Mediale Gewalt wirkt immer, aber wie! – Was ich sehe, macht mich heiß

von Michael Künne

 

– Über den Einfluss medialer Gewalt auf Kinder –

 Wenn an dieser Stelle von Kindern die Rede ist, dann sind jene Kinder gemeint, die in Kindertagesstätten und in die Grundschulen gehen, also Kinder im Alter von 4-11 Jahren. Beginnt man hier bei den Jüngsten, dann handelt es sich um Kinder, die grundlegende Fertigkeiten bereits gelernt haben. Sie können gehen, stehen, laufen, sprechen, sehen, Nahrung aufnehmen und Nahrung abgeben. Sie ahnen, wer sie sind. Sie kennen ihren Namen und sie wollen ein Ich werden. Die grundlegende Phase der Enkulturation liegt hinter ihnen, die der Sozialisation liegt vor ihnen. Beide überschneiden sich dabei im Prozess der Ichwerdung. Dabei ist der hier verwendete Begriff des Ichs so komplex, dass er an dieser Stelle vereinfachend nur im umgangssprachlichen Sinn verwendet wird: Als Aspekt des Werdens einer Person, der Verhalten, Selbstbewusstsein, Selbstwahrnehmung und Bildung des Gewissens umschließt. Das Kind hat bislang einen »Haufen« gelernt und mit diesem »Haufen« geht es in die Vielzahl seiner neuen Beziehungen und Situationen des Kindergartens und später der Grundschule. Zu diesem »Haufen« gehören seine körperlichen Fähigkeiten, seine körperliche Ausrüstung, alle seine Sinne. Der wichtigste Sinn zum Lernen ist dabei der Seh-Sinn. 60% dessen, was Kinder lernen, lernen sie über das Auge. Und mit diesen Augen wird die Welt und damit auch die Gewalt in der Welt, begegne sie nun real oder medial, wahrgenommen.

Mit den wesentlichen Elementen der Ichwerdung, der Gewissensbildung und des Sehvermögens und der damit gegebenen Möglichkeit des Lernens geht das Kind nicht nur in die Kindertagesstätte und in die Grundschule, sondern in eine Welt, die zunächst überwiegend eine Nahwelt ist. In dieser Nahwelt gibt es Gewalt. Aber diese Nahwelt wird auch ständig durchbrochen und erweitert durch das Fernsehen, das ja ein Fenster zur Welt ist, aber eben ein Fenster mit einem ganz bestimmten Programm, in dem Gewalt aus unterschiedlichen Gründen eine wichtige Rolle spielt. In dieser Zusammenstellung von Ichbildung, Gewissensbildung und Sehen wird das Problem bereits deutlich, aber es wird auch klar: Das Fernsehen ist zunächst nur ein Faktor unter vielen. Und: Gewalt kommt nicht nur im Fernsehen vor, in der Fernwelt, sondern ebenso in der Nahwelt, in der unmittelbaren Umgebung des familiären Lebens, im Kindergarten und in der Schule. Da ist die elterliche Gewalt, – vom Gesetzgeber so genannt. Lange hat man sie verleugnet, jetzt ist sie unter dem neuen Namen des »Muts zur Erziehung« wieder im pädagogischen Gespräch. Jetzt wird gefordert, »Grenzen« zu setzen, aber das kann man nur, wenn man auch willens ist, Sanktionen zu ergreifen, wie immer sie auch aussehen mögen. So gibt es »Gewalt« in Form von Erziehung und durchaus lautstarkem »Nein« bereits in der Kleinfamilie. Natürlich auch in der Kindertagesstätte und in der Schule mit ihrer Schulordnung. Drohende Blicke, Spielverweigerung, Spaßverweigerung, Beleidigungen verbaler Art oder Aggressivität untereinander, – auf dem Spielplatz, unter Geschwistern, unter Freunden. Gewalt als erlittene oder ausgeübte ist Kindern also nicht fremd, denn sie gehört zum Leben wohl nicht nur des westlichen Kulturkreises von Anbeginn an hinzu.

