ist daher auch keineswegs so, dass die Jugendlichen gar nichts über andere Religionen wüssten – im Gegenteil: Es soll vorgekommen sein, dass Schülerinnen und Schüler genauer über den Termin des Ramadan Bescheid wussten als ihre Lehrerin. Die neuere Didaktik hat daher den Begriff "Fremdreligion" durch den Begriff "Nachbarschaftsreligion" ersetzt.
Fragte man nach der Art und Weise, wie Nachbarschaftsreligionen unterrichtet werden sollten, ergab sich als erste Grundregel: Die jeweilige Nachbarschaftsreligion darf nicht abgewertet werden. Was uns heute so selbstverständlich scheint, dass es eigentlich keiner Erwähnung bedarf, war noch vor gar nicht all zu langer Zeit keineswegs klar. So bringt – als ein wahllos heraus gegriffenes Beispiel unter vielen – das Schulbuch "Lernfelder" von 1992 im Kapitel "Religionen und Moral" im Abschnitt "… der werfe den ersten Stein" drei Texte aus deutschen Zeitungen, in denen von beabsichtigten Steinigungen von ehebrecherischen Frauen in islamischen Ländern berichtet wird. Sicher, diese Problematik sollte in einem Kurs "Interreligiöser Dialog mit dem Islam" vorkommen, aber nicht so pauschal und undifferenziert.
Als eine weitere Grundregel kristallisierte sich schnell heraus, die jeweilige Nachbarschaftsreligion nicht zu vereinnahmen, also etwa vorschnell dort Parallelen zwischen den Religionen zu behaupten, wo in Wahrheit die Unterschiede überwiegen. So schwebt Folkert Doedens vor, im Unterricht über Nachbarschaftsreligionen weder "die Frage nach der Wahrheit – verbindlich – [zu] beantworten"2, noch anders herum eine "neutralisierende Belehrung über Fremdreligionen"3 zu veranstalten. Daraus folgt, dass es durchaus nicht angemessen ist, "das Differente, das Fremde, das Andere aus seinem theoretischen Begründungszusammenhang … zugunsten des Gleichen ausscheiden" zu wollen4 oder sich zu "vorschnellen Parallelisierungen oder Vereinheitlichungen"5 hinreißen zu lassen. Vielmehr muss man die "religiös-plurale Gegenwartssituation wahrnehmen und ernst nehmen können."6
Man wird eine Nachbarschaftsreligion dann verstehen, und eben auch erst dann ihr gegenüber wirklich tolerant sein können, wenn man ihren "Anspruch" und ihre "Andersartigkeit"7 möglichst authentisch kennen lernt, etwa "von der originalen Begegnung mit Menschen aus verschiedenen Religionsgemeinschaften"8 her, aber auch durch die "Auseinandersetzung mit den Weisheiten, Weisungen und Gewissheiten der Religionen, wie sie in ihren vielfältigen Traditionen Ausdruck findet."9
Als eine dritte breit akzeptierte Grundregel interreligiösen Lernens etablierte sich die Einsicht, die jeweilige Nachbarschaftsreligion möglichst stets aus sich selbst heraus zu Wort kommen zu lassen. Das implizierte dreierlei: Erstens in Schulbüchern oder Unterrichtsmaterialien eigene Texte aus den jeweiligen Religionen zu bringen und nicht Darstellungen, die von Außenstehenden geschrieben sind.10 Zweitens möglichst das Gespräch mit authentischen Vertretern der jeweiligen Nachbarschaftsreligion zu suchen, etwa indem ein Imam in den Unterricht eingeladen wird, und drittens das Bemühen, sich wirklich mit dem Selbstverständnis der jeweiligen Nachbarschaftsreligion auseinanderzusetzen und nicht mit einem von außen heran getragenen Verständnis.
Die Figur Abraham erlebte in diesem Zusammenhang in der Religionspädagogik eine erstaunliche Karriere: Da sie doch sowohl im Christentum als auch im Islam und im Judentum vorkommt, bot sie sich als Integrationsfigur an11, wie auch die Erklärung "nostra aetate" des Zweiten Vatikanischen Konzils bemerkt hatte.12 Flugs war auch der Terminus "abrahamitische Religion" geboren, unter dem sich nun Christen, Moslems und Juden gleichermaßen wiederfinden können sollten. Schon dies hätte stutzig machen können: Spielt z. B. in der Frömmigkeit eines Christen tatsächlich Abraham eine solche Rolle, dass er über sich selber sagen würde, "ich bin Anhänger einer abrahamitischen Religion"? Denn darum geht es ja: Die jeweilige Religion von ihrem Selbstverständnis her zu Wort kommen zu lassen!
