"Wir sind aber gewohnt des Wörtleins ‘Kirche’, welches die Einfältigen nicht von einem versammelten Haufen, sondern von dem geweihten Haus oder Gebäude verstehen; wiewohl das Haus nicht sollte eine Kirche heißen, ohne allein darum, dass der Haufe darin zusammenkommt. Denn wir, die zusammenkommen, machen und nehmen uns einen sonderlichen Raum und geben dem Haus nach dem Haufen einen Namen."
Kirchengebäude sind nach dieser Definition Martin Luthers im großen Katechismus gesonderte Räume, in denen christliche Gemeinde zum Gottesdienst als "versammelter Haufen" zusammenkommt und über diesen zweckdienlichen Nutzen ihnen ihren Namen gibt. Als heilige Orte sind Kirchen immer auch in besonderer Weise architektonisch und künstlerisch ausgestaltet worden. Die "Syntopie zwischen Göttlichem und Menschlichem" (JOSUTTIS) bedarf offenbar eines auch äußerlich gestalteten Raumes. Aber auch außerhalb gottesdienstlicher Vollzüge repräsentieren Kirchenräume zeichenhaft Spuren liturgischer Nutzung, die sich rekonstruieren oder auch - sei es auf Grund des großen historischen Abstands, sei es aus mangelnder Vertrautheit mit bestimmten ikonographischen Codes - nur vage erahnen lassen.
Der jungen Disziplin der Kirchenpädagogik geht es nun darum, dieser "Stein gewordenen Predigten" (MÖLLER) zu vergegenwärtigen und die "Ansprache der Kunstwerke" (ROEDER) diejenigen vernehmen zu lassen, die eine Kirche vornehmlich zu anderen Zeiten und Anlässen aufsuchen, als zum sonntäglichen Gotteslob: Schulklassen, Besuchergruppen, Kulturbeflissenen und Christenmenschen auf der Suche nach ihrer Religion. Und so standen "kirchenpädagogische Übungen" auch im Ausbildungsplan der gemeindepädagogischen Woche im Vikariatskurs Celle/Hildesheim. Ziel war es dabei, Vikarinnen und Vikaren (Kirchen-)Raumerfahrungen zu vermitteln, die davor feien sollten, das Kirchengebäude lediglich als notwendigen formalen Rahmen für den Predigtgottesdienst zu betrachten, es also homiletisch zu funktionalisieren. Gemeinsam sollte dazu angeleitet werden, raumbezogene kreative Phantasie für liturgische Rekonstruktionen und Inszenierungen, für Installationen und für die Erschließung von Gestalt gewordenen Erkenntnissen altvorderer Baumeister und Künstler zu entfalten.
Da die praktische Theologie - von einigen wenigen, eher die Regel bestätigenden Ausnahmen einmal abgesehen - für die Kirchenpädagogik noch keinen integrierenden Theorierahmen zur Verfügung gestellt hat, waren die gemeinsam mit Vikarinnen und Vikaren durchgeführte Woche als Werkstattkurs angelegt. Mit reichlich theologischer und vor allem religionspädagogischer Kompetenz (nach dem Schulpraktikum) ausgestattet, machte sich nun die Gruppe daran, die Klosterkirche Loccum und die beiden kleinen Dorfkirchen in Husum und Wiedensahl zu erschließen.
Es sind durchaus unterschiedliche Raumerfahrungen, im alt-ehrwürdigen Loccumer Zisterziensergotteshaus entweder einen festlich-spröden lutherischen Gottesdienst zu feiern oder denselben Raum lediglich durch einige in der Hand gehaltene Kerzen beleuchtet in einer prozessionsartigen Begehung zu durchschreiten. Oder ihn - immer noch nahezu stockdunkel - im Klang von Orff-Instrumenten zu vernehmen. Oder seine Kunstwerke im Lichtkegel einer Taschenlampe ausschnitthaft wahrzunehmen. Oder seine lichte Höhe am darauffolgenden Vormittag mittels eines kleinen, an einer Schnur befestigten Heliumballons zu vermessen. Oder den Tagesablauf in einem mittelalterlichen Kloster im Mönchsgewand unter freundlich-bestimmter Anleitung eines Konventual-Studiendirektors nachzuvollziehen. Auch für das Vertraut werden mit sakraler Raumkultur gilt der pädagogische Lehrsatz, dass das vermeintlich Vertraute erst unvertraut gemacht werden muss, um es angemessen wahrnehmen zu können. Kirchenpädagogische Zugehensweisen bieten dabei ein reichhaltiges methodisches Repertoire für solche produktiven Verfremdungen. Dass diese Endkonventionalisierungen beim Transfer der gemachten Erfahrungen vom kunsthistorisch wertvollen Kloster Loccum auf die beiden eher schlichteren Dorfkirchen St. Jacobi in Husum und St. Nicolai in Wiedensahl nun ihrerseits neue Annäherungen an konventionelle Formen zeitigte, lag durchaus im Erwartungshorizont der Kursplaner.