Die Griechen empfanden sie als normal und entschlossen sich zur rechtlichen Ordnung eines von Natur aus als unfriedlich gedachten gesellschaftlichen Zustandes, den man gleichsam gesetzlich regeln musste, damit Frieden überhaupt erst möglich wurde. Die biblische Geschichte zeigt denselben Trend. Von Kain und Abel und den Zeiten des Krieges oder Unfriedens hin zum Friedensreich der messianischen Endzeit, das ganz realistisch als erst zukünftig gedacht und erhofft wurde. In dieser Welt voller Gewalt, aber im Warten auf eine Welt ohne Gewalt leben Erwachsene und heranwachsende Kinder und darin versuchen sie, zunehmende Weltkompetenz zu erlangen, jeweils im Wechselspiel von Ich und Welt, – aber einer Welt, in der eben auch Gewalt vorkommt. Dabei steht nicht in Frage, ob Gewalt vorkommt, ob es sie geben soll oder nicht, – obwohl wir alle sie vermindern wollen, unbeschadet der Tatsache, ob uns dies gelingt oder nicht, die Frage ist vielmehr: Wie können wir ihr angemessen begegnen, um möglichen Schaden zu minimieren, wohl wissend, dass wir das Fenster zur Welt, den Fernseher, offen halten müssen. Denn wir können den elektronischen Markt nicht abschaffen und es hat keinen Sinn, ihn zu verteufeln. Das Fenster zur Welt bedingt neben der realen Welt auch den Fernseher, den Film und die elektronischen Medien.

Die immer schon vorhandene Gewalt begegnet Kindern im Fenster zur Fernwelt, im Fernseher, allerdings häufig in äußerst komprimierter Form. Aber dort wiederum in ganz unterschiedlicher Gestalt: als kaum beachtetes Element im Märchen, in den turbulenten gewalttätigen Szenen des Zeichentrickfilms, in Spielfilmen und natürlich in den nicht für Kinder gedachten, aber in der Regel von ihnen wahrgenommenen Nachrichten und deren Eigengesetzlichkeit.

Das Kind wird also mit einer Vielzahl von Gewaltakten ganz unterschiedlicher Art konfrontiert, es kann sie sehen, aber sie betreffen es im Reich der Medien scheinbar nicht. Sie sind fiktiv – aber zugleich ein gefüllter Beutel der Fantasie. Und Fantasie, richtig angeregt, ist allerdings nun oft mächtiger als die Realität. Der Wirklichkeit kann es sich über weite Strecken entziehen, der Fantasie, den inneren Bildern, nur schwer, wenn überhaupt.

Im Fernsehen begegnet also

  • reale, aber angeschaute Gewalt, – als Bild,
  • als nicht benennbare Gewalt in Form von unerträglicher, aber zugleich erwünschter Spannung, die auf die Betrachter wirkt, der gegenüber man sich aber, einmal zugelassen, nicht wehren kann.Das Fernsehen als Fernsehen, was in der Regel kaum wahrgenommen wird:
  • als Programm, das meine Zeit steuert und vereinnahmt.
  • als Bildfolge, die den Betrachtern Omnipotenz und Allgegenwart zuweist, denn die Augen der Kamera sind ihre Augen.
  • als Bildfolge, der man sich anpassen muss und der man häufig nicht folgen kann im schnellen Wechsel von Bild, Musik und Sprache.

Wie aber wirkt nun die dort dargestellte und gezeigte Gewalt auf die Kinder des Kindergartens und der Grundschule? Was sagt die Forschung?

Will man diese Fragen beantworten, so steht man vor einem Dilemma. Zwar sind die Wirkungen medialer Strukturen durch geschärfte Beobachtung zwingend aufweisbar (Tagesrhythmus, Seh- und Sprachgewohnheiten, Weltverhältnis etc.), aber der Zusammenhang von real vollzogener Gewalt und medial dargestellter Gewalt ist in der Medienwirkungsforschung keineswegs eindeutig festgestellt und ausgesprochen schwierig zu erfassen, da sie es mit einer kaum überschaubaren Zahl von Faktoren und kaum entwirrbaren Faktorenbündeln zu tun hat. Betrachtet sie ihren Untersuchungsgegenstand nur von außen, dann ist sie zu weit entfernt, übt sie sich in teilnehmender Beobachtung, dann verfälscht sie gerade dadurch möglicherweise die Ergebnisse. Hinzu kommt die Auftrags- und Interessengebundenheit der Forschungsprojekte, die entweder den angerichteten Schaden nachweisen oder den fördernden Effekt belegen sollen. Entweder sind die Sender selbst aus Legitimationsgründen um entsprechende Nachweise bemüht oder aber der Jugendschutz und die ihn vertretenden Einrichtungen sind an spezifischen Ergebnissen interessiert. In der Regel arbeitete man bislang mit fünf tradierten Hypothesen, die kurz genannt werden sollen, weil sie auch im pädagogischen Alltagsgespräch immer wieder auftauchen.