2. Die Abrahamfigur im Judentum, im Christentum und im Islam
Wie steht es nun mit der Figur Abraham in den drei genannten Weltreligionen? Einige Unterrichtsvorschläge sollen im Rahmen ausführlicherer fachwissenschaftlicher Hinweise dargestellt werden:
Die wichtigsten Stellen aus dem AT, dem NT und dem Koran (die sogleich genannt werden sollen) können im Unterricht gemeinsam gelesen werden. Es wäre zwar schön, wenn die Schülerinnen und Schüler mit Hilfe einer Konkordanz die Stellen zu Abraham selbsttätig herausfinden würden, aber da die Texte von unterschiedlicher Wichtigkeit sind, und die Schülerinnen und Schüler diese Gewichtung nicht sofort erkennen können, ist es dann doch unumgänglich, dass die Lehrkraft die Stellen vorgibt und eventuell auch ein Arbeitsblatt mit den entsprechenden Stellen erstellt. Die Stellen können interpretiert werden, anschließend kann zusammenfassend und bündelnd die je spezifische Bedeutung der Figur Abraham in jeder der drei Religionen erarbeitet werden. Als Zielpunkt der Unterrichtssequenz kann dann abschließend ganz direkt gefragt werden, ob und inwiefern Abraham als Integrationsfigur für den Interreligiösen Dialog taugt.
Die Abrahamfigur im Judentum
Im Alten Testament finden sich die Abrahamgeschichten in Gen 12-25. Die Lehrkraft sollte einige Texte exemplarisch auswählen. Dabei sollten meines Erachtens nicht fehlen: 12,1-4 (Anschluss an die Urgeschichte, Abraham als Stammvater), 13,14-18 (Erneute Verheißung), 15,1-6 (Verheißung von Nachkommen), 15,18 (Bund), 16 (Hagar gebiert Ismael), 17,7-16 (Bund, Beschneidung, Verheißung an Sarai), 18,16-33 (Abrahams Kuhhandel), 21 (Sarah gebiert Isaak), 22,1-19 (Opferung Isaaks) und 25,1-11. Darüber hinaus ist es reizvoll, den schon im Alten Testament einsetzenden Rezeptionsprozess zu behandeln, da dadurch die Bedeutung Abrahams noch deutlicher hervor tritt. Dazu bieten sich z. B. an: Gen 26,24; 28,13; Ex 4,5; 33,1; Lev 26,42; Dt 34,4; 2.Kö 13,23; Ps 105,9.42.13 Es wäre ebenso reizvoll, den unglaublich breiten Rezeptions- und Auslegungsprozess in der jüdisch-rabbinischen Literatur zu betrachten. Einige Andeutungen mögen hier genügen: Themen der Rezeption und Auslegung sind vor allem die Erwählung, die Fragen nach der Legitimität der Abstammung, die Bundestreue Gottes, die Bewährung Abrahams und die Verpflichtung seiner Nachkommenschaft zum Gehorsam, die das Kriterium der Gültigkeit der Erwählung ist.14 Interessant, aber für den schulischen Unterricht zu weit führend, sind auch speziell die Stellen im Jubiläenbuch (Jub 11) und der "Apokalypse Abrahams" (ApkAbr 1-8)15, in denen Abraham mit seinem Vater bricht, da diese Stellen offenbar im Koran rezipiert werden, wie sogleich gezeigt werden soll.
