'... den Glauben in sich selbst?' - Anne Frank und ihre religiöse Entwicklung - eine Unterrichtssequenz

von Ulrike Pagel-Hollenbach

 

Vorbemerkung

Die hier vorgestellte Sequenz über die religiöse Entwicklung bei Anne Frank ist Teil einer umfassenden, in einer 7. Klasse gehaltenen UE zu Anne Frank.

Mehrere Schüler/innen kannten das Tagebuch bereits; einige Schülerinnen wünschten es als Unterrichtsthema. Das Tagebuch der Anne Frank ist ein "Eckpfeiler der Erinnerungskultur" und stößt immer noch auf ein weitverbreitetes Interesse bei Jugendlichen. Wichtig ist wahrzunehmen, dass mit der Behandlung des Tagebuches und dem Leben der untergetauchten Anne im Hinterhaus nur ein Baustein im Mosaik des Holocaust thematisiert wird. Meines Erachtens bieten die Tagebuchaufzeichnungen aber gerade deshalb eine gute Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler des 7. Jahrgangs an das Thema Holocaust heranzuführen, weil hier das unbegreifliche Grauen nicht in der Härte der Realität dokumentiert, sondern in Annes Ängsten und Hoffnungen gespiegelt wird. Weitere Texte und Zeitdokumente werden in die UE jeweils dann eingespielt, wenn Anne die zeitgeschichtlichen Ereignisse auch aufgrund ihrer isolierten Situation nicht richtig einschätzte und vielleicht auch nicht einschätzen konnte.

Der Holocaust bildete den Bezugspunkt der gesamten UE und sollte auch bei der Verwendung dieser Sequenz, die besonders die religiöse Entwicklung von Anne Frank in den Blick nimmt, durch einen entsprechenden Kontext hergestellt werden.

Von ihrem 13. bis zu ihrem 15. Lebensjahr dokumentiert Anne in ihrem Tagebuch ihr Leben im Hinterhaus.

Anne Frank hat eine ganz besondere Biographie und doch ist sie eben eine Jugendliche, die - vielleicht aufgrund ihrer isolierten Situation verstärkt - auch das ganz normale Chaos der Pubertät mit in ihr Tagebuch einfließen läßt. Sie beschreibt ihre Höhen und Tiefen, aber auch, wie sie gerade durch das Chaos, durch Selbstzweifel, Traurigkeit und auch Wut mit einer großen Sehnsucht zu neuer Lebendigkeit und Tiefe zu ihrem Glauben gelangt.

Das Tagebuchschreiben ist für Anne eine große Hilfe, ihr Leben zu bewältigen, ein Ersatz auch für den Austausch mit einer wirklichen Freundin oder einem Freund. Anne wünscht sich immer wieder die echte Auseinandersetzung, den Dialog, der Entwicklung zuläßt (Tagebuch S. 296). In diesem Sinne möchte ich diese Sequenz gestalten: Als Dialog. Meine Hoffnung(und meine Erfahrung) ist, dass die 13- bis 15jährige Anne Frank, auch wenn sie heute 70 Jahre alt wäre - als Dialogpartnerin bei Jugendlichen, vor allem bei Mädchen, eine Chance hat.

Sachanalyse

Zur Erinnerung einige Eckdaten ihrer kurzen Biographie:

12. Juni 1929: Anne Frank wird in Frankfurt a. M. geboren. Ihre Eltern sind Edith und Otto Frank, sie hat eine 3 Jahre ältere Schwester Margot.

Ab Sommer 1933: Anne flieht - mit Zwischenwohnsitz bei der Großmutter in Aachen bis nach Amsterdam; Otto Frank gründet dort die Opekta-Werke.

10. Mai 1940: Die Deutschen besetzen die Niederlande.

12. Juni 1942: Annes 13. Geburtstag; sie bekommt ihr Tagebuch.

6. Juli 1942: Familie Frank versteckt sich im Hinterhaus der Prinzengracht 263, Familie van Pels und Fritz Pfeffer kommen hinzu.