  1. Die Stimulationshypothese geht von der Bereitschaft aus, selbst aggressiv zu handeln, um eigene Ziele durchzusetzen. Angeschaute und sekundär erlebte Gewalt erhöht dieser Hypothese zufolge die Wahrscheinlichkeit, auf Grund des gesehenen Anreizes selber entsprechend zu handeln.
  2. Die Habitualisierungshypothese geht von der Annahme aus, dass wiederholtes Ansehen gewalttätiger Szenen zur Abstumpfung führe, sowohl beim realen wie beim medialen Miterleben.
  3. Die Erregungshypothese setzt eine starke Empathie mit einem Protagonisten voraus, so dass sich daraus die Haltung bildet: Was mein Held, mein Vorbild darf, das will und kann und darf ich auch.
  4. Die Suggestionshypothese basiert auf der Annahme des Vorbildcharakters des Fernsehens. Was im Fernsehen gezeigt wird, und dazu gehört Gewalt als Lösungsmöglichkeit in Konflikten, das gibt es so, und was es gibt und was gezeigt wird, das ist auch erlaubt.
  5. Die fünfte Hypothese arbeitet mit dem Modell des sozialen Lernens. Mein Held handelt gewalttätig und hat damit Erfolg. Er ist deshalb Vorbild meines Handelns.

Keine dieser Hypothesen ist bislang im Sinn eines eindeutigen Ursache-Wirkungszusammenhangs belegt oder widerlegt. Ein klarer Trend zeigt sich allerdings: Je realistischer die Darstellungen sind, desto gewaltsamer empfinden die Zuschauer die gezeigte Gewalt, … desto stärker sind ihre Reaktionen, desto eher rufen sie aggressive Reaktionen, wenn auch von unterschiedlicher Dauer und Intensität hervor. Dies gilt vor allem für männliche Jugendliche und besonders dann, wenn der Zuschauer allein dem Gezeigten ausgesetzt ist. Der Zusammenhang mit real ausgeübter Gewalt ist damit aber kein zwingender, sondern nur ein bisweilen möglicher. Entscheidend ist zudem in jedem Fall Art und Form der Rezeption. Kann das Gesehene mit anderen zusammen erlebt werden und wie reagieren diese (bedeutsam) anderen darauf? Bin ich mit meinen Reaktionen erwünscht oder werde ich belächelt? Kann ich über das Gesehene sprechen und wie reagieren meine Partner darauf? Kann ich meine Ängste (die ich vielleicht durchaus herbeiwünsche) lösen oder bleibe ich damit allein?

Damit erweist sich neben vielen Vermutungen und offenen Fragen die Rezeptionssituation als eine entscheidende Größe für die Antwort auf die Frage nach der Schädlichkeit von Gewaltdarstellungen in den Medien. Ein zweiter wichtiger Aspekt innerhalb dieser Situation ist zudem der nach dem Träger der Situation, nach dem sich aufbauenden Ich und dem sich damit bildenden Weltbild. Zwar gibt es für die Gruppe der Tagesstättenkinder keine spezifischen Untersuchungen zum Verhältnis von Weltbild und medialer Wahrnehmung, wohl aber gibt es Untersuchungen (Theunert und Schorb), die ihr Hauptaugenmerk auf die Konstruktion der Weltbilder im Hinblick auf die Gruppe der 8- bis 13-Jährigen legen. Ohne an dieser Stelle auf die der Untersuchung zu Grunde liegende Methodik einzugehen, ergibt sich dabei folgendes Stufenmodell, das als »lockeres« Modell verstanden sein will und sich zweifellos am aufsteigenden Alter orientiert, ohne dass es sich darauf fixieren lässt.

