Das Alte Testament „unmittelbar" erschließen?(1) - Kritische Anfragen an die bibeldidaktische Konzeption Ingo Baldermanns

von Christina Kalloch und Bettina Kruhöffer

 

Die Bücher „Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen“ und „Gottes Reich – Hoffnung für Kinder“ von Ingo Baldermann sind wohl mitausschlaggebend dafür, dass biblische Themen im Religionsunterricht der Grundschule in den vergangenen Jahren einen unerwarteten Aufschwung erfahren haben. Der Ansatz Ingo Baldermanns scheint vor dem Hintergrund gegenwärtiger Probleme mit der Bibel im Religionsunterricht die Ideallösung zu sein, da er unmittelbaren, unübersetzten, existentiell betreffenden Umgang mit den biblischen Schriften verspricht. Dass eine verfrühte exegetische Auseinandersetzung mit Schrifttexten bibeldidaktisch kontraproduktiv ist, ist religionspädagogisch heute allgemein Konsens. Im Hinblick auf Baldermann bleibt jedoch zu erörtern, inwieweit sich seine biblische Didaktik als tragfähiges Konzept für die Grundschule erweisen kann, das nicht nur Kindern heute sondern auch den alttestamentlichen Schriften gerecht werden kann. Gerade die Texte des Alten Testamentes erfahren im Primarstufenunterricht zwangsläufig Vereinfachungen, banalisierende Aktualisierungen und dadurch auch Verzerrungen, die nach der Möglichkeit der Bewahrung der alttestamentlichen Botschaft fragen lassen. Welches Bild bekommen Kinder vom Alten Testament vermittelt, wenn sie es durch die von Baldermann als relevant erachteten Inhalte und durch die von ihm geforderte Methode der biblischen Didaktik kennen lernen? Kann sich der von Baldermann als einzige sinnvolle Form der Auseinandersetzung propagierte Umgang mit der Schrift als tragfähig erweisen – nicht nur für die Gattung der Psalmen?

 

1. Bibeldidaktische Grundannahmen

Baldermann bezeichnet die Bibel nicht als ein Buch des Lehrens, sondern als ein Buch des Lernens, durch welches hoffnungsvolle Erfahrungen neu wahrgenommen werden und Hoffnung Schritt für Schritt erlernt wird.[2] Dabei ist er nicht der Meinung, dass die biblischen Texte für Kinder und Jugendliche zu alt, schwer und fremd sind. Es braucht kein „Graben“[3] überwunden zu werden, keine krampfhafte Vergegenwärtigung muss stattfinden, denn die Texte der Bibel sprechen nach Baldermann direkt zum Leser.

In der historisch-kritischen Exegese wird nach Baldermann dagegen der Text zum Objekt und in einem Akt größter Abstraktion weit von unserer Wirklichkeit zunächst erforscht und anschließend in einem „gewalttätigen Akt“ [4] der Konkretisierung wieder auf die Ebene unserer Erfahrung heruntergeholt. Sicherlich können ältere Schüler schon einen synoptischen Vergleich durchführen. Aber ob sich der biblische Text dabei für sie zu einem Sprachschatz erschließt, in dem sie eigene Fragen und Erfahrungen wiederentdecken, bleibt fraglich.

Während der Text bei dieser - oft auch nur kognitiv stärkeren Schülerinnen und Schülern vorbehaltenen - Methode von seiner ursprünglichen Lebendigkeit verliert, entsteht nach Baldermann bei einem direkten Umgang mit dem Text ein echter Dialog, der Text ist Subjekt eines Lernprozesses: Etwas reizt das Interesse des Lesers, ein Funke springt über, der Leser wird angesprochen und fragt zurück, er versucht mehr und Genaueres wahrzunehmen. [5] Baldermann kritisiert deshalb im Anschluss an Paolo Freires Bild von der „Container-Methode“ ein Anhäufen von Wissen über Texte, das von Experten abhängig macht, und will zu einem mündigen, selbstständigen Umgang mit der Bibel verhelfen. [6] Kinder sollen die Chance bekommen, sich durch die eigenständigen Erfahrungen mit dem Text ihrer eigenen Hoffnung bewusst zu werden und auch im Dialog mit anderen Religionen urteilsfähig zu werden.

Biblische Didaktik ist nach Baldermann somit mehr als eine Lehre der Vermittlung. Sie ist im Kern der Versuch einer Antwort auf die fortgeschrittene Zerstörung der Schöpfung, welche die Lebensbedingungen kommender Generationen immer mehr bedroht. Es geht nicht darum, sich mit Ausflüchten ins Jenseits oder mit purem Zynismus aus der Verantwortung zu ziehen, genauso wenig sind Antworten hilfreich, die an heroische Gesten der Veränderung appellieren. Tragfähig ist eine Antwort nur, wenn sie Hoffnung enthält, die Wege zeigt, jetzt Hoffnungsvolles zu tun und im Sinne dieser Hoffnung zu leben. Die Hoffnung muss die Liebe zum Leben und den Schmerz über das tägliche Sterben umfassen, wenn sie auf die Fragen heutiger Menschen eingehen will. Baldermann betont, dass es für ihn „weit und breit keinen Entwurf der Hoffnung [gibt], der dies mit solchem Gewicht vermag wie der der Bibel“ [7] . Dort ist keinesfalls durchgehend von Hoffnungsvollem die Rede. Im Gegenteil sprechen viele biblische Texte die Sprache der Klage, Verzweiflung, die der Bitte um Gerechtigkeit und Befreiung. Aber diese Sprache zielt nicht ins Leere sondern geschieht aufgrund der Verheißung Gottes. Im Dialog mit biblischen Hoffnungstexten sollen Menschen neu sehen lernen, ihre Wahrnehmung verändern und der Hoffnung Boden bereiten. So versteht Baldermann die Didaktik biblischer Texte als offene Didaktik, die sich nicht mit dem erreichen bestimmter Lernziele oder dem Anhäufen von Wissen zufrieden gibt, sondern auf einen lebenslang fortgesetzten Dialog hin angelegt ist und Menschen auf einen Weg wachsenden Erkennens führt. [8]

