Gewalt-Tabus – Wahrnehmungsprobleme zwischen den Generationen

von Bernhard Dressler

 

1. Dramatisierungen im Generationenverhältnis: Wahrnehmungsverzerrungen und Schuldprojektionen

Über Kinder und Jugendliche reden Erwachsene heute in der Regel auf eine stark dramatisierende Weise, jedenfalls besonders dann, wenn es sich nicht um die eigenen Kinder handelt. Offenbar ist das Generationenverhältnis aber immer schon besonders affektbeladen gewesen, und die jeweils heutige Jugend erscheint schon seit der Antike der jeweiligen Erwachsenengeneration als besonders problematisch. Diese Beobachtung ist vor allem in kulturellen Krisen- und Umbruchzeiten zu machen: Daher sind die Themen im Umfeld des Generalthemas »Erziehung« gegenwärtig besonders stark durch Dramatisierungen und Affekte belastet.1

Der allgemeine Ruf nach »Werteerziehung« geht z. B. häufig mit einer kulturpessimistischen Zeitdiagnose einher: Allgemein ist vom Werteverfall die Rede, der angeblich besonders deutlich bei Kindern und Jugendlichen zu konstatieren sei. Kinder werden, wenn man dem Lamento vieler Pädagogen Glauben schenken darf, immer dümmer, frecher, unkonzentrierter, verhaltensgestörter, gewalttätiger usw.. Dieses Lamento halte ich nicht nur empirisch für falsch, es ist vor allem eine falsche und unproduktive Haltung gegenüber den Fragen und Problemen, die sich mit unserem Verhältnis – sei es als Eltern, als Erzieher oder als Lehrende – zu Kindern und Jugendlichen verbinden. Dabei ist es gleichgültig, ob dieses Lamento denunziatorisch geäußert wird (auch das gibt es leider häufig) oder im Sinne einer Selbstanklage der Erwachsenenwelt.

Nun sind harte Problemlagen gar nicht zu bestreiten. Aber wenn diesen Problemlagen immer sogleich Schlüsselcharakter für die Normallage von Kindern und Jugendlichen zugesprochen wird, ist hinter dieser Fixierung auf Extremprobleme ein Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit und an Interpretationskategorien zu vermuten.2 Zu den Veränderungen der ganz unspektakulären Normalität des Lebens- und Erziehungsalltags fällt vielen Beobachtern schlicht nichts auf oder nichts ein. Übersehen werden die enormen, aber im Lebensalltag unauffällig gewordenen Fortschritte zivilen Verhaltens bei der großen Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die es z.B. in einem Maße gelernt haben, mit Pluralität und Fremdheit umzugehen, wie es für den größten Teil der älteren Generation noch undenkbar war. Wahrnehmungsbereitschaft und Wahrnehmungsfähigkeit sind aber das erste, was wir als Erziehende den Kindern und Jugendlichen schulden.

Neben die allgemeinen Gründe für die Bereitschaft zur Dramatisierung treten jeweils zeitspezifische Bedingungen hinzu. Ich vermute hier Aufschluss über den seltsamen Sachverhalt, dass die von Erwachsenen, insbesondere von Eltern und Pädagogen, zu hörenden Urteile über Kinder und Jugendliche mit den aus größerer Distanz herausgefundenen sozialempirischen Daten oft so wenig übereinstimmen.3 Beim Thema »Gewalt« zeigt sich dieses Problem besonders deutlich: Viele Äußerungen bei Fortbildungsveranstaltungen, viele Presseberichte stehen in deutlichem Gegensatz z.B. zu den empirischen Untersuchungen über Gewalt an den Schulen.4 Wie ist das zu erklären?