Die vom liebevoll gepflegten Friedhof umgebene Kirche im Geburtsort Wilhelm Busch provozierte geradezu eine prozessionsförmige Begehung: Durch die Grabreihen, um die Kirche herum, vorbei an drei (!) Sonnenuhren klanglich kontrastiert von aufdringlichem Jahrmarktslärm des Wiedensähler, hinein in die Kirche zur Erkundung des Altarraumes. BIZER definiert "Begehung" als einen rituellen Akt, durch den "eine vorgegebene Form ’gangbar’ gemacht wird. Indem ich mich auf den Weg der Begehung begebe, (...), schreite ich einen symbolischen Zusammenhang ab, der mich durch den religiösen Gehalt der Formen mit Gott in Beziehung setzt, auf den hin ich mich und meine Welt transzendiere und mich von ihm umfangen lasse." Raumstrukturen werden sinnlich erfahrbar, religiöse Formen vermitteln sich prozessual. Die vielfältig repräsentierte Abendmahlsthematik im Altarbereich führte zu einer Installation ausgewählter Gegenstände, die auf diese Repräsentanten verwiesen, sie zitierten und kommentierten. Mit einem in dieser Kirchengemeinde bei Taufen und Beerdigungen üblichen Altarumgang schloss die Begehung. Der Weg vom Leben über den Gottesacker in die Kirche, um den Altar herum als Grenzstein der irdischen Welt und Stätte der sakramentalen Realpräsenz Gottes, wieder hinaus in das Leben vermittelte (fast) liturgischen Vollzug eine intensive zeit-räumliche Wahrnehmung.
Anders in Husum. Die schlichte und eher karge Innenausstattung stellte die Gruppe vor andere Aufgaben als die ästhetisch zunächst ansprechendere Kirche im Stiftsbezirk. Der barocke Kanzelaltar aus dem 18. Jahrhundert mit zwei stilisierten Feuerflammen und den Tafeln in den römischen Ziffern der 10 Gebote sind neben dem aus der Gründungszeit stammenden Taufsteine schon fast die einzigen Zeugen künstlerischer Ausgestaltung. Darum beschränkte sich die Gruppe in ihrer Präsentation auf die elementaren Innenräume innerhalb der Kirche: durch Lichteffekte wurden die alttestamentlichen Details des Altars in dem ansonsten dunklen Raum visuell hervorgehoben und dazu die entsprechenden Texte aus dem Exodus-Traditionskreis gelesen. Ein Blickwechsel um 180o ließ dann das einzige fest in der Kirche installierte Kreuz im Holzschmuck des Orgelprospekts erkennen.
Die Dramaturgie dieser Inszenierung eröffnete für die Teilnehmenden einen ungewohnten Zugang zu christlicher Religion: vorgegebene ikonographische Formen konnten aufgenommen werden, indem man sich kreativ-modifizierend in sie eintrug. In einer abschließenden Kurssequenz sollten dann die Möglichkeiten eines Transfers auf die eigene Vikariatskirche gesprächsweise erörtert werden. Die Vikarinnen und Vikare vermittelten einander über Fotos und Kirchenführer einen optischen Eindruck von den Kirchenräumen in ihren Vikariatsgemeinden. Gemeinsam wurden Ideen gesammelt und methodische Erschließungsmöglichkeiten angedacht. Notgedrungen musste in dieser Woche vieles fragmentarisch bleiben. Doch ließ sich bei den verschiedenen Übungen, ihrer Planung und Durchführung hautnah erfahren, was in Gesprächseinheiten wieder Thema wurde: der Kirchenraum verbindet die Erfahrungsdimensionen von Gottesdienst und Gebäude. Und diese Dimension bietet bei weitem mehr Möglichkeiten, als den Raum allein als Resonanzkörper für sonntägliche Predigten zu funktionalisieren. Und darin so scheint es liegen Möglichkeiten, sich Menschen, auch gerade denen, denen der sonntägliche Gottesdienst fremd geworden ist, zu nähern.