Ist das Ich noch Maß aller Dinge, kann man von einem ausgesprochen egozentrischen Menschenbild reden. Als wichtig wird wahrgenommen, was der eigenen Person von anderen angedroht oder angetan wird. Auch im Blick auf andere Menschen wird dabei die Ichperspektive nicht verlassen. Gewaltgeschehen, das Kinder mit diesem Menschenbild realisieren, müssen sie in Bezug zu sich setzen können, um dessen Bedeutung zu fassen. Das ist ihnen bei entsprechenden Fernsehangeboten nur beschränkt möglich. Grausame Bilder lehnen sie ab und reagieren darauf mit Angst und Ekel. Wesentlich sind sie an die Reaktion der Eltern gebunden.

In einem zweiten Weltbild, das man das regelorientierte nennen könnte, dominieren bereits unumstößliche Grundsätze, nach denen sich das Handeln von Menschen vollzieht, Regeln, die auch für das eigene Handeln gelten. »Du sollst nicht« und »Du darfst nicht« spielen hier eine zentrale Rolle. Sie dienen als Maßstab des eigenen Handelns und dazu, sowohl das Handeln der Bezugspersonen wie der Fernsehfiguren zu bewerten. Werden diese Regeln verletzt, dann tangiert das ihre Gewaltschwelle und sie beziehen Position dagegen. Ihr Protest richtet sich dabei gegen die Regelverletzung an sich. Auch hier reagieren sie mit Angst und Abwehr, aber eben, weil grausame Bilder »sich nicht gehören«.

Erst in einem normativ emotionalen Menschenbild basiert die Ablehnung von Gewaltdarstellungen auf einem ethischen Maßstab. Auf einem Maßstab, der Humanität in den Mittelpunkt stellt und Menschlichkeit für das Miteinanderleben einfordert. Zentral ist das Postulat »alle Menschen sind gleich«. Deswegen leiden diese Kinder beim Betrachten gewalttätiger Szenen. Sie fühlen mit den Betroffenen mit und sind selbst eben dadurch betroffen. Die Reaktion ist überwiegend gefühlsbestimmt und ihre Reaktion erfolgt äußerst emotional.

Das normativ-rationale Menschenbild basiert dann auf einem ethischen Gerüst, das begründet und reflektierbar ist. Erfolgt im normativ-emotionalen Menschenbild eine Ablehnung von Gewaltszenen aus einem Mitleiden heraus, wenn auch an ethischen Regeln orientiert, so lehnt man nun Gewaltszenen ab und weiß auch warum. In welchem Maße sich welches Weltbild ausprägt, hängt wiederum wesentlich vom Alter, von der Reaktion der Eltern, also der relevanten Bezugspersonen, dem Anregungspotential der Umwelt und von der situationsgebundenen Darstellung der jeweiligen gewalttätigen Szenen im Fernsehen und in der Wirklichkeit ab. Wegen dieser Komplexität des Sachverhalts lassen sich keine allgemein gültigen Rezepte zu einer vor Gewaltdarstellungen gesicherten medialen Kommunikation aufstellen. Es kann vielmehr nur um das Angeben von Trends und Wahrscheinlichkeiten gehen.

Bedenkt man jedoch die Breite des emotionalen Raumes sowohl auf Seiten der Gewaltdarstellungen wie auf der Seite der Rezipienten und ihrer je spezifischen Situationen, dann wird deutlich: Wesentlich für eine gelingende Verarbeitung unterschiedlichster Gewaltszenarien ist in jedem Fall die kommunikative Geborgenheit des Kindes in einem Umfeld relevanter Bezugspersonen, die in der Lage sind, Gesehenes emotional und reflektierend miteinander zu besprechen. So sind es weniger die im Fernsehen gezeigten Gewaltszenarien als vielmehr das pädagogische Klima, in dem Kinder leben und agieren. Will man deshalb überhaupt von Prävention oder pädagogisch orientierter Nacharbeit sprechen, dann kann dies nur in emotional positiv besetzten Räumen mit relevanten Bezugspersonen in kommunikativer Atmosphäre geschehen. Und ebenso dürfte die Rezeption gewalttätiger Szenen durch Kindergarten- und Grundschulkinder nur in einer diesen Kriterien entsprechenden Situation geschehen – der Ichbildung, der Gewissensbildung und dem sich ausprägenden Weltverhältnis und Weltverstehen zuliebe.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2002

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