Vorüberlegungen
Das Leben vieler Kinder ist von Unfrieden, Gewalt, Angst und Sorge getrübt – auch in Deutschland. So nimmt die Zahl derjenigen Kinder zu, die in armen Verhältnissen aufwachsen; mehr als früher rückt ihnen eine bedrohte Zukunft ins Bewusstsein, ängstigt sie und lässt den Traum vom Frieden in den Hintergrund treten. In unserer unfriedlichen Welt ist es nicht nur für uns Erwachsene, sondern vor allem auch für Kinder schwer vorstellbar, was wirklicher Frieden ist oder sein kann.
Die Herausforderungen heutiger Kindheit wahrzunehmen heißt, sich mit der Situation der Kinder auseinander zu setzen und sie anzunehmen. Aus diesen Gründen wird es sinnvoll und notwendig, Kinder für die Sehnsucht nach Frieden zu sensibilisieren, in ihnen Träume und Bilder vom Frieden entstehen zu lassen und ihnen Sprache dafür zu geben.
Mit Kindern einer vierten Grundschulklasse mache ich mich auf den Weg, die "Gesichter des Friedens" zu ergründen. Auf diesem Weg halten wir an verschiedenen Stationen inne, geben Ängsten vor Krieg und Gewalt Raum und Sprache und versuchen, den verschwommenen Vorstellungen und Sehnsüchten vom Frieden Kontur zu verleihen. Im Mittelpunkt stehen dabei theologische Gespräche mit den Kindern, aus denen auch ich lerne, die biblischen Friedensverheißungen und ihre Botschaft neu zu entdecken.
Zur Praxis des Unterrichts
Frieden – was ist das?
Um den Kindern die eigenen Friedensvorstellungen bewusst zu machen, wird in der ersten Unterrichtsstunde im Kreis ein stilles Brainstorming durchgeführt. Dazu lege ich nach einigen Erklärungen zur Vorgehensweise ein Blatt Papier in die Mitte, auf dem das Wort "Frieden" steht. Die Kinder nehmen daraufhin kleine Karten, schreiben ihre Assoziationen dazu auf und legen sie in die Kreismitte (Rechtschreibung ist unwichtig, pro Karte nur ein Gedanke; Anregungen bei den anderen Kindern zu holen ist erlaubt, zu reden allerdings nicht).
Nach einer kurzen Schreibphase werden die Karten vorgelesen und geordnet. Hierbei haben die Kinder die Möglichkeit, sowohl ihre Ängste (vor Krieg und Sterben, Waffen, traurigen und leidenden Menschen) als auch ihre Hoffnungen und Sehnsüchte (nach Gemeinschaft und Freiheit, Freude und Lachen, nach Freunden und Glück, nach Händeschütteln) zum Ausdruck zu bringen. Das Ordnen verdeutlicht dies und macht zudem klar, dass sich die Kinder vor allem des "vermissten" Friedens, der verschiedenen Ebenen von "Krieg", bewusst sind: des Krieges in fernen Ländern mit zerstörten Häusern und Menschen, die um Tote trauern, und des Streits (in der Familie, in der Klasse, mit den Freundinnen und Freunden), der auch die Kinder unglücklich und traurig macht und Sprache und Raum braucht. Diese Vorstellungen sind den Kindern präsenter als Bilder gelungenen Friedens, die eher abstrakt klingen: Mut, Glück, Gerechtigkeit.
Den Frieden darstellen
Die zweite Stunde beginnt mit einem kurzen Blitzlicht: Was ist für dich das Wichtigste am Frieden? Anschließend wird das Gedicht eines 13-jährigen Mädchens (M 1) aus Beersheba in Israel in vier Teilen nacheinander in die Kreismitte gelegt. Anhand der einzelnen Strophen lässt sich mit den Kindern die Situation des Mädchens erarbeiten, die nach der Friedensvision "schreit". Mit Feuereifer machen sich die Kinder daran, die Bedeutung der Farben für das Mädchen zu entschlüsseln. Auf meinen Einwand, Rot könne doch z.B. auch für Mohnblumen statt für Wunden stehen, entgegnet rin Kind: "Ist doch klar, die hat gar keine Augen für was Schönes. Wenn die an Rot denkt, denkt sie nur an Tote und Verletzte. Das ist doch der Alltag!"
