Kinder als Kirchenpädagogen – Ein Greifswalder Projekt zum Nachmachen

von Irmfried Garbe

 

Der Anlass

"Ist das ein Plumpsklo?" fragt ein Junge im Chorraum des Greifswalder Doms St. Nikolai. Er steht mit seinen Schulkameraden vor dem hölzernen Taufstein – 1830 vom Bruder Caspar David Friedrichs gefertigt. Seine Frage ist kein Witz; er möchte wirklich wissen, woran er ist. Der Junge ist etwa zehn und das erste Mal in einer Kirche. Er trifft auf Leute, denen er seine Fragen zu stellen sich traut. Der Junge kennt erstaunlicherweise noch Plumpsklos! Taufsteine sind ihm in jeder Hinsicht fremd. Unsere Dommitarbeiterin erklärt ihm, was es mit dem Taufstein auf sich hat. Als die Schulklasse wieder geht, bleibt seine unvergessliche Assoziation im Gedächtnis. Es war eine krasse, aber nicht untypische Kinderfrage im postsozialistischen, vielleicht postchristlichen Greifswald. Jeder Mitarbeiter, der bei uns Kinder durch St. Nikolai führt, kann Ähnliches berichten.

Die relative Unwissenheit des Jungen stieß uns an, mehr über Kinder in unserer Kirche nachzudenken. Der Dom ist eine City-Kirche, Ziel von bis zu 300 Besuchern täglich – Rentnern, Urlaubern, Kindern. Es gibt tägliche Öffnungszeiten von 10-16 Uhr. Der Turm des Domes, des "langen Nikolaus«, zieht alle Generationen an, auch die, die keinen Kunst- oder Stadtführer dabeihaben. Macht gar nichts, Erwachsene finden hier viele Angebote: Tafeln, Faltblätter, Kunstführer, Konzerte, Ausstellungen, meditative Nachtführungen, Mittagsandachten, Gottesdienste, Orgelmusik und Stille. Aber er gibt nur eine einzige Mitarbeitstelle für Öffentlichkeitsarbeit, ab und an unterstützt von ehrenamtlicher Hilfe. Sie alle zusammen können trotz großer Langmut nur einen geringen Teil der Besucher durch den Dom begleiten, ab und zu – wenn Erzieher und Lehrer ihr Kommen rechtzeitig melden – auch Kindergruppen. Das macht viel Freude, weil es ausgesprochen intensive, bewegende Begegnungen sind. Was aber stellen wir den vielen Kindern, die wir nicht begleiten können, als Verstehens- und Entdeckungshilfe in unserer Kirche zur Verfügung? Sind wir überhaupt auf Kinderbesuch eingerichtet, wenn es – wie so oft – ohne uns gehen muss. Jeder weiß, dass Kinder im östlichen Deutschland heute zu 95 Prozent in Familien ohne religiöse Praxis und Kenntnis aufwachsen. Diese Kinder haben im buchstäblichen Sinne keine Ahnung, was ihnen in einer Kirche begegnet oder begegnen könnte. Gleichwohl bringen sie unendlich viel Phantasie, Entdeckerfreude und Aufgeschlossenheit mit. Was lässt sich tun, um unsere Kirche Kindern auch ohne Dabeisein ein Erlebnis werden zu lassen? Das war die Frage. Und sie zündete.

 

Die Idee

Wir brauchen einen Domführer für Kinder, soviel stand fest. Die Idee, wie er entstehen könnte, borgten wir uns von St. Bartholomäi in Demmin (Vorpommern). Dort hatten Kinder der evangelischen Grundschule 1999 einen Kinderkirchenführer hergestellt. Also: Kinder entdeckten, malten und beschrieben "ihr" Kirchengebäude für andere Kinder. Das Demminer Vorbild war überzeugend und ausbaufähig. Wir fragten uns: Warum müssen es konfessionell sozialisierte Kinder sein? Wird eine Beteiligung von vielen Gruppen im Ergebnis nicht noch spannender? Kann man versuchen, die Kompetenz, das Interesse, die Phantasie von möglichst vielen Kindern durch einen Preiswettbewerb ins Rollen zu bringen? Ist ein öffentliches Preisausschreiben auch ein Signal für die ganze Stadt? Darauf bauten wir. Einem Preisausschreiben, an dem alle Greifswalder Kinder teilzunehmen die Chance hätten, maßen wir vier Vorteile zu:

  1. Kinder ganz unterschiedlicher Herkunft, mit ganz unterschiedlichen Kenntnissen und Begabungen beschäftigen sich mit einem Kirchengebäude ihres Ortes. Dabei ist es völlig legitim, dass ihrem Motiv vielleicht zuerst der Preis ist, der winkt. Am ausgelobten Preis sollte keinesfalls geknickert werden! Heute habe ich den Eindruck: wir hatten uns allesamt nicht hinreichend vorgestellt, wie viel Zeit, Kreativität und Sorgfalt die Kinder in ihre Entwürfe stecken würden!
  2. Kinder sind Fachleute für Kinder. Ihre Beobachtungen, Fragen, Experimente, Spielideen werden andere Kinder viel besser ansprechen können, als wir Erwachsene uns dies unter Mühsalen abringen. Ein Preisausschreiben vermittelt Kindern außer dem nötigen Elan auch das Gefühl, wirklich ernst genommen zu sein.
  3. Keiner der Domgemeindemitarbeiter und -helfer hätte – bei aller Liebe zur Sache – die zeitlichen und ideellen Möglichkeiten gehabt, einen ansprechenden Kinderkirchenführer zu konzipieren. Uns konnten nur Kinder auf die Sprünge helfen. Ihre Beschäftigung mit dem Dom würde also mehr als Spiel und kirchenpädagogisches Arrangement sein. Die Kinder entwickeln ein echtes Produkt! Es ist einmalig und in sich unübertreffbar. Doch sollte kein kanonisches Unikat entstehen. Die ganze Prozedur kann in einigen Jahren auf’s Neue mit anderen (oder den gleichen) Kindern stattfinden. Und es wird wieder Spaß machen!
  4. Das Preisausschreiben ist ein Signal nach innen wie nach außen. Alle – Gemeinde, Eltern, Lehrer und Kinder –merken, es geht tatsächlich um was und gleichzeitig passiert etwas. Unsere Gemeinde kommt ins Gespräch an Orten, die sonst selten über »Kirche« reden; gleichzeitig könnte das Projekt auch Nachbargemeinden Anstoß geben.

 

Der Anfang

Am Anfang war die Idee der Auslobung. Es stellt sich schon in dieser Phase heraus, dass mit Entwicklungszeit und Überzeugungsarbeit gerechnet werden muss. Von der vorgeschlagenen Preissumme von 500,– DM mochte der zuständige Gemeindeausschuss für Finanzen zunächst nur 10% ins Auge fassen. Das war eine verständliche, aber realitätsferne Reaktion: wer kleinlich investiert, wird entsprechend belohnt. Mit einer solchen Preislockung wäre das Projekt von vornherein in den Wind geschrieben gewesen. Vor allem hätte diese Summe in einem lächerlichen Verhältnis zu der Mühe der Kinder gestanden. In der Debatte des Gemeindekirchenrats leuchtete das ein und der sowieso geplante Verkauf einer alten, nicht mehr erhaltungswürdigen Garage erbrachte die nötige Summe sogar ohne Belastung des Gemeindeetats. Aber selbst wenn der Zufall nicht mitgespielt hätte, hätte der Vorbereitungskreis alle Wege beschritten, einen anständigen Preis zu erhalten. Für eine gute Idee finden sich auch Sponsoren!

Im November 1999 wurde die Idee geboren, im Dezember begann das gemeindeinterne Gespräch. Der offizielle Auslobungsbrief erreichte die Greifswalder Schulen Ende Januar 2000, rechtzeitig vor den Schulferien. Das Schulamt hatte die Weitergabe übernommen. Gebeten wurden alle Klassen der Stufen 1-8 an 44 Stadt- und Umlandschulen im Rahmen ihres Religions-, Geschichts- oder Deutschunterrichts (vielleicht sogar in projektbezogener Kombination), einen Entwurf des Kinderkirchenführers bis zum 1. Juli 2000 in der Kirchengemeinde einzureichen. Die Klassen konnten sich teilen oder aber mit anderen Gruppen verbünden. Die ausgesetzten Preise wurden gestaffelt: 1. Platz 250,– DM, 2. Platz 100,– DM, 3. Platz 50,– DM, Plätze 4-6 eine Jahresfreikarte für den Turmbesuch St. Nikolai. Jeweils drei freie Turmbesuche mit Angehörigen als Trostpreise für alle weiteren Teilnehmer. In der Rückschau meine ich: eigentlich hätte die Mühe der Kinder generöser belohnt werden müssen. Im Anschreiben wurden die Hauptpreise angegeben.