 


2. Didaktische Konkretionen
a) Psalmen

Auf der Suche nach Bibeltexten, die durch ihre Lebendigkeit und Zeitlosigkeit ohne Umwege und Hintergrundinformationen auch zu Kindern sprechen, stieß Baldermann zuerst auf Worte aus den Psalmen. Psalmen haben für Baldermann persönlich eine wichtige Bedeutung, es sind Basistexte, die ihn begleiten, die ihm in Angst und Freude ihre Sprache leihen. Neben dieser persönlichen Begründung nennt Baldermann aber weitere Gründe dafür, Psalmen im Unterricht zur Sprache zu bringen. Hinsichtlich eines Verzichts auf die historisch-kritische Exegese haben Psalmen den Vorteil, dass sie sich nicht auf einen ‘Sitz im Leben’ reduzieren lassen. Sie wurden nicht niedergeschrieben, um Zeugnis von einzelnen Frommen zu geben. Sondern sie sind Gebrauchstexte, die mitgesprochen und weitergegeben werden sollen. [9]

Der Zugang zur Bibel und der von ihr gemeinten Wirklichkeit Gottes kann für Kinder nur auf ganz elementare Weise gewonnen werden. Baldermann betont: „Es gibt dabei in der Bibel kein anderes Buch, in dem so elementar von und mit Gott geredet wird wie in den Psalmen“ [10] .

Darüber hinaus ist es Baldermann wichtig darauf hinzuweisen, dass die Gottesfrage nicht theoretisch, im Lehrgang thematisiert, sondern die Wirklichkeit Gottes nur wahrgenommen werden kann, wo Gott angeredet, beim Namen genannt, wo nach ihm gerufen wird. Dieses geschieht in den Psalmen. Schülerinnen und Schüler sind an dem beziehungsstiftenden Moment der Psalmen zwischen Mensch und Gott nur beteiligt, wenn sie zu den Psalmtexten aus ihrem eigenen Wahrnehmen, ihrer Erfahrung etwas beitragen können. Es geht um unmittelbare emotionale (nicht nur kognitive) Aneignung. Die bildhafte Sprache der Psalmen bietet dabei eine Chance der wechselseitigen Interpretation: Die Psalmen leihen den Schülerinnen und Schülern eine Sprache für deren eigene Erfahrungen, gleichzeitig verbinden sich die Psalmworte mit den Worten der Kinder.

Baldermann sieht in der Sprache der Psalmen eine Nähe zu Träumen (Das Gleiten und Stürzen (Ps 116, 8), das dunkle Loch, das sich über mir schließt (69,16), das Wasser, das mir bis zum Halse steigt (31,14)... Er vermutet: „Es muß wohl so etwas geben wie eine elementare Bilderschrift der Angst, die wir in unseren Träumen ebenso finden wie in des Psalmen. Setzen wir beide miteinander in Beziehung, so wird uns das helfen, beide noch genauer zu verstehen.“ [11]

Ansatzpunkt für eine Begegnung mit biblischen Texten sind also die Psalmworte von Angst und Vertrauen. Besonders in den Klagepsalmen begegnet Kindern eine Sprache der Angst, die sie sich aneignen können, mit der sie auch eigene Ängste ansprechen können. Mit diesem Ansatzpunkt gerät man in das Spannungsfeld von emotionaler Erziehung.

Hier geht Baldermann davon aus, dass die Versprachlichung der Gefühle schon ein wesentlicher und schwieriger erster Schritt ist. Man kann nicht einfach voraussetzen, dass Kinder selbstverständlich in der Lage wären, über eigene Erfahrungen mit tiefen Ängsten ohne weiteres zu reden. [12] Gerade für den Umgang mit den eigenen Emotionen bieten die Psalmen ihm ebenfalls einen guten Anknüpfungspunkt. Die Psalmen haben einen Namen für die Emotionalität, die sie nicht zu einem Mittel zum Zweck macht, sondern zu einem Gesprächspartner: nefesch (= Seele, Leben, ich, Kehle). Charakteristisch für die Psalmen ist das Gespräch mit der Seele: „Was betrübst du dich ,meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott“ (Ps 42,6). Für die Versprachlichung von Gefühlen, so Baldermann, ist das Wort ‘Seele’ hilfreich. Emotionalität wird fassbar, sie ist nicht einfach identisch mit dem redenden und denkenden Ich, sie kann sich durchaus gegen dessen Willen verselbständigen.