Die entscheidenden Themen der oben genannten Texte aus Gen 12-25 sind folgende: Abraham stammt aus der Gegend am Euphrat und wandert auf Befehl Gottes nach Palästina aus (12,1-5). Gott erscheint ihm und verheißt ihm eine große Nachkommenschaft (15). Gott gibt ihm eine Bundeszusage und erlegt ihm die Beschneidung auf. Abraham wird im hohen Alter Vater und ist bereit, seinen Sohn zu opfern. Als wichtigste Elemente der Bedeutung der Figur Abraham im AT sollten heraus gearbeitet werden: Abraham ist der erste der drei "Erzväter" und der Ursprung des Volkes Israel. Die Israeliten verstehen sich als "Abrahams Kinder". Die Vätergeschichten sind Ausdruck des Staunens über Israels Geschichte bzw. das Wirken Gottes darin und entspringen dem Bedürfnis, das eigene Werden zu vergegenwärtigen.16 In der Figur Abraham kann man exemplarisch die Spannung von Verheißung und Erfüllung erkennen: Es gibt drei große Verheißungen, die auch ihre Erfüllung noch innerhalb des AT finden:
1. Nachkommen (Ex 3,1-10),
2. Besonderes Gottesverhältnis (Ex 19,1-6),
3. Land (Jos 21,43-45).
Die Abrahamfigur im Christentum
Im Neuen Testament sind die entscheidenden der 53 Abrahamstellen Mt 1,1-17, Mt 3,1-12, Joh 8,30-40(59), Röm 4 und Gal 3,1-18. Im Unterricht genügt es, von den zwei Paulusstellen nur eine zu behandeln, etwa Gal 3.
Im Stammbaum Mt 1,1-17 taucht Abraham in den Versen 1, 2 und 17 auf. Jesus wird als ein Nachkomme Abrahams ausgewiesen. Während die Nachkommenschaft Davids (V.1) auf den Messias Israels zielt, ist der Bezug auf Abraham schwieriger zu interpretieren. Ulrich Luz hält folgende Interpretation für am wahrscheinlichsten: "Es ist an die breite jüdische Tradition gedacht, die Abraham als Vater der Proselyten sieht. Die Wendung des Heils Israels zu den Heiden, ein dominierendes Thema des Matthäusevangeliums, ist bereits in seinem ersten Text angesprochen."17
In der Geschichte vom Bußruf Johannes des Täufers (Mt 3,1-12) findet sich Abraham im Vers 9: In der Überzeugung, man habe ja Abraham zum Vater und werde daher im kommenden Gericht verschont werden, entdeckt der Täufer eine falsche nationale Erwählungssicherheit. Durch die Ankündigung, Gott könne dem Abraham aus Steinen Kinder erwecken, wird nach Mt "Abraham vom falschen Anspruch, den die Juden in seinem Namen erheben, gelöst"18: Wenn Gott will, wird er ein neues Volk entstehen lassen, und zwar, wenn es sein muss, auch aus dem Leblosesten – aus Steinen. Bereits diese zwei Matthäusstellen deuten an, dass die Abrahamfigur sogar für das Verhältnis zwischen Juden und Christen keineswegs für eitel Sonnenschein, sondern eher umgekehrt für Spannungen sorgen kann. – Sehen wir weiter! In Gal 3,1-18 erfährt der Begriff der Abrahamskindschaft durch Paulus eine spektakuläre und provokative Neuinterpretation: Denn anders als die jüdische Auslegung des AT (und auch anderes als Johannes der Täufer) macht Paulus die Abrahamskindschaft nun im Glauben fest: Was Abraham zur Gerechtigkeit angerechnet wurde, war eben gerade nicht sein Gesetzesgehorsam, sondern ausschließlich sein Vertrauen auf Gott. Entsprechend sind die Kinder Abrahams nicht, jedenfalls nicht notwendiger Weise die, die biologisch seine Nachkommen sind, sondern die es "theologisch" sind: eben die, die "aus dem Glauben" sind, vgl. Gal 4,21-31. Genau von hierher und von Röm 4 her ist die Bedeutung der Figur Abrahams im NT die des "Vaters aller Gläubigen". Es ist in unserem Zusammenhang sekundär, ob man diese eigenwillige Interpretation von Gen 15,6 durch Paulus antijudaistisch nennen muss. Klar ist jedenfalls, dass auch hier die Abrahamfigur keineswegs zu Integrationszwecken, sondern gerade umgekehrt massiv zu Abgrenzungszwecken verwendet wird. Analog zeigt sich für die johanneische Theologie in Joh 8,30-59 der Unterschied zwischen lediglich leiblicher Nachkommenschaft Abrahams und "wirklicher" Kindschaft (in V.33-38 ist stets vom die Rede, in V.39 dann pointiert von ) nun plötzlich gerade darin, wie man sich zu Jesus als dem Verkünder der göttlichen Wahrheit stellt.