7. August 1944: Die Untergetauchten werden verhaftet. Sie werden schließlich über das Sammellager Westerbork nach Ausschwitz deportiert.

8. Oktober 1944: Anne und Margot werden ins Lager Bergen-Belsen gebracht.

März 1945: Margot und dann Anne sterben in Bergen-Belsen.


Die religiöse Entwicklung von Anne Frank

Vorbemerkung:
Hannah Elisabeth Pick-Goslar (von Anne in ihrem Tagebuch Lies Goosens genannt) erzählt in einem Interview, das 1988 geführt wurde, die Franks seien im Gegensatz zu ihren eigenen Eltern überhaupt nicht religiös gewesen, andererseits berichtet sie, Familie Frank hätte die Abende des Schabbat und des Pessachfestes immer bei der befreundeteten Familie Goslar gefeiert.

Über Anne erzählt Elisabeth Pick-Goslar, dass sie keinen jüdischen Religionsunterricht bekam, anders als ihre Schwester Margot kein Hebräisch lernte und mit ihrem Vater noch seltener in die Synagoge ging als ihre Mutter und Margot. Ihr Fazit: Anne "war überhaupt nicht religiös."

Annes Einschätzung ihrer eigenen Religiosität widerspricht der Einschätzung ihrer orthodoxen Freundin Elisabeth Pick-Goslar. Sie beschreibt die Freundin im Verhältnis zu sich selbst: "Sie war mindestens so fromm wie ich, sie wollte auch das Gute". (Tagebuch S. 151)

Diese Einschätzung nimmt Anne jedoch rückblickend vor in einer Phase, in der sie sehr intensiv nach Gott fragt.

Fazit: Religiosität hat in der Kindheit für Anne eine sehr untergeordnete Rolle gespielt, in der Kommunikation mit anderen Kindern vermutlich überhaupt keine. Das sollte sich in der Hinterhauszeit grundlegend ändern.

 

Annes religiöse Entwicklung während der Hinterhauszeit
Während der zwei Jahre im Versteck bekommt der Glaube für Anne allmählich eine existentielle Bedeutung. Es lassen sich verschiedene Phasen ausmachen:

  1.  Die Phase der Auseinandersetzung und Abgrenzung
  2.  Die Phase des individuell-existentiellen Glaubens
  3.  Phase des Glaubens, der Verbindung schafft

 

1. Phase der Auseinandersetzung und Abgrenzung

Im Oktober 1942 und im April 1943 äußert sich Anne als Dreizehnjährige zum Thema Gebet. Geht es im Oktober um das Gebetbuch ihrer Mutter, das diese ihr gegeben hat, so schreibt Anne im April von ihrer Zurückweisung gegenüber der Mutter, als diese abends mit ihr beten möchte. In beiden Fällen ist die Abwehr gegen Religiöses verknüpft mit der Abgrenzung gegen die Mutter, von der Anne sich häufiger verletzt fühlt und sehr stark distanziert.

Interessant sind ihre Gedanken zu dem Gebetbuch. Sie schreibt, dass sie anstandshalber ein paar Gebete gelesen habe. Sie findet die Gebete "schon schön", aber sie sagen ihr nicht viel, d. h. diese Gebete lösen wenig wirkliches Interesse bei Anne aus. Sehr stark ist auch ihre Abwehr gegen den Zwang, sich von außen etwas aufdrücken zu lassen. Sie will nicht gezwungen werden, "fromm-religiös zu tun". (Tagebuch S. 70)

Mit dieser Abgrenzung macht sie deutlich, dass sie nicht bereit ist, von außen zu übernehmen, was nicht ihrem eigenen Denken und Fühlen entspricht.