Ich wage, eher in Frageform, einige mögliche Erklärungen:

  • Gut belegt ist die Zunahme der Intensität von Gewaltbereitschaft und Gewaltakten bei einer kleinen Minderheit. Liegt den vermeintlichen Beobachtungen über die dramatische zahlenmäßige Zunahme von Gewalttaten bei Kindern und Jugendlichen vielleicht eine Verwechslung von Qualität und Quantität zugrunde, indem das Bedrängende der Intensitätssteigerung verallgemeinernd »hochgerechnet« wird?
  • Es gibt offensichtlich so etwas wie veränderte Wahrnehmungsmuster durch medial verstärkte Problematisierungswellen. Damit sind gleichsam »Aufmerksamkeitsverschärfungen« verbunden: Was früher als alterstypische Rangelei oder Schlägerei wahrgenommen wurde, gilt heute als Gewaltphänomen und als Symptom eines allgemeinen Trends. Entsprechend verändern sich die Sanktionsbereitschaft und das Anzeigeverhalten. Die Kriminalitätsstatistik spiegelt immer auch solche Wahrnehmungsverschiebungen und nicht nur die objektive Zahl der Vorkommnisse wider. Am Rande gesagt: Mit solchen Problematisierungswellen gehen auch sozialpädagogische Professionalitätsinteressen einher! Man braucht bestimmte Statistiken für die Bestandssicherung z. B. von sozialpädagogischen Stellen. Häufig werden Dunkelziffer-Schätzungen zitiert, deren Quellen aber selbst im Dunkeln bleiben.
  • Zu beobachten sind Befremdungen und damit verbundene versteckte Aggressionen im Generationenverhältnis, z.B. die Enttäuschung der sog. »68er«-Generation darüber, dass die Folgegenerationen oft anders denken und ganz anderen politischen Handlungspräferenzen folgen. Hier wirkt sich dann auch die Hegemonie der »68er« in pädagogischen und sozialpädagogischen Berufen aus. Was in der neuesten Shell-Jugendstudie5 ermittelt wurde, zeichnet sich schon seit längerem ab: Viele Jugendliche denken heute pragmatisch und nüchtern, dabei eher (wenn auch verhalten) zukunftsoptimistisch. Manchmal sind ihre Einstellungen fast erschreckend »früherwachsen«. Der Jugendlichkeitskult, die Selbstverwirklichungsbemühungen der Älteren kommen im Urteil heutiger Jugendlicher nicht gut weg, gelten als geradezu lächerlich. Und was handeln sich die Jugendlichen ein? Es überwiegen im Urteil vieler Erwachsener die Vorwürfe: »Spaßkultur«, »Hedonismus« – also das glatte Gegenteil der Befunde. Der Vorwurf etwa, Kinder und Jugendliche seien überwiegend Egoisten, trifft nicht mehr zu als es der allgemeine Trend ist, auch und gerade bei Erwachsenen. Oder der Vorwurf mangelnden politischen Interesses, angeblicher Kritiklosigkeit – daran ist nur so viel richtig, dass Jugendliche heute die Möglichkeiten und Grenzen politischen Handelns nüchterner (keinesfalls zynischer) einschätzen als diejenigen, die Ende der 60er und in den 70er Jahren jung waren. Aber bestimmten Erwachsenen können es die Jugendlichen nicht Recht machen, was sie auch tun und denken. Sie müssen ja auch das Objekt sozialpädagogischer Besorgnis bleiben! Und: müssen die Jugendlichen immer »besser« sein als alle anderen?!
  • Im Zusammenhang mit Entwicklungen, auf die unter den Stichworten »Früherwachsensein« und »verinselte Kindheit« gleich noch zurückzukommen sein wird, wächst das Bedürfnis vieler Kinder und Jugendlicher nach Entlastungen und Gegenwelten zum Ausgleich wachsender alltäglicher Belastungen und Kompetenzanforderungen: Der Bedarf an »Undiszipliniertsein« wächst, je früher Leistungen der Selbstdisziplinierung verlangt werden. Entsprechende »Toberäume«, in denen ungebärdige Kindlichkeit und Jugendlichkeit ausagiert werden können, werden aber immer knapper. So drängen diese Bedürfnisse in die »geordnete Welt« hinein, wo sie für die »Verwalter der Ordnung« (Eltern, Lehrer, Hausmeister...) nur als Störung wahrzunehmen sind.6 Dem entspricht ein sozialpädagogischer Umgang, der auch sprachlich Kindheit und Jugend in die Perspektive »potentieller Devianz« rückt: Wo von sozialpädagogischen Präventionsmaßnahmen die Rede ist, werden Kinder und Jugendliche als Risiken betrachtet. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass Präventionskonzepte pädagogische Allmachtsphantasien beflügeln können, während ihre Wirksamkeit nie seriös überprüfbar ist, weil die zugrunde liegenden Prognosen sich angesichts der Komplexität sozialer Entwicklungen weder verifizieren noch falsifizieren lassen. (Treten sie ein oder bleiben sie aus, weil oder obwohl die Präventionsmaßnahmen wirken?)