Zu dieser Differenzierung sind nach Baldermann auch Kinder fähig. Ein Gespräch mit ‘der Seele’ zu führen kann bedeuten, dass Kinder lernen sollen (und zwar nicht im Sinne einer entmündigenden Manipulation) ihre Emotionalität (ihre ‘Seele’) wahrzunehmen und ernst zu nehmen.

Die von Baldermann für die Psalmen geschilderte Vorgehensweise im Unterricht ist exemplarisch für seine gesamte Konzeption. Zuerst geht es um die Suche nach einzelnen Sätzen/ Psalmversen, die als Gesprächsimpuls dienen können. Nach Baldermann überwiegt bei Schülerinnen und Schülern beim Hören oder Lesen eines ganzen Psalms die Fremdheit gegenüber dem Entdecken des Bekannten oder Vertrauten. Einzelne Sätze bringen die Schüler eher zum Reden als geschlossene Texte.

Gegen exegetische Bedenken (Werden biblische Texte auf diese Weise nicht zerstückelt?) betont er, dass Psalmen als Gebrauchstexte zum mitsprechen, beten, zur Identifikation aufgeschrieben wurden. Damit es auch Gebrauchstexte für Kinder werden können, müssen die Texte kindgerecht elementarisiert werden. Das bedeutet eine Vereinfachung, Verkürzung bzw. Glättung der Sätze, aber kein ‘Übersetzen’, kein Auflösen der Metaphern (z.B.: „Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht“ - „Ich rufe, doch du antwortest nicht“ (Ps 22.3)). Psalmworte sollen später als „Inseln der Vertrautheit“ [13] in der Bibel wiederentdeckt werden. Die Anrede ‘Gott’ ersetzt Baldermann zunächst mit ‘Du’. Er will der Gottesfrage nicht ausweichen, nur soll sie zunächst als offene Frage, wer mit dem ‘Du’ gemeint sein könnte, begegnen und nicht mit einer „vorschnellen Lösung“ [14] zugeschüttet werden. So ist auch eine Identifikation des ‘Du’ mit vertrauten Mitmenschen möglich.

Als besonders geeigneter Zugang erwiesen sich in Baldermanns Schulversuchen Sätze aus den Klagepsalmen des Einzelnen. Nach intensivem Gespräch über die Sätze (Wer spricht solche Sätze?) wird den Kindern die Möglichkeiten geben, die Psalmverse zu gestalten, kreativ umzusetzen. Der nächste Schritt besteht darin, Worte gegen die Angst zu finden. Angst treibt nicht Hoffnung und Vertrauen hervor. Im Gegenteil: In den Psalmen sind die Vertrauensworte ‘Bedingungen’ der Klage, Klage ist schon immer der erste Versuch des Widerstandes gegen die Angst. Vertrauensworte leben von der Vergewisserung, der Erinnerung: „Du hast mich aus meiner Mutter Leibe gezogen, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an“ (Ps 22,10f.) Der enge Zusammenhang von Klage und Vertrauen wird z.T. durch ein ausdrückliches „denn“ hergestellt: „Höre, Gott, mein Schreien...denn mein Herz ist in Angst; du wollest mich führen auf einen hohen Felsen. Denn du bist meine Zuversicht, ein starker Turm vor meinen Feinden.“ (Ps 61,2-4). Im Anschluss an diesen Schritt können dann Lobpsalmen, Texte über die Liebe zum Leben und des Staunens über die Schöpfung erschlossen werden.

 

b) Prophetische Rede und Tora – „Sprache der Gerechtigkeit“

Die Erfahrung aus der Arbeit mit den Psalmen erschließt für Baldermann Zugänge zu weiteren zentralen Texten des Alten Testaments. Auch die prophetischen Texte hält Baldermann für geeignet, dass sie direkt und ohne Umweg über historisch-exegetische Fragestellungen zu Kindern sprechen können. Sie enthalten in ihrem Kern eine Leidenschaft für die Gerechtigkeit, die durchaus eine Brücke zu den Erfahrungen der Kinder schlagen kann: „Wer friedfertig daherkommt, dem reißt ihr den Mantel weg. Die Frauen vertreibt ihr aus ihren geliebten Häusern, und ihren Kindern zerstört ihr all ihre Herrlichkeit! Auf und fort mit euch! Hier sollt ihr nicht mehr wohnen!“ (Micha 2,8-10).

Die Basis für das Verstehen solcher anklagenden Texte bilden wiederum die Worte aus Klagepsalmen: „In der Klage der Psalmen kommen die Geängstigten zu Wort; die Schwachen vergewissern sich, daß ihr Schreien gehört wird, und die Vertrauensworte bauen darauf, daß Gott der Anwalt und die Zuflucht, der Fels und der Trost der Schwachen ist.“ [15] Aus dieser Einsicht kann eine Solidarität zu den Schwachen erwachsen. Auch für Kinder ist es nicht selbstverständlich, in die erfahrene Zuwendung Gottes auch die Schwächeren, gegenüber denen sie die Stärkeren sind, mit einzubeziehen. Die didaktische Aufgabe besteht darin, die Sensibilität für die Verletzlichkeit der anderen Schritt für Schritt wachsen zu lassen. Baldermann nennt diesen Prozess ‘Alphabetisierung in der Sprache der Gerechtigkeit’. In den prophetischen Texten wird das Aufbrechen einer selbstsüchtigen Inanspruchnahme der Verheißung sowie das Wahrnehmen der Verletzungen und Entwürdigungen, die anderen Menschen widerfahren, explizit. Gerechtigkeit zu üben ist eine Fähigkeit, die zu erlernen ist. Auf dem Weg dazu sind für Baldermann daher das Verstehen der Propheten, aber auch das Erlernen der Sprache der Tora, unumgängliche Schritte. [16]