 

2. Die Phase des individuell-existentiellen Glaubens

Ich möchte diese Phase weiter unterteilen in:


2.1. Phase des existentiellen Fragens

 

2.2. Die Phase des Glaubens, der Weite schafft

Immer wieder wird Anne von Ängsten geplagt, Ängste vor dem Entdecktwerden und vor der Bedrohung durch Bomben, aber auch diffuse, existentielle Ängste machen ihr zu schaffen. In dieser Situation des Ausgeliefertseins bezieht sich Anne das erste Mal in ihrem Tagebuch auf Gott als Gegenüber.

Ende November 1943 (Anne ist 14 Jahre und 5 Monate alt) konzentrieren sich Annes Ängste und Phantasien auf ihre Freundin Hanneli. Sie hat Bilder von der Freundin vor Augen, von der sie weiß, dass sie im KZ ist.

Anne hat Schuldgefühle gegenüber Hanneli, von der sie meint, sie ungerecht behandelt zu haben. Ihre Gefühle spiegeln sich in einem inneren Dialog, den sie in ihrem Tagebuch wiedergibt. Anne fühlt sich hilflos. "Ich kann nur zuschauen, wie andere Menschen leiden und sterben." (S. 150) Sie klagt sich selber an: "Oh, Anne, warum hast Du mich verlassen," aber sie wendet sich auch an Gott. Sie fragt und klagt und betet: "Warum musste sie womöglich sterben?", malt sich aus, was sie wieder gutmachen kann nach dem Ende des Krieges. Schließlich betet sie für Hanneli zu Gott. "Lieber Gott, hilf ihr, dass sie wenigstens nicht allein ist. Wenn Du ihr nur sagen könntest, dass ich mit Liebe und Mitleid an sie denke..." Und sie fragt sich, ob Hanneli den Glauben in sich selbst hat, nicht von außen aufgedrängt, wogegen Anne selbst sich ja gewehrt hatte. Sie weiß also mit ihren 14 Jahren, dass der Glaube nur trägt, wenn er wirklich zu einem gehört.

Sie gesteht sich ein, nicht mehr helfen zu können, aber sie will "sie (Hanneli) niemals vergessen und immer für sie beten."

Diese Tagebucheintragung ist für das Verstehen von Annes Religiosität zentral: Sie wendet sich mit ihrer verzweifelten Klage an Gott, bittet da, wo sie nicht helfen kann, Gott selbst um Hilfe auch für die Freundin, und findet für sich im Beten eine Möglichkeit des Umgangs mit ihrer Verzweiflung.


2.2 Die Phase des Glaubens, der Weite schafft

Die eingesperrte Anne findet Trost in der Natur, in diesem winzigen Ausschnitt Himmel, den sie durch ein Dachbodenfenster sehen kann. Sie schreibt im Februar 44 (14 Jahre, 8 Monate alt): "Solange es das noch gibt, ... und ich es erleben darf, diesen Sonnenschein, diesen Himmel, an dem keine Wolke ist, so lange kann ich nicht traurig sein". Was sie selber als tröstlich erlebt hat, verallgemeinert sie: "Für jeden, der Angst hat, einsam oder unglücklich ist, ist es bestimmt das beste Mittel, hinauszugehen, irgendwohin, wo er ganz allein ist, allein mit dem Himmel, der Natur und Gott. Dann erst, nur dann, fühlt man, dass alles so ist, wie es sein soll, und dass Gott die Menschen in der einfachen und schönen Natur glücklich sehen will." (Tagebuch S. 192). Besonders Peter van Pels (der sich mit seinen Eltern ebenfalls im Hinterhaus versteckt hält), in den Anne verliebt ist, möchte Anne etwas von ihren Trosterfahrungen vermitteln. So schreibt sie darüber ein Post Script in ihrem Tagebuch an Peter (Tagebuch S. 193), und es ist anzunehmen, dass ihre Gedanken über die Natur und Gott auch in die Gespräche zwischen ihr und Peter mit eingeflossen sind.