Ich stelle eine Frage als Fazit: Werden auf die Jugendlichen die Enttäuschungen der gegenwärtig noch kulturell vorherrschenden Elterngeneration projiziert? Spiegelbildlich und analog zu der absurden Behauptung mancher älterer und konservativer Journalisten während der ersten Welle ausländerfeindlicher Gewalttaten Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre, wonach die antiautoritäre Erziehung dafür haftbar zu machen war.7

 

2. Einige Gegenwartsprobleme im Generationenverhältnis

Ich komme nach dieser Vorbemerkung nun auf einige Gegenwartsprobleme zu sprechen, die unser Verhältnis zu Kindern und Jugendlichen besonders betreffen. Ich konzentriere mich dabei auf die Veränderungen im Verhältnis zwischen den Generationen.

 

2.1 »Früherwachsensein«: Das Verschwinden der Kindheit

Ich nenne erstens das Verschwinden der Kindheit, wie wir sie bis in die jüngste Vergangenheit kannten. Kindheit ist, daran sei hier erinnert, ein relativ spätes Kulturphänomen! Das hat der Kulturhistoriker Philippe Ariès in seinem Buch »Erfindung der Kindheit« erforscht und belegt.8 Vor dem späten 18. Jahrhundert sind Kinder immer nur wie, freilich defizitäre, Erwachsene betrachtet worden. Seit etwa 15 Jahren nun ist ein Phänomen zu beobachten, das man mit Thomas Ziehe »Früherwachsensein« nennen könnte.9 Dieses Phänomen ist im Zusammenhang damit zu sehen, dass Familiensoziologen zunehmend von »verinselter Kindheit« sprechen: Kinder werden in ihren jeweiligen sozialen Feldern zu Minoritäten. Dadurch wird so etwas wie spontanes Zusammensein unter Kindern immer weniger möglich; man muss sich verabreden, das geschieht auf »erwachsene« Weise über das Telefon, Terminkalender werden geführt etc.. Minoritäten werden übrigens entweder in ihren Rechten zu wenig geachtet – oder sie leiden unter dauernder Überaufmerksamkeit, gleichsam unter der gesellschaftlichen Variante der sprichwörtlichen mütterlichen »Overprotectiveness«.

Mit Früherwachsenheit ist aber noch mehr gemeint: Wir können gegenwärtig so etwas wie den Abbau von Generationsschranken beobachten. Die heute 35- bis 40jährigen Eltern teilen mit ihren Kindern viel mehr kulturelle, habituelle und mentale Gemeinsamkeiten, als es zwischen ihnen und ihrer Elterngeneration der Fall war. Schon deshalb ist übrigens heute ein Generationsbruch wie der von »1968« undenkbar. Mit diesem Abbau von Generationsschranken verbunden ist der Wegfall eines bis in die 60er Jahre hinein wirksamen pubertären Lebensgefühls, das Thomas Ziehe etwas salopp, aber sehr treffend als »Schlüssellochperspektive« der Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern bezeichnet hat. Das liegt auch an den Medien, also an der allgemeinen Zugänglichkeit generationsübergreifender Informationen, es liegt aber ebenso am Habitus, mit dem Erwachsene heute Kindern begegnen. Die Kategorien »jugendlich« und »erwachsen« verschwimmen. Es gibt zwar noch kognitive Grenzen, aber keine so engen symbolisch-kulturellen Grenzen mehr zwischen Jugendlichkeit und Erwachsenheit.10