Unsere Projektbeschreibung war bewusst sparsam gehalten. Es sollte kindliche Phantasie entbunden, aber möglichst wenig geschränkt werden. Deshalb hieß es andeutungsweise, ein Kinderkirchenführer könnte alles enthalten, was Kindern die Wanderung durch unsern Dom spannend macht: Malseiten, Rätsel, Suchspiele, Erzählungen/Dialoge etc. zur Domausstattung, zur Domgeschichte oder zum Namenspatron und "vieles, vieles anderes, was Kindern Spaß macht und ihr Interesse am Dom weckt«. Der erwartete Umfang des Kinderführers wurde in der großzügig gemeinten Spanne von 16-32 Seiten angegeben. Das war eindeutig zu hoch angesetzt, die 16-Seiten-Marke stellte sich als Leistungsobergrenze heraus. Die Entwürfe sollten auf DIN-A-4-Papier gehalten sein. Farbige Seiten sollten auf den äußeren Sichtbereich beschränkt bleiben – auch das stellte sich als nicht kindgemäß heraus und wurde von den meisten Teilnehmern glücklicherweise ignoriert.

Zum Schluss kündigte die Ausschreibung an, über die eingereichten Exemplare werde eine Jury befinden. Für die Drucklegung des Domführers für Kinder behielt sich die Gemeinde vor, aus allen eingereichten Entwürfen Ideen und Vorschläge heranziehen zu können. Als am Anfang des Schulhalbjahres die ersten 5-6 Beteiligungsmeldungen von Klassen verschiedener Schulen eingelaufen waren, wuchs unsere Freude und Spannung. Die Ergebnisse konnten mit jeder neuen Gruppe nur gewinnen. Viel Zeit und gute Laune widmete unsere Mitarbeiterin den bald stundenlang im Dom herumstromernden und fragenden Schulklassen.

 

Der Höhepunkt

Am Freitag, dem 14. Juli 2000, war es soweit. Zur Preisverleihung, die im Zusammenhang des beginnenden Stadtkirchentags von Presse und Gemeinde wahrgenommen wurde, strömten Schülerinnen und Schüler in den Dom. Die Direktoren hatten ihnen schulfrei gegeben. Von ursprünglich 14 Arbeitsgruppen hatten immerhin 12 von der 1. bis zur 8. Klasse durchgehalten und ein Produkt eingereicht. Das übertraf unsere Erwartungen und bestätigte großartig, dass die Idee ohne aufwendige Purzelbäume zum Zuge kommen kann. Nur eine fächerübergreifende Arbeitsgemeinschaft war nicht realisiert worden. Die Schülergruppen kamen überwiegend aus Religionsunterrichtskursen.

Es war der Jury nicht leicht gefallen, unter den vielen eindrücklichen, überraschenden, klugen und launig-witzigen Entwürfen eine Rangfolge festzulegen. Da mussten erst einmal Maßstäbe gefunden werden. Sie lauteten in zwangloser Folge: I. Gesamteindruck (Ideenvielfalt), II. Kindgerechtheit, III. Dombezug (einschließlich Funktion), IV. Sachlogik (sind Ideen/Erklärungen nachvollziehbar?), V. Gestaltung und Vorgabentreue. Auch die Altersunterschiedlichkeit der beteiligten Schülergruppen und die stark differenzierten Schulformen (u. a. beteiligte sich eine Klasse einer Behindertenschule) wurden berücksichtigt. Nach knapp 5 Stunden angestrengter Begutachtung lagen die Bewertungen fest. Es hatte sich als praktikabel erwiesen, dass alle 6 Jury-Mitglieder je für sich eine Bewertungstabelle anlegten, in der die einzelnen Gesichtspunkte durch eine Punktzahl zwischen 1 und 12 festgelegt waren. Dadurch wurden die vergebenen Punkte aller Jury-Mitglieder im Quersummenverfahren verrechenbar und so die Platzierung des jeweiligen Entwurfs entschieden. In der Jury arbeiteten eine Graphikerin, eine Buchhändlerin, eine Kunsthistorikerin, eine Katechetin, ein Professor für Religionspädagogik und ein Vikar mit. Den ersten Platz erhielt in großer Übereinstimmung der Entwurf einer 1. Klasse. Die Plätze 2 und 3 fielen auf zwei 4. Klassen.

Die Spannung während der Preisverleihung war groß. Natürlich fieberte jede Gruppe dem Hauptpreis entgegen. Dass ausgerechnet die ganz Kleinen ihn erhielten, das war für manche Größere nicht leicht zu akzeptieren. Die großartige Stimmung blieb davon unbetroffen. Rege musterten jetzt auch die Schüler die eigenen und die fremden Entwürfe, kritisch oder zustimmend. Und als die bunten Seifenblasen von der Orgelempore auf die Hauptgewinner herunterschwebten, war das große Staunen im Raum, mit vernehmlichem Raunen untermalt. Anderthalb schulfreie Stunden waren im Nu vergangen. Mit Orgelmusik und kleinen Zusatzgeschenken verließen die Schüler den ihnen inzwischen bestens vertrauten Dom.