Gestärkt durch ihren Glauben, kann Anne Zukunftspläne entwerfen: "ich muss neben Mann und Kindern etwas haben, dem ich mich ganz widmen kann", schreibt sie im April 44. Und sie weiß dabei um ihre guten, kreativen Fähigkeiten, bringt sie in Verbindung zu Gott und entwirft mit diesem Bewusstsein eine Lebensperspektive. Sie schreibt: "ich bin Gott so dankbar, dass er mir bei meiner Geburt schon Möglichkeiten mit gegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also alles auszudrücken, was in mir ist (...). Das ist die große Frage, werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin..." (Tagebuch S. 238f)

Schreiben macht für Anne Sinn, hat für sie eine positive Funktion, indem es ihr hilft, ihr Leben zu bewältigen. Anne ist sich ihrer kreativen Fähigkeiten bewusst, versteht sie als Gabe Gottes und entwirft mit diesem Selbst-Bewusstsein eine Lebensperspektive.

Fazit:
Annes Glaubenserfahrungen weiten ihren Blick für die Natur, für andere Menschen und für eine eigene Perspektive.

 

3. Phase des Glaubens, der Verbindung schafft

Anne fängt an, in größeren Zusammenhängen zu denken und zu schreiben.

Die Erfahrungen des Glaubens und Annes Schicksal als Jüdin veranlassen sie zu theologischen Gedanken.

Anne schreibt am 11. April 44 (14 Jahre, 10 Monate) ausführlicher über die Juden und an die Juden:

"Wir Juden dürfen nicht unseren Gefühlen folgen, müssen mutig und stark sein (...) einmal werden wir wieder Menschen und nicht nur Juden sein." Hier wird deutlich, dass Anne sich aufgrund des gemeinsamen Schicksals der Ethnie der Juden zugehörig fühlt. Empfindet sie es als Reduktion "nur Jüdin" zu sein, widerspricht es der Liberalität, mit der sie aufgewachsen ist? "Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns bis jetzt so leiden lassen? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, aber es wird auch Gott sein, der uns aufrichtet (...) Wer weiß, vielleicht wird es noch unser Glaube sein, der die Welt und damit alle Völker das Gute lehrt, und dafür, dafür allein müssen wir auch leiden (...)

Seid mutig! Wir wollen uns unserer Aufgabe bewusst bleiben und nicht murren, es wird einen Ausweg geben. Gott hat unser Volk nie im Stich gelassen, durch alle Jahrhunderte hindurch mussten Juden leiden..." (Tagebuch S. 249)

Anne reflektiert hier allgemein über die Juden, sie verbindet ihren individuellen Glauben mit der geschichtlichen Situation des Volkes der Juden, versucht der speziellen geschichtlichen Situation einen Sinn zu geben, bringt die aktuelle Situation der Juden in Verbindung mit der Geschichte der Juden und mit dem Erwählungsgedanken. Das Leiden versteht Anne als Auftrag Gottes, d. h. es gibt einen von Gott gegebenen Sinn.

Wichtig ist anzumerken, dass Anne das Ausmaß des Leidens des jüdischen Volkes nicht hat einschätzen können. Anne fragt, aber sie probiert auch allgemeingültige Antworten, die dem Volk einen Glauben an ihr besonderes Verhältnis zu Gott vermitteln sollen, es stärken sollen.

Anne macht sich Gedanken darüber, wie das Leid des jüdischen Volkes mit ihrem Glauben an Gott zu vereinbaren ist. Sie reflektiert auch über die Funktion von Religion allgemein.