Es stellt sich ein scharfes Problem: Das früherwachsene Einbezogensein durch den Abbau von Generationsgrenzen stößt zugleich auf den Ausschluss von »richtiger« Erwachsenheit durch eine sich immer weiter verlängernde ökonomische Abhängigkeit und durch das »overprotective« Verhalten der Erwachsenenwelt. Dieser Widerspruch hat, ohne dass das im Einzelnen empirisch nachzuweisen wäre, erhebliche destrukturierende und infantilisierende Wirkungen.11

 

2.2 Angleichungen im Lebensstil und im Lebensgefühl

Heute beobachten wir eine Pluralität, eine Gleichzeitigkeit vieler Lebensstile im Vergleich zu den großen »kulturellen Wellen«, mit denen bis in die 70er Jahre – und das gilt besonders für die Jugendkultur – bestimmte Lebensstil-Formen als typisch für eine ganze Generation galten. Das ist das eine. Das andere: Bis in die 70er Jahre vermittelte sich über Lebensstil-Formen ein habitueller Protest der Jugendlichen gegen die Erwachsenenwelt. Das funktioniert heute nicht mehr. Die inszenatorische »Feier der Übertretung«, wie das Thomas Ziehe einmal genannt hat, greift nun nicht mehr. Über das, was vor noch nicht langer Zeit als höchst provokant galt, regt sich heute niemand mehr auf. Provokationen provozieren nicht mehr – und es ist nahezu unmöglich geworden, sich unmöglich zu machen. Neue Selbststilisierungsformen kommen und gehen wie andere Moden auch. Auch in diesem Zusammenhang ändert sich das Generationenverhältnis. Weil Jugendlichkeit und Erwachsenheit heute keine gegenseitig abgeschotteten kulturellen Lebenssphären mehr sind, lassen sich die demonstrativen Abgrenzungen gegen die Eltern immer schwerer als ein epochaler Kulturkampf deuten. Die Generationsgrenze wird heute weder dadurch definiert, dass Jugendliche von bestimmten Themen ferngehalten werden, noch dadurch, dass Jugendlichkeits-Stile auf die Jugendlichen und erwachsene Habitus-Formen auf die Erwachsenen beschränkt bleiben. Es gibt heute keine grundsätzlichen Weltdeutungsdifferenzen mehr zwischen 18- und 40jährigen, allenfalls Jargon-Differenzen. Jugendlichkeit ist nicht mehr kontrastiv gegen die Erwachsenenwelt zu wenden. Man bedenke nur die ungeheure Flexibilität bei der Vermarktung von Lebensstilen, mit der etwa die exaltierteste und extremste jugendliche Abgrenzungsform der späten 70er und frühen 80er Jahre, der Punk, modisch domestiziert wurde. Der »früherwachsene« Ernst vieler Jugendlicher und der Verzicht auf jeden rebellischen Gestus z. B. in der Techno-Szene sind wohl Ausdruck des paradoxen Befundes von Ulrich Beck: »Wenn Abweichung normal wird, wird die Wahl der Normalität schon zur Vorform des Protestes«.12 An die Stelle großer Zusammenstöße zwischen Eltern und Jugendlichen tritt ein wortreiches, fast spielerisches Austesten von Grenzen. Je weniger Verhaltensregeln über Traditionen normiert werden, je mehr Verhaltensmöglichkeiten offen stehen, desto mehr tritt an die Stelle fester Regeln die Suche nach Verträglichkeitsspielräumen im zwischenmenschlichen Verhältnis. Ein großer Teil der Zeit, die heute Familien miteinander verbringen, dient dem Aushandeln solcher Verträglichkeitsspielräume. Und dabei dient dann die »distanzierte Verständigung über Lebensstile und Lebensziele« als Kompromissform in den »Tarifverhandlungen« der Generationen: Ulrich Beck spricht von der »toleranten Gleichgültigkeit« im »Waffenstillstand der Ichlinge«.13