Tora ist die Bezeichnung für die ersten fünf Bücher der hebräischen Bibel. Während die Charakterisierung der Tora als ‘Gesetz’ mit negativen Konnotationen verbunden ist, hält Baldermann die Bezeichnung ‘Weisung’ für gelungener. Die Tora ist für Juden unentbehrliche Weisung für das Leben. In elementaren Sätzen spricht die Tora diese Weisung in Form von Geboten aus. Deren Unmittelbarkeit, Zugänglichkeit und zentrale Bedeutung entspricht nach Baldermann der Sprache der Psalmen. [17]

Während uns das „Du sollst nicht...“ der Lutherübersetzung vertraut ist, müsste der hebräische Text besser mit „Du wirst nicht morden, ehebrechen, stehlen...“ usf. übersetzt werden: Die Sätze wirken „wie ein dramatischer Zuruf, wie ein ‘Halt!’ in letzter Sekunde, etwa so wie: ‘Nicht schießen!’ oder ‘Keine Gewalt!’“ [18] .

Diese Sätze beziehen sich auf Entscheidungssituationen, in denen mehrere Möglichkeiten offen stehen. Es geht dabei weniger um ein sorgfältiges Abwägen der verschiedenen Möglichkeiten, sondern das ‘Nein’ kommt ganz einfach, schnell und direkt. Es zielt auf Handlungen, die ohne Überlegung, aus einem Affekt heraus, wie Angst oder Zorn, geschehen. Solchen Versuchungssituationen, wie Baldermann sie nennt, kann man nur widerstehen, wenn ein anderer Mensch einen zurückhält oder wenn ein Wort, das aus dem Inneren aufsteigt mit solchem Gewicht sein ‘Nein’ sagt, dass man wirklich innehält. Baldermann will nun die Sätze der Tora so erschließen, dass sie im kritischen Augenblick dem Sog der Verführung Einhalt gebieten. Dieses kann nicht durch ein Auswendiglernen geschehen, sondern durch ein ‘Learning by heart’, z.B. im Bibliodrama. Aber auch über eine Einsicht kann die Sprache der Tora einsichtig werden. Wieder rückblickend auf die Psalmen kann verdeutlicht werden, dass alle Erfahrungen zwischen Klage und Vertrauen, „die Gewißheit, nicht allein zu sein, getröstet zu werden, geborgen zu sein und aufgerichtet zu werden“ [19] gegenstandslos werden, wenn sie nicht Konsequenzen in unserem Leben haben, wenn sie sich in unserer Gemeinschaft nicht als selbstverständliche Verpflichtungen niederschlagen. Es ist auch für Kinder einsichtig, wenn Gott nicht nur derjenige ist der sagt : Ich bin bei dir! Sondern auch: Du sollst den Armen nicht unterdrücken! (vgl. 3. Mose 19). Hier überzeugt die Sprache der Gerechtigkeit unmittelbar.

 

3. Die Geschichtlichkeit des Alten Testaments als Prämisse bibeldidaktischer Überlegungen

Gerade hinsichtlich prophetischer Schriften und der Tora ist nun jedoch darauf hinzuweisen, dass die Bücher des Alten Testaments durch geschichtliche Situationen hervorgerufen und geprägt sind. Das Alte Testament als Glaubenszeugnis stellt historische Realitäten in den Dienst seiner Verkündigung und versucht, geschichtlich erfahrene Krisen durch theologische Deutung zu bewältigen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der exklusiven Beziehung Jahwes zu seinem Volk und der durch ihn erfolgten Heilszusagen. [20]Geschichtliche Ereignisse als Ursprungssituationen biblischen Glaubens führen vor Augen, dass Israel kaum Herr seiner Geschichte war, Geschichte mehr erlitten als gestaltet hat, die kurze Zeit der Eigenstaatlichkeit ausgenommen. Aus der Situation permanenter Unterdrückung und Bedrohung, aus Erfahrungen der Gewalt heraus zeichnet das Alte Testament – im Einklang mit den religiösen Vorstellungen seiner Zeit – häufig ein grausames, gewalttätiges Bild von seinem Gott. Dass dieser Gott zugleich als der Rettende, Befreiende, Schützende und Tröstende erfahren wird, steht in keinem Widerspruch dazu.Dennoch hat die Wirkungsgeschichte biblischer Geschichten gezeigt, dass zahlreiche Texte, die ein ambivalentes Gottesbild spiegeln, aufgrund mangelnder Verständnisvoraussetzungen der Botschaft des Alten Testaments abträglich waren und zu einer Diffamierung des ersten Testaments der Christen führten. Um solches zu vermeiden, müssen historisch gewachsene Texte mit Mitteln historisch-kritischer Exegese erschlossen werden. Sie enthalten keine theologia perennis, die sich quasi jedem von selbst offenbart. [21] So ist Baldermanns Unmut gegenüber der Abhängigkeit von Experten einerseits verständlich, andererseits ist diese Einstellung im Hinblick auf den unterrichtlichen Diskurs gefährlich, da Projektionen und Verzweckungen damit Tür und Tor geöffnet werden können.Als verschärfend kommt im Unterricht hinzu, dass die Geschichtlichkeit biblischer Überlieferung von Kindern und Jugendlichen historisierend missverstanden wird, indem sie Texte primär auf ihre historische Faktizität hin befragen, wodurch diese damit in ihrem Charakter verkannt und in ihrer Intention unterlaufen werden.Um die Geltung der alten Texte immer wieder für die Gegenwart neu zu ermitteln, müssen alttestamentliche Überlieferung und Glaubensgemeinschaft in Dialog miteinander treten. Nur so kann ein in schriftlich fixierter Form abgeschlossener Offenbarungstext mehr sein als ein literarisches Produkt, welches zu literaturarchäologischen Analysen anregt.Für den Umgang mit dem Alten Testament ist es von zentraler Bedeutung, die dialogische Struktur des Offenbarungsgeschehens, welches Gotteserfahrung in einer geschichtlichen Situation ausspricht, aufleben zu lassen, indem die gegenwärtige Situation und die Tradition zueinander in Beziehung gesetzt werden.Dies ist nur um den Preis der Ermittlung des sensus historicus zu haben und bedarf der Methoden der historisch-kritischen Exegese. [22]