Im Juli 44, also mit 15 Jahren schreibt sie:

"Menschen, die eine Religion haben, dürfen froh sein, denn es ist nicht jedem gegeben, an überirdische Dinge zu glauben. Es ist nicht mal nötig, Angst zu haben vor Strafen nach dem Tod. Das Fegefeuer, die Hölle und der Himmel sind Dinge, die viele nicht akzeptieren können. Trotzdem hält sie irgendeine Religion, egal welche, auf dem richtigen Weg. Es ist keine Angst vor Gott, sondern das Hochhalten der eigenen Ehre und des Gewissens." (Tagebuch S. 303). Von Peter schreibt sie zur gleichen Zeit:

"er hat keine Religion, spricht spottend über Jesus Christus, flucht mit dem Namen Gottes. Obwohl ich auch nicht orthodox bin, tut es mir doch jedes mal weh, wenn ich merke, wie verlassen, wie geringschätzig, wie arm er ist." (Tagebuch S. 303)

Für Anne hat Religiosität im Leben zentrale Bedeutung gewonnen, weil sie das Leben reich macht und Orientierungshilfen bietet, es geht ihr dabei nicht um eine bestimmte Religion.

Fazit: Anne macht eine für die Zeitspanne von zwei Jahren erstaunliche religiöse Entwicklung durch:

Von der Distanz und Abgrenzung von traditionellen Formen religiöser Inhalte über eigenes existentielles Fragen nach Gott kommt sie zu ganz allgemeinen Betrachtungen über die Gottesfrage angesichts des Leidens der Juden und schließlich über Religion als Lebenshilfe.

 

Didaktische Überlegungen

Wird Unterricht häufig mit Blick auf die Jungen konzipiert, so wird mit einer Einheit über Anne Frank eher den Mädchen Identifikationsmöglichkeiten angeboten.

Auch wenn nicht generalisierend von den Mädchen oder den Jungen gesprochen werden kann, gibt es eine Tendenz, dass sich Mädchen gerade in der Phase der Adoleszenz nachdenklicher und ernsthafter zeigen. Häufig ergeben sich für diese Mädchen wenig authentische Kommunikationsmöglichkeiten im Unterricht. Auch gibt es immer noch viele Mädchen, die trotz einer alternativen Mädchenkultur anfangen, sich zurückzunehmen, die ihre Stimme (als Ausdruck eines eigenen Selbst) verlieren und anfangen, nett statt ehrlich zu sein.

Dem Tagebuch spürt man Annes Ehrlichkeit im Umgang mit ihren Erfahrungen und Gefühlen sowie ihr wachsendes Selbstbewusstsein an. In ihrer schonungslosen, auf Entwicklung bedachten Selbstreflexion fordert sie, auch von den Erwachsenen ernst genommen zu werden. (Tagebuch S. 155) Sie möchte "nicht wie ein Mädchen- wie-/alle-/anderen behandelt werden, sondern als Anne-/für-/sich/-allein." (Tagebuch S. 307)

Jugendliche heute haben ein Bedürfnis nach Selbstinszenierung und auch nach Selbstinterpretation. Vielleicht ist es auch dieses Bedürfnis, was Jugendliche heute immer noch veranlasst, sich mit dem Tagebuch zu beschäftigen und es ihnen häufig sehr schnell ermöglicht, sich mit Anne Frank - die heute 70 Jahre alt wäre - zu identifizieren. Genau hier liegt die Chance, aber auch die Gefahr: Denn das Tagebuch ist vor allem ein Zeugnis über Anne Franks ganz persönliche Entwicklung und es wird leicht instrumentalisiert, wenn es nicht gleichzeitig als Zeitdokument mit den spezifischen Entstehungsbedingungen wahrgenommen wird.

Um Annes religiöses Denken zu verstehen, müssen wir ihr folgen, ins Hinterhaus, müssen uns einlassen auf ihre Gedanken, dürfen aber die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht außen vor lassen.

Auch wenn Jugendliche heute die kirchlich institutionalisierte Religion oft als fremd empfinden, so gibt es bei ihnen durchaus die Suche nach Sinn, oft auch nach religiös verstandenem Sinn.