Es gibt also durchaus noch Generationenkonflikte, aber sie sind nicht mehr quasi-weltanschaulich aufgeladen. Es sind Konflikte wie zwischen irgendwelchen anderen Interessengruppen auch. Entsprechend setzt sich in der neuesten Shell-Jugendstudie ein schon seit längerem beobachtbarer Trend durch: Das Verhältnis zu den Eltern wird überwiegend partnerschaftlich, fast freundschaftlich beschrieben. Noch Mitte der 80er wollten 48% der Jugendlichen ihre Kinder einmal »anders« oder »ganz anders« erziehen, als sie selbst erzogen wurden; inzwischen ist dieser Anteil auf 28 % gesunken. Eher wird mit Blick auf den vorherrschenden liberalen Erziehungsstil gelegentlich darüber geklagt, dass er mit zu wenig aufmerksamem, zuwendungsbereitem Interesse der Eltern verbunden sei.

 

3. Das Generationenverhältnis bei gewaltanfälligen Jugendlichen

Als allgemeiner Konsens unter Erziehungswissenschaftlern wie unter Soziologen gilt, dass die Disposition zur Gewalttätigkeit durch eigene Gewalterfahrungen wächst. Gewalttäter waren überdurchschnittlich oft Gewaltopfer. Das muss vor allem gegenüber der Legende von der Entstehung der Gewaltbereitschaft durch eine zu »grenzenlose« Erziehung festgehalten werden. Diese Erkenntnis ist durch die Untersuchungen des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover empirisch bestätigt und differenziert worden. Ein besonders hoher Anteil von Gewalttätern findet sich bei männlichen türkischen Jugendlichen, ebenso bei Jungen aus Familien aus dem ehemaligen Jugoslawien und aus Aussiedlerfamilien. Es stellt sich natürlich gleich die Frage, ob so etwas gesagt werden darf, ohne ausländerfeindliche Ressentiments zu bestärken. Nun sind die überrepräsentativ hohen Herkunftsanteile jugendlicher Gewalttäter (und eben auch Gewaltopfer!) aus solchen Familien gut belegt; dass die problematischen Fälle auch innerhalb ihrer kulturellen bzw. ethnischen Milieus Minderheiten sind, wenn auch vergleichsweise größere Minderheiten, gehört allerdings ebenso zu den Tatsachen.