An dieser Stelle eröffnet sich ein grundlegendes didaktisches Dilemma im Primarbereich, wo Kinder zu einer Auseinandersetzung auf der Basis historisch-kritischer Wissenschaft noch nicht in der Lage sind – und dieses auch nicht unbedingt als erstrebenswert erscheint –, sie andererseits aber ihren eigenen „hermeneutischen Schlüssel“ zu biblischen Texten haben, dergestalt, dass sie diese nicht selten für „früher einmal irgendwann so passierte Geschichten“ halten.Hier scheint der Ausweg Baldermanns überzeugend zu sein. Wenn eine exegetische Auseinandersetzung im Primarbereich ohnehin „deprimierend abstrakt und allgemein“ [23] bleibt, warum nicht dann die unmittelbare Begegnung mit der Sprache der Bibel suchen? Nach der Auffassung Baldermanns kann nur das Hineinbegeben in die existentielle Sprechsituation biblischer Texte aus den grundschuldidaktischen Schwierigkeiten hinausführen.Der damit verbundene bibeldidaktische Anspruch Baldermanns soll im Folgenden in doppelter Hinsicht auf seine Relevanz im Primarbereich untersucht werden. Zum einen unter Berücksichtigung der Frage, inwieweit dieser Ansatz angesichts kindlicher Gottesvorstellungen einen Zugang zu alttestamentlichen Gottesbildern bietet und andererseits, inwieweit seine bibeldidaktischen Maximen der Tora-Rezeption mit Forderungen ethischer Erziehung im Primarbereich zu vereinbaren sind.

 

4. Alttestamentliche Bilder von Gott und kindliche Gottesvorstellungen

In der Bibeldidaktik Baldermanns ist Gott immer schon das als Hoffnungsgrund angesprochene Gegenüber, der Adressat des Gebetes, des Lobes, der Klage. Um mit Baldermann selbst zu sprechen: „Die entscheidend kritische Frage der damaligen wie der heutigen Leser ist nicht, ob Gott redet, sondern was Gott redet.“ [24]Ein Bibelunterricht, der in diesem Tenor stattfindet, verunmöglicht es nahezu über Gott nachzudenken und zu sprechen. Die legitimen Fragen, ob Gott existiert, ob und wie er sich den Menschen mitteilt, die immer wieder Gegenstand des Religionsunterrichts sind und sein müssen, weil immer weniger von einem einheitlichen Glaubenskontext aller Beteiligten ausgegangen werden kann, bleiben ausgeklammert. Dass in unterschiedlichen biblischen Traditionen vielschichtige, teils widersprüchliche Bilder von Gott gezeichnet werden, ist schwer vermittelbar. Für Kinder sagen biblische Texte: So ist Gott. Zum richtigen Verständnis wäre es aber notwendig zu erkennen: Hier erzählt jemand aus seiner Erfahrung heraus, wie Gott erlebt wurde bzw. gedeutet wird.Indem Kinder Gott in Psalmen ansprechen oder auch zum Sprachrohr prophetischer Kritik werden, ist eine distanzierende Betrachtungsweise bezüglich des biblischen Textes gar nicht erst vorgesehen. Ein derartig einseitiger Umgang mit der Bibel wird den Aufgaben schulischen Religionsunterrichts in der Gegenwart nicht gerecht. Angesichts sich individualisierender religiöser Vorstellungen und synkretistischer Tendenzen ist ein Bild des biblisch bezeugten Gottes grundlegend häufig erst zu vermitteln.So fordert F. Schweitzer mit Recht auf Grund der pluralen Situationen religiöser Sozialisation heutiger Kinder, dass der Religionsunterricht behutsam korrigierend eingreifen muss, um angstbesetzte oder auch legalistisch verengte Gottesbilder von Kindern durch positive biblische Bilder von Gott zu ergänzen bzw. zu ersetzen. [25]Dies wird gerade im Grundschulreligionsunterricht durch alttestamentliche Geschichten geschehen können, die Gott als den Führenden, Begleitenden und Bewahrenden darstellen. Diese Intention lässt sich durch Texte, die in der weisheitlichen Tradition stehen, grundschulgerecht am ehesten realisieren, da diese auch bei mangelnden Verstehensvoraussetzungen ein im o.g. Sinne „eindeutiges“ Gottesbild vermitteln.