Sehr motivierend ist auch der letzte Vers des Gedichts, der nach einer eigenen kreativen Umsetzung der Kinder verlangt. Ich entscheide mich für die Gestaltung eines Friedensbildes mit Lege-Materialien, die ich bei leiser Musik in der Kreismitte auslege.
Die Materialien zum Legen können sehr vielfältig aussehen: farbige Tücher, Woll-, Filz- und andere Stoffreste in verschiedenen Formen, Holzstäbe, -kugeln, -quadrate, -dreiecke in verschiedenen Farben. Gut eignen sich vor allem auch Naturmaterialien wie Steine, Muscheln, Kastanien, Eicheln; Knöpfe, Murmeln, Gardinenringe, Glasnuggets etc. Wichtig für das Arbeiten ist eine relative Offenheit des Materials, das die Phantasie anregen soll.
Die entstandenen sehr unterschiedlichen Bilder fotografiere ich und gebe sie den Kindern in der darauf folgenden Stunde als Foto zurück. Die Jungen und Mädchen erhalten die Aufgabe, ihrem Bild einen Titel zu geben und es auf einem Schmuckblatt zu "verschriftlichen".
- "Zusammen unter einem Dach: Ich finde, Frieden bedeutet zusammen zu arbeiten. Darum habe ich ein Zelt gelegt und darunter verschiedenfarbige Perlen für verschiedene Krieger aus verschiedenen Ländern. Vorher hatten sich diese Gruppen bekriegt, doch jetzt arbeiten sie gemeinsam."
- "Die Natur in Frieden: Die Natur ist für mich das Wichtigste. Wenn ich im Sommer durch einen Wald gehe, dann komme ich mir wie verzaubert vor und ich habe nur ein einziges Gefühl: Glück. Am liebsten würde ich sogar in der Natur leben, so wie die Indianer."
"Das Gesicht des Friedens"
Die nächste Stunde beginnt mit dem Hinweis, dass auch der Maler Pablo Picasso zum Frieden gemalt habe.1 Es folgt eine rege Auseinandersetzung mit dem Bild, das die Kinder sehr anspricht. Schnell erkennen sie, dass die Gesichter die verschiedenen Menschen auf der Welt darstellen. Auf die Frage, welchen Titel sie ihm geben würden, kommen verschiedene Vorschläge: "Frieden in der Welt", "Friedenstaube", "Friedensgesichter". Nach dem Hinweis darauf, dass das Bild keinen Titel hat, in einem Religionsbuch2 aber "Das Gesicht des Friedens" genannt wird, kann ich einige Kinder denken sehen: "Ah, das ist, weil nur, wenn alle Menschen überall auf der Welt Frieden haben, Frieden sein kann. Und dann hat der Frieden eben nur ein Gesicht."
Im weiteren Verlauf der Stunde lege ich um Picassos Bild in der Kreismitte verschiedene Bibelsprüche aus, die nacheinander besprochen werden (M 2). Die Kinder beschäftigen sich intensiv mit den biblischen Aussagen, wobei der Bezug zum Frieden unterschiedlich schnell klar wird. Beispielhaft soll hier der Denkprozess der Kinder nachgezeichnet werden.
- Gerechtigkeit und Friede küssen sich (Ps 85,11): "Die beiden haben sich so doll lieb, dass einer ohne den anderen nicht leben kann."
- Denn Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens (1. Kor 14,33): "Mit der Unordnung kann ja auch Krieg gemeint sein. Und Gott schickt nicht den Krieg, sondern eigentlich Frieden. Aber manche nehmen das Geschenk von Gott nicht an und machen es kaputt." Frieden ist nicht ohne Gerechtigkeit möglich und umgekehrt, so die Erkenntnis der Kinder.