 

Das Ergebnis

Nun waren die weiteren Schritte zu gehen. Aus allen Einzeleinfällen musste jetzt etwas gemacht werden. Unsere Vorsicht zur Frage der Drucklegung der Preisträger hatte sich als richtig erwiesen: den rundherum überzeugenden Kinderführer, der sofort druckfertig gewesen wäre, hatten die Kinder nicht entwickelt. Aus der erstaunlichen Fülle an überzeugenden Details der Kinderentwürfe wurde eine sachlich logische Auswahl getroffen. Es mussten Stil- und Gestaltungsfragen, drucktechnische Details und Kostenkalkulationen beraten werden. Auch dafür war nochmals ein langer Atem nötig. Von Januar bis September 2001 liefen die Vorbesprechungen. 16 Seiten waren Detail für Detail zu planen: eine logische Seitenfolge, verbindende Elemente, Texte, Ideen und Darstellungen aus den Vorlagen, z. T. Neues. Wir entschieden uns für einen bunten Druck auf glattem hellen Papier. Ein Graphiker wurde engagiert, der mit viel Fingerspitzengefühl und technischem Raffinement unser Konzept umsetzte. Seite für Seite fügte sich allmählich in ein Gesamtbild. Wir ließen uns nicht von der Urlaubersaison unter Druck setzen, obwohl es auch bedauert wurde, dass der Sommer verstrich. Im Frühherbst 2001 wurde der letzte Schliff angelegt. Wir brauchten mehr Zeit, als gedacht, aber das Ergebnis sollte den Druck von 2000 Exemplaren lohnen. Genau zwei Jahre hatte es von der ursprünglichen Idee bis zu dem Tag gedauert, an dem die nagelneuen, im hochgestreckten Speisekartenformat ausgedruckten "Domführer für Kinder" fertig dalagen. Am 28. November 2001 wurden sie mit den Schülergruppen im Dom gefeiert und in einer "Dom-Rallye" getestet. Für das gelöste Rätsel gab es Preise, die lautstark ihre Funktion bewiesen...

Was enthält der fertige Kinderführer?

Unser "Domführer für Kinder" bietet einen Rundgang über 12 Stationen. Jede Seite stellt einen Ort vor, der in einem oberen Eckfoto eingeblendet ist. Methodisch enthält jede Seite die gleichen drei Angebote:

  1. Sie bietet Texte, die die wichtigsten Orte in einem Frage-Antwort-Dialog (schwarz gedruckt, vom Domteam erdacht) und in Kindertexten (blau gedruckt, aus den Entwürfen) erläutern. Wir wollen lesewilligen Kindern die Chance geben, wirklich erfahren zu können, was eine christliche Kirche ist, wie andere Kinder das beschrieben haben und was unsern Dom besonders macht.
  2. Er bietet verschiedenfarbig gedruckte Kinderzeichnungen (Strich- und Malbilder) zur jeweiligen Station. Wir legten Wert darauf, die beobachteten Objekte durch eine (selten 2-3) markante Illustration(en) aus Kinderhand in den Blick zu rücken. Das hätte man auch anders machen können. Wir wollten eine konzentrierende Reduktion.
  3. Er bietet ein Rätselspiel, das im unteren Fünftel jeder Seite mitläuft. Den Hintergrund bildet ein Detailfoto, auf dessen lachsfarbener Tönung sich die Rätselfrage gut abhebt. Die Kinder können dieses Detail am jeweiligen Ort in der Wirklichkeit entdecken. An zwei Stationen ist das für die Lösung des Rätsels auch nötig. Unsere Frage bezieht sich z. B. auf dies Foto, z. T. auf den Stationstext. Unter drei angegebenen Antwortmöglichkeiten befindet sich die richtige. Die letzte Innenseite enthält eine Gesamtübersicht dieses Rätselspiels. Wer mindestens sieben richtige Antworten einträgt, kann im Domfoyer einen Preis einlösen.

Uns interessiert natürlich, welche Angebote von den Kindern wahrgenommen werden. Darüber weiter nachzudenken, wird dann möglich und nötig sein. Vorerst hoffen wir, dass viele Kinder und Eltern den geringen Preis von 3 DM bzw. 1,50 Euro für eine besondere Domentdeckung übrig haben. Vielleicht werden wir in drei, vier Jahren wieder Kinder einladen, einen andern Domkinderkirchenführer zu entwickeln. Die Erfahrungen mit dem beschriebenen Projekt sind aber schon jetzt so positiv wie folgenreich: unser langer Nikolaus ist Greifswalder Kindern ein ganzes Stück näher gekommen. Wir verdanken das den Kindern selbst.

Ob sich anderorts Nachahmer/Weiterentwickler eines solchen Projekts finden?

Uns wär’s recht. Und den Kindern dort bestimmt auch.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2002

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