Anders sieht dies dagegen in den Abraham-Geschichten aus, wo in der Wahrnehmung von Kindern der beschützende Gott Abrahams in Gen 22 zum Gehorsam fordernden Willkür-Gott werden kann.Kinder müssen den Gott des Alten Testaments erst einmal kennen lernen, bevor sie in eine existentielle Sprechsituation ihm gegenüber treten können. So sollte ihnen Gelegenheit gegeben werden, sich mit den Protagonisten der Jona-, Rut- oder Josefs-Geschichte zu identifizieren, um gleichsam aus ihrer Perspektive den den Menschen zugewandten Gott wahrnehmen zu können. Die Grundschule sollte im Hinblick auf alttestamentliche Didaktik die Hauptaufgabe haben, das positive Gottesbild, das die o.g. narrativen Textzusammenhänge entfalten, zu erschließen. Bezeichnenderweise kommen narrative Texte in der alttestamentlichen Bibeldidaktik Baldermanns nicht vor. Indem er ganz auf die existentielle Sprechsituation setzt, muss er sich auch nicht um implizite Botschaften alttestamentlicher (prophetischer) Texte kümmern, die nicht ohne weiteres von Kindern angemessen rezipiert werden können. Das richtige Verstehen – auch biblisch überlieferter Rede – setzt die Kenntnis über geschichtliche Situationen bzw. narrative Zusammenhänge, in denen sie überliefert werden, voraus.Religionsunterricht muss ein umfassenderes Interesse an Bibeldidaktik haben, als es die Didaktik Baldermanns - zumindest das Alte Testament betreffend - realisiert. Die von ihm konkretisierten Bereiche - Psalmen, Prophetenworte und Tora - lassen nicht plausibel einsichtig werden, warum Kinder, die möglicherweise zum ersten Mal etwas vom Alten Testament hören, sich ausschließlich mit diesen Themen auseinandersetzen sollen. Noch drängender bleibt die Frage, welches Bild Kindern vom Gott des Alten Testaments vermittelt und ob die Gottesfrage überhaupt ausreichend thematisiert wird angesichts der Tatsache, dass von Anfang an eine Gottesbeziehung seitens der Kinder vorausgesetzt wird.Da einer der wenigen explizit erschlossenen Bereiche derjenige der Tora ist, soll in einem weiteren Schritt Baldermanns oben dargestellte Tora-Rezeption befragt werden.

 

5. Tora-Didaktik Baldermanns im Kontext ethischer Erziehung

„Prophetische Rede und Tora – Sprache der Gerechtigkeit“ titelt Baldermann diesen umfassenden alttestamentlichen Bereich. Wiederum anknüpfend an die „Ursprache“ des Alten Testaments, die Psalmen, setzt Baldermann auch hier auf die suggestive Kraft des gesprochenen biblischen Wortes. Ähnlich wie im prophetischen Einspruch geht es um die Verinnerlichung der Tora-Gebote durch einen dramatischen Zuruf. Baldermann spricht von Versuchungssituationen, denen nur widerstanden werden kann, wenn etwas, das aus dem Inneren aufsteigt, Einhalt gebietet, indem es „nein“ sagt. [26] Baldermann entwirft damit ein Szenario, welches die Weisungen der Tora zum Bannspruch werden lässt, der vorab jeglicher Reflexion Handlungen mit einem Tabu belegt. Indem Baldermann besonders Affekthandlungen betont, die durch Zorn oder Angst motiviert sind, erliegt sein Konzept im Kontext ethischen Lernens merkwürdigen Verzerrungen. Ethisches Lernen vollzieht sich heute im Primarbereich vorwiegend in teleologischen Begründungszusammenhängen, das heißt, Handlungen werden von ihren positiven bzw. negativen Folgen her begründet und legitimiert. [27] Dies ist notwendig, um sich argumentativ begründend zu seiner eigenen Tat verhalten zu können und damit eine Handlung zur eigenen werden zu lassen. Es läuft ethischen Lernprozessen zuwider, die Dekalog-Gebote verallgemeinernd als Einhalte-Rufe zu verstehen. Dies ließe sich bestenfalls zur Durchbrechung von Spiralen der Vergeltung und der Gewalt plausibel machen. Ein moralisch verantwortliches Handeln, welches Argumente abwägt und die Folgen von Handlungen zu antizipieren und bedenken lernt, wird auf diese Weise nicht gefördert.