- "Wenn dir jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin" (Mt 5,29). Der Spruch löst zunächst Kichern aus und die Frage, was das mit Frieden zu tun haben solle. "Na ja, wenn ich jetzt Christian haue und der haut nicht zurück und zeigt auf seine andere Wange, dann wundere ich mich vielleicht so doll, dass ich auch aufhöre. Und das hat dann schon was mit Frieden zu tun."
In der nächsten Stunde bekommen die Kinder ein Arbeitsblatt mit dem Umriss des Picasso-Bildes (M 3) und ein Stück rotes, blaues und gelbes Tonpapier in Form der dortigen Tropfen. Die Bibelsätze werden in Erinnerung gerufen (was problemlos klappt!) und an die Tafel gehängt. Jedes Kind darf jetzt den Spruch, der es am meisten anspricht, auf das Tonpapier schreiben und diesen anschließend zusammen mit einer Begründung auf das Arbeitsblatt kleben sowie ausdrucksvoll gestalten.
Friedens-Vorstellung
Die letzten beiden Stunden der Unterrichtseinheit dienen dazu, das Gelernte zu bündeln, es Revue passieren und in eine kleine Ausstellung münden zu lassen. Dazu legen wir nacheinander alle Materialien, mit denen wir gearbeitet haben, in die Kreismitte. Im Mittelpunkt der Besprechung steht dabei die Frage, was wir Neues über den Frieden gelernt haben. Den Kindern wird bewusst, dass nicht nur sie selbst, sondern alle Menschen auf der Welt (Kinder anderswo, Künstler wie Picasso und Menschen der Bibel) sich Frieden wünschen, dass sich das Gesicht des Friedens und seine Farbe aber danach richten, was man selbst erlebt. Aus den theologischen Gesprächen ist den Kindern die Erkenntnis wichtig geworden, dass sie sich von Gott beschützt wissen dürfen, dass Gott den Frieden will und dass sie selbst einen Beitrag dazu leisten können.
Die Kinder bekommen abschließend je einen gelben Tonkarton im DIN-A-4-Format, den sie mit ihrem gelegten Bild unter der Fragestellung gestalten sollen: Was ist für dich das Wichtigste am Frieden? Viele Kinder erklären kurz ihr Bild, die meisten schreiben ihren gewählten Satz aus der Bibel mit auf, und einigen gelingt es sogar, diesen mit der Aussage ihres eigenen Bildes zu verbinden. Bevor die entstandenen Werke in der Eingangshalle ausgestellt werden, haben alle Kinder die Möglichkeit, sie in der Kreismitte zu betrachten und Fragen zu stellen.
Wir vergleichen die Stichworte des Brainstormings mit unseren Ergebnissen und stellen fest, dass die anfänglichen Friedensvorstellungen nun viel konkreter geworden sind. Begriffe wie "Glück" und "Freiheit" sind mit Leben gefüllt worden: Menschen und Tiere tanzen gemeinsam, sie werden von Gott – dargestellt durch eine goldene Kugel – beschützt.
Die Gespräche mit den Kindern haben mir gezeigt, wie wichtig es ist, die Sehnsucht nach Frieden zu nähren und Bilder entstehen zu lassen, die diese Sehnsucht mit-teilbar machen. Egal, welches Gesicht des Friedens wir betrachten: Im Dialog mit der Bibel geht es darum, uns von den biblischen Friedensverheißungen anrühren zu lassen und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass Krieg und Angst nicht das letzte Wort haben werden.
M 1 Gedicht einer 13-jährigen israelischen Pfadfinderin aus Beersheba Ich hatte eine Schachtel mit bunter Kreide Ich hatte kein Rot für die Wunden, Ich hatte Orange für die Lebensfreude, Ich setzte mich hin und malte FRIEDEN |
M 2 Biblische Verheißungen Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn du allein, HERR, hilfst mir, dass ich sicher wohne. (Ps 4,9) |
M 3 |
Anmerkungen
- Es handelt sich bei diesem Bild um einen Ausschnitt aus einem Halstuch anlässlich der 3. Weltfestspiele der Jugend in Berlin 1951.
- Steinwede, Dietrich: Religionsbuch Oikoumene 4. Den Frieden suchen, Düsseldorf 1996, S. 59