Erklärbar werden diese empirischen Befunde vor allem auch dadurch, dass Immigrantenfamilien generell erhebliche, die psychischen Tiefenstrukturen berührende Irritationen aufgrund der Brüche zwischen ihren Herkunftskulturen und ihrem neuen sozialkulturellen Umfeld verarbeiten müssen. Dazu gehört besonders der Kontrast zwischen den Erziehungsstilen und den tradierten Geschlechtsrollen. In Immigrantenmilieus gilt oft noch eine starke Männerdominanz. Ein Erziehungsstil, der Gewalt einschließt, gilt vielfach noch als selbstverständlich. Das sollte nicht moralisierend verurteilt werden! Wir haben es mit kulturellen Ungleichzeitigkeiten zu tun, denen gegenüber wir uns in Erinnerung rufen müssen, dass Frauenemanzipation und gewaltfreie Erziehung ja relativ neue und keineswegs durchgängig anerkannte Errungenschaften der westlich-europäischen Kultur sind. Aber ebenso wenig hilft es weiter, die fremden Lebensmuster zu mystifizieren, nach dem Motto: die Fremden sind ursprünglicher, herzlicher, gastfreundlicher etc. Traditionelle Männlichkeitskonzepte, die kulturell vermittelten Rollenkonflikte zwischen gelerntem Machismo und vorgefundenen »weicheren« Rollenmustern sind übrigens relativ unabhängig von der sozialen Lage. Insofern sind die Gründe für die Gewaltbereitschaft hier nicht gleichzusetzen mit Armut und vergleichbaren Formen sozialer Diskriminierung. Dabei sind die Jugendlichen nicht nur Opfer elterlicher Gewalt. Sie werden z.B. auch signifikant häufiger für zu Hause erzählte Gewaltauseinandersetzungen gelobt oder nicht bestraft, im Gegensatz zu ihren Schwestern. Türkische Mädchen votieren deutlich stärker als ihre Brüder für ganz andere Lebensführungskonzepte, wenn sie erst einmal selbstständig leben. Sie liegen in ihren Urteilen und Präferenzen entsprechend näher bei ihren deutschen Altersgenossinnen. Und: Je länger die Jugendlichen in Deutschland sind, desto häufiger sind sie gewaltanfällig. Je länger die Familien in Deutschland sind, desto häufiger werden Generationskonflikte mit Gewalt ausgetragen. Offensichtlich wird die Unterminierung der anfangs unbestrittenen Rolle der Väter im Laufe längerer kultureller Konfrontationserfahrungen stärker erlebt – und es wächst die Angst vor dem kulturellem »Verlust« der Kinder, wenn sie anfangen, selbstbewusst ihren eigenen Lebensstil zu wählen. »Die Familie wird so zum Austragungsort von Konflikten, in denen ein Teil der Väter unter Einsatz körperlicher Gewalt versucht, eine traditionelle Ordnung aufrechtzuerhalten. Die besonders hohe Gewaltrate männlicher türkischer Jugendlicher erscheint damit auch als Ausdruck eines Männlichkeitskonzepts, das unter den sozialen Bedingungen unseres Landes in eine Legitimationskrise gerät.«14

 

4. Schlussbemerkung

Gewaltfreiheit der Erziehungsstile ist die wichtigste Prävention gegen Gewalt unter Kindern und Jugendlichen. Entgegen einem gegenwärtig beliebten Erklärungsmuster in populärwissenschaftlichen Büchern über Erziehungsfragen und Werteverfall dürfen die Ursachen nicht vorschnell einer vermeintlich zu großen Liberalisierung zugeschrieben werden.15

Die Erwachsenen haben als Erziehende wie als Unterrichtende ihre eigenen Wahrnehmungsmuster zu schärfen, sowohl hinsichtlich der »blinden Flecke« von Wahrnehmungsverengungen, Projektionen etc., aber auch hinsichtlich der eigenen verinnerlichten »political correctness«, die den Blick auf Minderheitenprobleme verstellt und tabuisiert.

Wir haben eine Paradoxie zu bedenken: Wenn es stimmt, dass abnehmende Gewalt in den Familien einen Rückgang der Gewaltdisposition bei den Kindern zur Folge hat (und die weitgehend gewaltfreie Erziehung ist eine relativ junge historische Errungenschaft!), dann ist das allgemeine Meinungsklima über die Zunahme von Jugendgewalt vielleicht eher ein Ausdruck gewachsener Sensibilität gegenüber Gewalt als ein Reflex auf tatsächlich zunehmende Gewalt. Umso wichtiger ist es dann, die tatsächlichen – und ja nicht zu verharmlosenden – Entwicklungen der Gewaltbereitschaft genau zu verstehen. Nicht zuletzt, um wohlfeilen Parolen gegen angeblich zu liberale Erziehung nicht auf den Leim zu gehen. Wenn aus Gründen fataler Rücksicht darauf, dass über »Ausländer« nicht schlecht geredet werden darf, die falschen Schlüsse hinsichtlich unseres Erziehungsverhaltens gezogen würden, würden wir ja weder »uns« noch den »Ausländern« einen Gefallen tun. Und für all die löblichen und wohl auch notwendigen Projekte zur Gewaltprävention kann es nur gut sein, wenn man in der Ursachenanalyse genau ist.