Ethische Erziehung im Primarbereich setzt dort ein, wo zu Perspektivenübernahme angeleitet wird und Empathielernen es ermöglicht, eigene Bedürfnisse und Interessen mit denen anderer in Gleichklang zu bringen. Ein „Learning by heart“ ohne Verständnis der heute nicht unübersetzt zu rezipierenden Dekalogworte birgt die Gefahr in sich, dass diese legalistisch missverstanden werden. Gerade bei Kindern ist auch die Gefahr des magischen Missverständnisses groß, wenn mit dem Dekalog so verfahren wird, wie Baldermann dies vorschlägt. Es können sich kindliche Vorstellungen verfestigen, die dem do-ut-des-Schema folgen: [28] Das darf man nicht tun, weil Gott es verbietet, wenn ich es trotzdem tue, werde ich bestraft. Kenntnisse über Gottesvorstellungen und das moralische Urteil von Grundschulkindern fordern Religionslehrerinnen und Religionslehrer zumindest heraus, dies im didaktischen Vorfeld ihrer Unterrichtsplanung zu bedenken.Nachvollziehbarer und als gelungener einzuschätzen ist daher der zweite Aspekt, den Baldermann im Kontext der Tora-Erschließung vorsieht. So macht Baldermann deutlich, dass der Glaube an den befreienden, rettenden, tröstenden Gott gegenstandslos wird, wenn er keine Konsequenzen für die an diesen Gott Glaubenden hat. Diese Grundvoraussetzung gilt es im Religionsunterricht immer wieder bewusst zu machen und herauszustellen. Das Einhalten der Dekalog-Weisungen setzt den Glauben an den allen Menschen zugewandten Gott voraus. Gelingt es, dies zu vermitteln, dann wird auch für Kinder begreifbar: Wer an den alle Menschen liebenden Gott glauben kann, wird Arme nicht unterdrücken, Schwächere nicht ausbeuten, nicht für sich allein den Vorteil suchen.

 

6. Zusammenfassung

Die skizzierten Probleme aus dem Bereich alttestamentlicher Gottesbilder und ethischer Weisungen haben zumindest ansatzweise deutlich werden lassen, wie schwierig es in der religionspädagogischen Praxis ist, alttestamentliche Texte unmittelbar zu Schülerinnen und Schüler sprechen zu lassen.Selbst Baldermanns bibeldidaktischer Dreh- und Angelpunkt – die Psalmen – ermöglichen Kindern nicht uneingeschränkt ein Teilhaben an biblischer Sprache bzw. ein Sein in biblischen Texten. Können Kinder wirklich Ihre Hoffnungen und Ängste unvermittelt in der Sprache des Psalmbeters artikulieren, wenn sie Teile aus Psalm 23 sprechen, spielen, tanzen: „... dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher“ (V46,5)? [29]So erweist sich aus religionsdidaktischer Sicht der Ansatz Baldermanns in zweifacher Hinsicht als problematisch: Zum einen machen wir es uns zu einfach, wenn wir mit Baldermann die Fremdheit biblischer - und eben besonders alttestamentlicher - Texte negieren.

Es ist eine grundlegend kulturell und religiös anders geprägte Welt, die sich in diesen Texten spiegelt.Die von Baldermann herausgegriffenen Themen entstammen Kontexten, auf die nicht reflektierend eingegangen wird. Sowohl die Tora als auch Teile von Prophetenworten befinden sich in Zusammenhängen, die von massivem Ausschließlichkeitsanspruch der Jahwe-Religion geprägt sind und in unterrichtlichen Vermittlungssituation sehr differenziert wahrgenommen werden müssen. Das Tötungsverbot steht in der Exodustradition in einem Kontext, in dem bspw. selbstverständlich ungestraft getötet wird. Viele alttestamentliche Texte vermitteln so aus der Sicht von Kindern inkongruente Botschaften.Was bedeutet es für Kinder, einen Tisch im Angesicht der Feinde von Gott bereitet zu bekommen? Lässt sich prophetische Kritik heute vermitteln, die sich aggressiv-polemisch mit Fremdgötterglauben auseinandersetzt und in diesem Zusammenhang auch Gewalt als legitimes Mittel ansieht? Wird prophetische Kritik bei Baldermann nicht verkürzt?Reicht es aus, das alttestamentliche Ehebruchsverbot heute im Sinne eines „Tu’s nicht“ zu verinnerlichen, ohne die Folgen des Ehebruchs im altorientalischen Verständnis zu kennen und im heutigen gesellschaftlichen Kontext zu reflektieren? Kann es überhaupt sinnvoll ein Thema für Kinder werden, die sich doch nur in der Rolle der Opfer von Ehebrüchen erfahren können? Es ergeben sich viele Fragen, auf welche die Bibeldidaktik Baldermanns keine ausreichenden Antworten gibt.Dies leitet über zu einem zweiten Kritikpunkt an Baldermann, der in der Struktur seines Ansatzes begründet liegt.

Baldermanns elementare Bibeldidaktik erlaubt keine Distanz zur Bibel – ein Umstand, der zumindest für den schulischen Religionsunterricht heute nicht mehr zu rechtfertigen ist. So sieht es z.B. der Schweizer Religionspädagoge A. Bucher für unhaltbar an, die Gattungen der Psalmen nur über die existentielle Dimension des Gebetes zu erschließen. [30] Auch wenn Baldermann dies nicht intendiert, so kommt es doch zu einer unreflektierten didaktischen Inszenierung von Gebetssituationen. Dies kommt einer Vereinnahmung gleich, besonders im Primarbereich, wo Kinder bereitwillig vieles mitmachen.Trotz aller positiven Impulse, welche die Bibeldidaktik durch Baldermann erfahren hat, muss resümierend mit Godwin Lämmermann festgestellt werden, dass Baldermann als Vertreter des sogenannten Autarkiemodells kritisch zu befragen bleibt. [31] Das Autarkiemodell ist eine Möglichkeit, dass Verhältnis von Theologie und Pädagogik/ Humanwissenschaften zu beschreiben. Es geht jedoch noch heute vom Primat der Theologie gegenüber der Pädagogik aus, wo selbst Erziehungswirklichkeit mit theologischen und nicht pädagogischen Kategorien beschrieben wird. Weil im Hinblick auf die Bibel nur eine in dieser selbst liegende Didaktik akzeptiert wird, braucht vermeintlich nur diese zu entfaltet werden.