Intention dieser Sequenz ist, Jugendliche anzuregen, Anne Franks Suche nach Sinn, ihre religiösen Gedanken - auch unter dem Brennglas des Holocaust - wahrzunehmen. und - den Dialog aufnehmend- unter den eigenen Kontextbedingungen für sich die Sinnfrage zu stellen und in eine Suchbewegung einzusteigen.

Für die Unterrichtenden kann es spannend sein, die individuellen und privaten Formen von Religion bei Jugendlichen wahrzunehmen, gemeinsam mit den Jugendlichen Deutungen zu versuchen.

 

Bausteine für die unterrichtliche Praxis

1. Arbeitsblatt
Annes Verhältnis zu Gott

Annes Freundin aus der Kindheit berichtet, dass Anne überhaupt nicht religiös war. Tatsächlich erwähnt Anne in ihrem Tagebuch bis zum November 1943 nur zweimal das Wort Gott. Dann aber beginnt sie intensiv nach dem Sinn des Lebens und nach Gott zu fragen.

a) Was bedrückt Anne in ihrer Tagebucheintragung vom 27. November 1943. Was bittet sie von Gott? (S.150-151)

b) Welche Bedeutung haben die Natur und Gott für Anne in der Tagebucheintragung vom 23. Februar 1944? (S.192 unten bis S. 193 oben)

c) Anne beurteilt Religion positiv (S. 3O3 Mitte). Schreibe auf, was Anne meint.

 

2. Angst und Hoffnung im Hinterhaus

Die Schülerinnen und Schüler lesen das Tagebuch S. 150-151. Sie schreiben einen Angstgedanken von Anne auf eine Träne (Tonpapier), einen Hoffnungsgedanken auf eine Sonne (Tonpapier).

Sonnen und Tränen können vorgelesen und auf eine Skizze des Hinterhauses (Papier) aufgeklebt werden. Das Nebeneinander von Tränen und Sonnen wird besprochen.

 

3. Mögliche Fragen als Anregung für einen fiktiven Brief an Anne:

a) Anne hat wenig Lust, in dem Gebetbuch zu lesen, das ihre Mutter ihr gegeben hat. Sie will sich nicht zwingen lassen, "fromm-religiös" zu tun (Tagebuch S. 70 Mitte).

Vielleicht fällt Dir eine ähnliche Erfahrung aus Deinem Leben ein, die Du erzählen möchtest.

b) Anne hat große ‘Angst um ihre Freundin Hanneli, von der sie weiß, dass sie in einem Konzentrationslager ist und sie fühlt sich auch schuldig ihr gegenüber (Tagebuch S. 150f). In ihrer Angst wendet sie sich an Gott.

Du lebst unter ganz anderen Bedingungen und mit anderen Möglichkeiten als Anne, aber vielleicht hast Du manchmal Angstgedanken; kennst Du vielleicht auch Gedanken, die Dir dann helfen, mit dieser Angst umzugehen?

c) Anne schreibt, dass sie Religion wichtig findet, weil Religion für Anne auch etwas damit zu tun hat, dass Menschen den richtigen Weg finden (Tagebuch S. 303 Mitte ). Wie beurteilst Du diesen Gedanken?

 

4. "....allein mit dem Himmel"

Die Schülerinnen und Schüler betrachten Annes Aussicht vom Dachboden auf den Kirchturm der Westerkirche: "Aussicht auf den Westerturm" (als Dia, aber auch als Postkarte erhältlich). Eine/r liest aus dem Tagebuch S. 192: "Wir betrachteten den blauen Himmel..." bis zum letzen Absatz S. 192 unten laut vor.

Es folgt ein Unterrichtsgespräch über die Bedeutung des Dachboden mit seinen "Aussichtsmöglichkeiten" für Anne.

Schülerinnen und Schüler malen ein Bild von einem Ort, an dem sie gerne sind, den sie vielleicht auch aufsuchen, wenn sie genervt sind, ihre Ruhe haben wollen.