Die Abrahamfigur im Islam
Im Koran19 finden sich an verschiedenen Stellen Ibrahimgeschichten. Eine Auswahl an Suren, die die wichtigsten koranischen Aussagen über Ibrahim enthalten, könnte umfassen: 2,124-136; 3,64-68; 6,73-79; 9,114; 19,41-50; 21,58-69; 37,101-109.
An diesen Stellen wird Folgendes über Ibrahims Bedeutung für den Islam deutlich: Ihm wird zugeschrieben, die Kaaba in Mekka erbaut zu haben (Sure 2,125-127; 3,95ff.). Offenbar in Anlehnung an Jub 11 und ApkAbr 1-8 (s.o.) wendet sich Ibrahims Vater der Vielgötterei zu, was Ibrahim nicht akzeptieren kann. Nachdem er ihn in Sure 6 ernsthaft ermahnt hat und in Sure 26,69-102 und 43,26-28 Fürbitte für ihn gehalten hat, sagt er sich in Sure 9 sogar von ihm los, weil er erkennt, dass sein Vater ein Feind Gottes war. Ibrahim gilt als vorbildlicher Hanif (Gottsucher, Sure 3,67) und ist das Paradebeispiel für die Hingabe an Gott (Übersetzung des Wortes "Islam"). In genau diesem Sinne gilt er als "erster Moslem". Er ist weiterhin ein Beispiel für die islamische Vorstellung, dass man Gott allein aus Vernunftgründen (2,130; 3,65) und aus der Betrachtung der Natur (6,79) erkennen kann, ja: erkennen muss. Abraham zerstört die Götterbilder seiner Landsleute (21,58; 37,88-96), aber Gott errettet ihn, als er daraufhin im Feuer gelyncht werden soll (21,68f.; 37,97f.). Die Geschichte der Opferung des Sohnes findet sich in Sure 37, wobei hier nicht gesagt wird, um welchen Sohn es sich handelt. Die islamische Koranauslegung geht eher von Ismael aus. In den Suren 2 und 3 setzt sich der Koran dann explizit mit dem Umstand auseinander, dass Ibrahim auch von Juden und Christen vereinnahmt wird. Dort heißt es (in der Übersetzung der Azhar-Universität unter www.nur-koran.de):
Sure 2, 125-127.130-136
125 Wir haben die Kaaba zur Zufluchtsstätte und zum sicheren Ort für die Menschen gemacht. Wir sprachen: "Macht euch die Stätte, an der sich Ibrahim aufhielt, zur Gebetsstätte!" Ibrahim und Ismael haben Wir verpflichtet: "Ihr sollt Mein Haus für die Andächtigen rein halten, die es umschreiten oder sich darin zurückziehen, die vor Gott knien und sich niederwerfen."
126 Einst sprach Ibrahim: "Herr! Mache diese Stadt sicher und gewähre ihren Einwohnern Früchte, sofern sie an Gott und den Jüngsten Tag glauben!" Gott sprach: "Die Ungläubigen lasse Ich auf Erden kurz genießen, dann zwinge Ich sie am Jüngsten Tag zur Höllenstrafe. Welch schlimmes Ende!"
127 Ibrahim und Ismael legten den Grundstein des Heiligen Hauses und beteten: "Unser Herr, nimm es von uns an! Du hörst alles und bist der Allwissende." […]
130 Von der Lehre Ibrahims würde sich nur der abwenden, der sich zum Törichten macht. Im Diesseits hatten Wir ihn auserkoren, und im Jenseits gehört er gewiss zu den Rechtschaffenen.
131 Als sein Herr zu ihm sprach: "Ergib dich Mir!" sagte er: "Ich ergebe mich dem Herrn der Welten!"
132 Ibrahim empfahl seinen Kindern, den wahren Glauben zu befolgen. Dasselbe tat Jakob, der seinen Kindern sagte: "Gott hat euch diese Religion ausgewählt. Bevor der Tod euch dahinrafft, müsst ihr (an Gott allein glauben und) euch Ihm ergeben."