Wenn Theologie aber zur Didaktik erhoben wird und diese Form der Didaktik meint, von der Pädagogik nichts mehr lernen zu können, ist die Gefahr fundamentalistischen Umgangs groß. Bei Baldermann zeigt sich diese Auffassung in der Feststellung, vom Vorverständnis der Kinder auszugehen sei sinnlos, da der Religionsunterricht nicht mit einer anthropologisch vorgegebenen Möglichkeit wahren Verstehens rechnen kann. [32] Deutlich wird das Übergehen der Humanwissenschaften für die religionspädagogischen Überlegungen auch an Baldermanns Beitrag zur emotionalen Erziehung. Ist die Problematik der emotionalen Erziehung nicht wesentlich komplexer, als dass es durch ein „Gespräch mit der Seele“ aufgearbeitet werden könnte? Darüber hinaus bleibt es fraglich, ob die Kinder die Sprache der Psalmen tatsächlich so verinnerlichen, dass diese Sätze zu ihren eigenen werden, mit denen sie eigene Ängste und Vertrauenserfahrungen zum Ausdruck bringen. Hier muss auch kritisch nach den Grenzen emotionaler Erziehung im Unterricht gefragt werden. Wie viel an Ängsten und Emotionen will ich im Unterricht überhaupt aufbrechen lassen, wenn ich nicht die Möglichkeit habe - in höchstens zwei Schulstunden pro Woche- diesen angemessen zu begegnen und mit ihnen umzugehen.

Abschließend ist daher festzuhalten, dass die biblische Didaktik Baldermanns einem Religionsunterricht, der die Lebenswirklichkeit und die Lernwege seiner Schülerinnen und Schüler kennt und zum Ausgangspunkt von Lernprozessen macht und zugleich die Botschaft alttestamentlicher Texte angemessen zur Sprache bringen will, nur begrenzt gerecht wird.

 

Anmerkungen

  1. Leicht abgeänderte Fassung eines Vortrages, gehalten innerhalb der Reihe „Der Gott der beiden Testamente“ im Theologischen Kolloquium der Universität Hildesheim am 12.12.2000.
  2. Vgl. I. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt 1996, (Vorwort).
  3. Ebd., S.1.
  4. Ebd., S.2.
  5. Ebd., S.3.
  6. Ebd. S.5ff.
  7. Ebd., S.11.
  8. Vgl. ebd., S. 15-21.
  9. Vgl. I. Baldermann, Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, Neukirchen-Vluyn 51995, S. 17.
  10. Ebd., S.10.
  11. Ebd., S.15.
  12. Vgl. ebd., S.47.
  13. Ebd., S.26.
  14. Ebd., S.28.
  15. Vgl. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, S.141.
  16. Vgl. ebd., S.143ff.,
  17. Vgl. ebd., S.148f.
  18. Ebd., S.149.
  19. Ebd., S.152.
  20. Vgl. O. Kaiser, Der Gott des Alten Testaments. Theologie des AT 1 Grundlegung, Göttingen 1993, S. 157 ff
  21. Vgl. H.C. Schmitt, Der Stellenwert der Bibelwissenschaft in der universitären Religionslehrerausbildung. In: W. Ritter/M. Rothgangel,. Religionspädagogik und Theologie. Enzyklopädische Aspekte,Stuttgart-Berlin-Köln 1998, S. 303-320, S. 313.
  22. Vgl. Schmitt, Der Stellenwert der Bibelwissenschaft, S. 305.
  23. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, S. 25.
  24. Ebd., S.139.
  25. F. Schweitzer, Kind und Religion. Religiöse Sozialisation und Entwicklung im Grundschulalter. In: Ders./G. Faust-Siehl, Religion in der Grundschule, Frankfurt/M. 21995, S. 38-47, S. 46.
  26. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, S. 149.
  27. Vgl. B. Schüller, Die Begründung sittlicher Urteile. Typen ethischer Argumentation in der Moraltheologie, Düsseldorf 21980, besonders S. 177 ff.
  28. Schweitzer, Kind und Religion, S. 43.
  29. Vgl. H. Freudenberg (Hg.), Religionsunterricht praktisch 2. Schuljahr. Neubearbeitung Göttingen 1999, S. 126.
  30. Vgl. A. Bucher, Bibeldidaktische Grundregeln: Altes Testament. In: E. Groß/K. König (Hg.), Religionsdidaktik in Grundregeln. Leitfaden für den Religionsunterricht, Regensburg 1996, S. 68-94, S.84.
  31. Vgl. Lämmermann (21998), S. 84.
  32.  Ebd., S. 157. Lämmermann bezieht sich hier auf: I. Baldermann, Die Bibel - Buch des Lernens, Göttingen 1980, S.25.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2001

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