 

Anmerkungen

  1. Exemplarisch hierfür: S. Gaschke, Die Erziehungskatastrophe, Stuttgart 2001.
  2. Th. Ziehe, Die Veränderung des Selbstverständlichen. Wissens- und Erfahrungshorizonte Jugendlicher; in: H.-P. Burmeister/B. Dressler (Hg.), Lebensraum Schule (Loccumer Protokolle 14/95), Loccum 1996, S. 34f.
  3. Zum Beispiel: Die sozialstatistischen Daten über Kinder, die nicht bei beiden leiblichen Eltern aufwachsen, schwanken zwischen ca. 15-18%. Ein familienpolitischer Rundfunkkommentar begann kürzlich mit der rhetorischen Frage: »Welches Kind wächst denn heute noch in einer intakten Familie auf?«.
  4. »Das ›Schlachtfeld Schule‹ ist ein Mythos. Obwohl die Zahl der Gewalttaten steigt, warnen Bielefelder Forscher vor Dramatisierung« (Süddeutsche Zeitung v. 2.2.1999). Vgl. z. B. H.G. Holzappels/W. Heitmeyer/W. Melzer/K.-J. Tillmann, Forschung über Gewalt an Schulen, Weinheim/München 1997.
  5. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.), Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie, 2 Bde., Leverkusen 2000.
  6. Vgl. R. Münchmeier, Jugend – Werte – Religion. Über die Lebenslage und die Probleme alltäglicher Lebensbewältigung von jungen Leuten heute; in: H. Rupp u.a., Zukunftsfähige Bildung und Protestantismus, Stuttgart 2002, S. 129.
  7. Auf das Problem ausländerfeindlicher und rechtsradikaler Gewalt gehe ich hier nicht näher ein, weil das eine eigene, ausführliche Analyse voraussetzen würde. Es verlangt auch unter kultursoziologischen Aspekten eine ausgesprochen differenzierte Untersuchung, warum sich seit etwa Mitte der 80er Jahre – also noch während der »alten« Bundesrepublik – jugendlicher Protest überwiegend in rechtsextremen Mustern artikulierte. Unter dem Stichwort »Prävention« hat der Bielefelder Jugend- und Extremismusforscher W. Heitmeyer mit Blick auf rechtsradikale Einstellungen bereits 1992 betont, dass »Belehrung nicht gegen Erfahrung ankommt« und der Kampf gegen den Rechtsextremismus schon verloren sei, wenn er zum Gegenstand und Ziel einer Unterrichtseinheit gemacht werde. Vgl. B. Dressler, Extremismus und Schule – was tun, wenn Belehrung nichts gegen Erfahrung ausrichtet?; in: »Loccumer Pelikan« 1/1993, S. 6ff.
  8. Ph. Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1998.
  9. Th. Ziehe, Optionen und Ohnmacht. Zur Modernisierung jugendlicher Lebenswelten; in: Loccumer Pelikan 2/1993, S. 10.
  10. Vgl. ebd.
  11. Vgl. ebd.
  12. U. Beck, Demokratisierung der Familie; in: ders. (Hg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt/M. 1998, S. 213.
  13. U. Beck, a.a.O., S. 214f.
  14. Chr. Pfeiffer/P. Wetzels, Junge Türken als Täter und als Opfer von Gewalt; in Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30.3.2000, S. 14. Vgl auch Chr. Pfeiffer/P. Wetzels/D. Enzmann, Innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und ihre Auswirkungen, Forschungsbericht 80 des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Hannover 1999.
  15. Der große Erfolg des Buches von S. Gaschke (s. oben Fußn.1) hat vor allem diagnostischen Wert in Bezug auf die ressentimentgeladenen Verarbeitungsmechanismen von Erziehungsproblemen in jenen Mittelschichtmilieus, die nun von libertären zu autoritären Erziehungsstilen zurückpendeln.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2002

PDF