133 Oder seid ihr etwa anwesend gewesen, als der sterbende Jakob seinen Kindern sagte: "Wem werdet ihr nach meinem Tod dienen?" Sie sprachen: "Wir werden deinem Gott dienen, dem Gott deiner Vorfahren Ibrahim, Ismael und Isaak, dem einzigen Gott. Ihm sind wir ergeben."
134 Das sind Menschen, die einst gelebt haben. Sie sind verantwortlich für ihre Werke, und ihr habt eure Werke, für die ihr verantwortlich seid. Ihr werdet nicht wegen ihrer Taten zur Rechenschaft gezogen.
135 Die Juden sagen: "Seid Juden, so geht ihr den richtigen Weg!" Die Christen sagen: "Seid Christen, so geht ihr den richtigen Weg!" Sage du ihnen: "Eher sollte man sich zum reinen Glauben Ibrahims bekennen, der Gott nichts beigesellte."
136 Sagt: "Wir glauben an Gott, an den uns herab gesandten Koran, an die Offenbarungen, die Ibrahim, Ismael, Isaak, Jakob und Jakobs Kindern herab gesandt wurden, an das, was Moses, Jesus und den Propheten offenbart wurde. Wir machen keinen Unterschied zwischen den Propheten, und wir ergeben uns Gott allein."
Sure 3, 64-68
64 Sprich: "Ihr Schriftbesitzer! Kommt herbei und einigen wir uns auf ein für uns alle verbindliches Wort: dass wir Gott allein dienen, neben Ihm niemanden anbeten und dass nicht die einen von uns die anderen anstelle Gottes für ihre Herren halten!" Wenn sie sich aber abwenden, dann sprecht: "Ihr sollt bezeugen, dass wir Gott ergeben sind."
65 Ihr Schriftbesitzer! Warum führt ihr Streitgespräche über Ibrahim (und behauptet, er sei Jude oder Christ gewesen)? Die Thora und das Evangelium sind doch lange nach ihm herab gesandt worden! Bedient ihr euch nicht eures Verstandes?
66 Ihr habt einst Streitgespräche über Dinge geführt, über die ihr etwas wisst; warum führt ihr nun Wortgefechte über Dinge, über die ihr nichts wisst? Gott weiß alles, aber ihr wisst nichts.
67 Ibrahim war weder Jude noch Christ! Er war vielmehr ein Gott ergebener Hanif und gehörte keineswegs zu denen, die Gott andere Gottheiten beigesellen.
68 Diejenigen Menschen, die am ehesten Anspruch auf eine Zugehörigkeit zu Ibrahim haben, sind fürwahr jene, die in seine Fußstapfen treten wie dieser Prophet und die, die an ihn glauben. Gott ist es, der sich der Gläubigen annimmt.
Es ist deutlich, dass es keineswegs islamisches Selbstverständnis ist, Ibrahim sei eine Figur der Gemeinsamkeiten mit Juden und Christen – das glatte Gegenteil ist der Fall: An Ibrahim können exemplarisch die Verirrungen von Juden und Christen aufgezeigt werden, von denen die schlimmste traditionell die "Beigesellung" ist (2,135 und 3,67), also das Nichtdurchhalten eines strikten Monotheismus. Juden und Christen haben sich von der durch Ibrahim grundgelegten Urreligion abgewandt, die nur im Islam sachgemäß fortgesetzt wird – kurz: Ibrahim dient nicht dazu, Einigendes, sondern Trennendes aufzuzeigen!
3. Abschließende Überlegungen
Als Zuspitzung wäre noch folgender (anspruchsvoller) Unterrichtsschritt möglich: Es lässt sich herausarbeiten, dass zumindest die christliche und die muslimische Abrahamvorstellung zwar in der Tat Trennendes betonen, dabei aber nicht stehen bleiben, sondern trotzdem ihr je eigenes Abrahamverständnis durchaus als Möglichkeit einer Annäherung der Religionen verstehen: Das richtige Verständnis Abrahams wäre nach ihrer Meinung in der Tat gerade dazu geeignet, eine Integration herbeizuführen, nun aber schärfer verstanden nicht nur als Finden von Gemeinsamkeiten, sondern sogar als Übernahme der anderen Position: Denn wer nur richtig versteht – so die jeweils analoge Argumentation der beiden Religionen –, wofür Abraham "tatsächlich" steht, der wird auch zu der jeweils als "wahr" proklamierten religiösen Erkenntnis gelangen: Christen und Juden sollen aus Sicht des Islam verstehen, dass Abraham für die Hinwendung zu Gott und den strikten Monotheismus steht. Das Judentum soll aus christlicher Perspektive verstehen, dass Abraham für das unbedingte Vertrauen auf Gott steht. Mit anderen Worten: Die Abrahamfigur betont nicht nur Trennendes, sondern in ihr stoßen Integrationsstrategien aufeinander, die erstens untereinander inkompatibel sind und zweitens eine Tendenz zur Vereinnahmung haben und daher gerade kein Beispiel für einen gelungenen Dialog sind! Eventuell lässt sich diese Erkenntnis im Unterricht durch einen Impuls der Art herbeiführen: "Schreiben Sie einen Text aus der Sicht eines Christen bzw. eines Moslems, der darlegt, warum Abraham – wenn man ihn nur richtig versteht – als Integrationsfigur dienen kann!"