Alternative: Die Schülerinnen und Schüler machen Fotos von Orten, die für sie eine wichtige Bedeutung haben. und bringen sie zum nächsten Mal mit.

Ideen zur Weiterarbeit mit den Fotos:

  • die Fotos liegen auf dem Boden im Kreis 
  • jede/r schreibt eine Assoziation zu jedem Foto und legt sie verdeckt neben dieses Foto
  • mit Hilfe der Assoziationen der anderen formuliert jede/r eine Überschrift /einen kurzen Text für das eigene Foto 
  • Schülerinnen und Schüler überlegen welche Orte für Anne in der Zeit vor dem Untertauchen wichtig waren, die sie nie wieder gesehen hat; ev. malen lassen.

 

5. Die Schülerinnen und Schüler vergleichen Annes Tagebuchaufzeichnung vom 27. 11.1943 (S. 150f) mit den Tagebuchaufzeichnungen von Etty Hillesum (S.120 Mitte bis unten; S. 149 Mitte bis 6. Zeile von unten) und mit einem Text von Zwi Kolitz (S.52 bis S.54 3. Zeile von unten)

Sie nehmen die unterschiedlichen Entstehungsorte und - bedingungen und die unterschiedlichen Gottesbilder dieser Texte wahr.

 

Materialien:

Für diese Altersstufe empfehlenswerte Videos:

  • "Liebe Kitty", VHS, 25 Minuten, Alter: 10 - 14 Jahre, Preis 39,-- DM. Mit historischen Filmbildern, Fotos aus dem Hinterhaus und Zitaten aus dem Tagebuch wird die Lebensgeschichte von Anne Frank erzählt und über den Zweiten Weltkrieg und die Judenverfolgung informiert.
  • "Ein Buch voller Träume", VHS, 29 Minuten, Alter: ab 12 Jahren, Preis: 39,-- DM. Anhand der Geschichte eines Jungen, der das Tagebuch liest und die beschriebenen Ereignisse mit der Gegenwart vergleicht, schlägt das Video eine Verbindung von der Zeit Anne Franks ins Heute. Für die Aufnahmen der Rückblenden wurde das Hinterhaus zeitweilig so eingerichtet wie zur Zeit der Untertauchperiode.

Die Videos, das Bild "Aussicht auf den Westerturm" und viele andere Materialien zu Anne Frank sind zu beziehen beim: Anne-Frank-Zentrum Berlin e.V., Oranienburger Str. 26, 10117 Berlin,
Tel.: 0 30/30 87 29 88, Fax:: 0 30/30 87 29 89

 

Literatur

  1. Ernst Schnabel: Anne Frank. Spur eines Kindes. Ein Bericht. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1997
  2. Mirjam Pressler: Ich sehne mich so. Die Lebensgeschichte der Anne Frank. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1992
  3. Willy Lindwer: Anne Frank. Die letzten sieben Monate. Augenzeuginnen berichten. S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt a. M. 1990
  4. Lyn M. Brown/Carol Gilligan: Die verlorene Stimme. Wendepunkte in der Entwicklung von Mädchen und Frauen. Campus-Verlag Frankfurt a. M./New York 1994
  5. Friedrich Schweitzer: Die Suche nach eigenem Glauben: Einführung in die Religionspädagogik des Jugendalters. Chr. Kaiser Gütersloher Verlagshaus 1996
  6. Anne Frank Tagebuch. Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler. Fischer Taschenbuch Verlag 1992
  7. Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH. Reinbeck bei Hamburg 1985
  8. Zvi Kolitz: Jossel Rakovers Wendung zu Gott. Aus dem jiddischen übertragen und herausgegeben von Paul Badde. Rauhreif Verlag Möhlin und Villingen 1994
  9. Hanno Loewy, Das gerettete Kind, S. 31ff in: Zeitschrift "Der Deutschunterricht", Ulshöfer, R., Hrsg., Kinder und Holocaust 4/97, Friedrich-Verlag, Seelze

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/1999

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