Stellt man abschließend die Frage, ob und inwiefern Abraham als Integrationsfigur für den interreligiösen Dialog taugt, können Schülerinnen und Schüler ohne weiteres beispielsweise folgende Argumente benennen:
Dafür:
• Abraham kommt in allen drei Religionen prominent vor.
• Abraham ist in allen drei Religionen ein frommer Mann, der nur einen Gott verehrt (auch wenn der Koran die Christen der "Beigesellung" bezichtigt).
• Abraham begründet gleichsam die Notwendigkeit des Interreligiösen Dialogs, da alle drei Religionen wie eine Familie gesehen werden können.
Dagegen:
• An prominenten Stellen im NT und im Koran dient Abraham in Wahrheit gerade dazu, die Differenzen der Religionen untereinander aufzuzeigen.
• In der Abrahamfigur stoßen inkompatible Integrationsstrategien aufeinander.
• Im Koran (und in der frühjüdischen Apokalyptik) ist Abraham gerade kein Vorbild für Toleranz gegenüber anderen religiösen Vorstellungen, sondern eher für Intoleranz, da er sich von seinem Vater aufgrund verschiedener religiöser Auffassungen lossagt.20
• In keiner (!) der drei Religionen spielt Abraham die Hauptrolle, sondern im Judentum Mose (oder gar Jakob?), im Islam Mohammed und im Christentum Jesus.
Die insgesamt skeptische Antwort auf die Ausgangsfrage dieses Beitrages muss nun allerdings gerade nicht dazu führen, den Unterrichtsgegenstand zu eliminieren – im Gegenteil: Man kann den Stier auch gleichsam bei den Hörnern fassen und herausarbeiten, dass die Gemeinsamkeiten bei der Gestaltung der Abrahamfigur zwar ganz nett sind, dass aber auch in einer Figur, die in allen drei Religionen vorkommt, trotzdem Fremdes und Abgrenzung bestehen bleibt, und zwar deswegen, weil "Abraham nicht ein allen vorausliegender Ursprung, sondern selbst schon Teil der jeweiligen Tradition ist."21 Dieser Umstand muss aber nicht zur Beendigung des Interreligiösen Dialogs führen, sondern kann ihn auch beleben.
Insofern ist der für das niedersächsische Zentralabitur 2006 Verbindliche Inhalt "Christentum und Islam als abrahamitische Religionen" didaktisch klug gewählt, denn er hat exemplarische Bedeutung für die Frage nach einem angemessenen religiösen Miteinander, insofern er zeigt, dass es zwischen den Religionen Differenzen gibt, die nicht zufällig bedingt sind, sondern sich aus dem Wesen der jeweiligen Religion und sogar aus dem geschichtlichen Bedürfnis der Abgrenzung ergeben haben und hinter die man schwerlich wieder zurückkommen wird. So macht das Thema deutlich, dass sich eine Annäherung der Religionen auf dem Wege des Suchens nach einer allen zugrunde liegenden Urreligion kaum durchführen lässt. Die Benennung dieser Differenz ist nun aber gerade nicht das Ende des interreligiösen Dialoges, sondern sein Anfang: Erst durch eine Verständigung über Gemeinsamkeiten und Differenzen ist das "gemeinsame … Bemühen …, menschliches Wohlergehen herzustellen oder zu fördern"22 überhaupt möglich, denn andernfalls wird man in Misstrauen und Ressentiment verbleiben.