In meiner eigenen Konfirmand/innenarbeit habe ich das Thema Kreuz im Rahmen einer Jesuseinheit ausgeklammert. Nach der Durchsicht von Unterrichtsmaterial hatte ich den Eindruck, nicht allein mit diesem Defizit dazustehen. Das Thema wird primär historisch angegangen, indem der Ablauf der Ereignisse rekonstruiert, die Kreuzigung als Hinrichtungsart untersucht wird oder indem Texte aus den Passionsgeschichten (z.B. Jesu Worte am Kreuz) verglichen werden. Ich habe eine Unterrichtsstunde entworfen, in der das Kreuz den Schüler/innen eigene Deutungen abfordert1. Sie sollen aus ihrer eigenen Erfahrung heraus einen Bezug zu einer der Kernaussagen christlichen Glaubens gewinnen.
Exegetische Besinnungen
Der Tod Jesu am Kreuz ist seinen Weggefährt/innen ein Rätsel. Die Männer unter ihnen sind nicht einmal anwesend, als seine Hinrichtung von den Mächtigen dieser Welt vollstreckt wird (Mk 15). Jesus selbst hat seinen Tod eher nicht als Heilstod verstanden2. Erst mit der Auferweckung des Gekreuzigten (Lk 24,40; Joh 20, 24ff) kann die Urgemeinde den Schmachtod am Kreuz (Dtn 21,23) als Teil des Heilsgeschehens erfassen. In den ältesten Formeln, die das urchristliche Kerygma uns überliefert, heißt es, dass Jesus "für uns(sere Sünden) gestorben ist" (Mk 10,45; Röm 4,25; 1. Kor 15,3; 2. Kor 5,15...). Da das Kreuz kaum einmal ausdrücklich mit dieser Formel verbunden ist, ist anzunehmen, dass dieses Skandalon nicht ohne weiteres mit traditionellen Deutekatagorien erfasst werden konnte.
Paulus verwendet diverse Vorstellungen, den Tod Jesu als Heilstod zu verstehen3. Er umkreist das Geschehen am Kreuz und deutet es von verschiedenen Ansatzpunkten aus. Eine abschließende Interpretation wird von Paulus nicht gegeben. Der je veränderte Kontext der Verkündigung verlangt eine erneute Auseinandersetzung mit dem Kreuz.
Gal 3 deutet das Kreuz als Loskauf vom Fluch des Gesetzes (Gal 3,10ff); Röm 3,25 und 1. Kor 15,3ff als Sühnopfer und 2. Kor 5,14 als Stellvertretung4. Nach 1.Kor 1 ist das Kreuz der Bezugrahmen jeder Verkündigung; der Deutungsvorgang, dass Jesus "für mich gestorben" ist, ist aber immer wieder neu zu erschließen.
Ich habe aus der Vielzahl der Motive, die den Tod Jesu deuten, Phil 2 ausgewählt. Paulus ergänzt einen traditionellen Hymona, in welchem er den Tod als Tod am Kreuz spezifiziert (Phil 2,8). Er holt die Bedeutung des Kreuzes auf dem Wege der Erniedrigung ein. Der Gott gleich war, nahm Knechtsgestalt an und wurde den Menschen gleich; er erniedrigte sich bis zum Tod am Kreuz (Phil 2, 6-8).
Die Spuren dieser Denkbewequng sind bei Markus und Johannes wiederzufinden. Für Markus ist das Kreuz anstößig und keineswegs eindeutig. Die Jünger entziehen sich seiner Realität durch Flucht (Mk 14,50). Im Bekenntnis des Hauptmanns (Mk 15,39) wird für Markus die Erkenntnis der göttlichen Herrlichkeit Jesu am Kreuz greifbar.
Auch bei Johannes ist das Kreuz der Berührungspunkt von Offenbarung und Welt5. Die Kreuzigung hat Offenbarungscharakter (Joh 12,32), indem sie die Verherrlichung des Gottessohnes in seinem Weggang zum Vater sichtbar macht6.
Das Problem bei allen drei Textzeugen, die das Leben Jesu bis zum Tod am Kreuz als Erniedrigung des himmlischen Gottessohnes beschreiben, an die sich seine Erhöhung anschließt (Mk 16; Joh 20f; Phil 2,9), ist die Nähe zu mythisch-gnostischen Erlösungssystemen7. Das Kreuz ist aber gerade in den Entwürfen des Paulus und Markus8 das Kriterium, das sie vor dem Abgleiten in eine mythische Erlösungslehre bewahrt. Das Kreuz nagelt die Inkarnation des sich Erniedrigenden an der Geschichte fest. Der Auferstandene bleibt der Gekreuzigte (Mk 16,6; Joh 20,20; 1. Kor 2,2). dass in dieser Aussage Heil "für mich" steckt, müssen die Rezipient/innen, an die die Schriften gerichtet sind, für sich erschließen.
Der neutestamentliche Befund besagt, dass das Heilsgeschehen im Kreuz anschaulich wird. Deshalb ist es bei Paulus Kriterium für den Inhalt der Verkündigung des Evangeliums. Als Ort der Offenbarung der göttlichen Herrlichkeit ist das Kreuz als Weg der Erniedrigung Gottes (Phil 2, Mk, Joh) zu verstehen. Gott wird den Menschen gleich bis zum Tod am Kreuz.
Systematische Überlegungen
In der Hinrichtung Jesu wird die Sinnlosigkeit des Weltlaufs besiegelt und seine (des Weltlaufs) Ungerechtigkeit enthüllt9. Sein "Leiden ist das ungerechteste Leiden der Welt10", weil das Kreuz der Ort der Gottverlassenheit ist (Mk 15,34). Diese Bestimmung unterscheidet das Kreuz Jesu von den vielen Kreuzen Vergessener und Namenloser in der Weltgeschichte11. Im Angesicht des Gekreuzigten wird der Mensch seiner Gottlosigkeit ansichtig. Das Kreuz Jesu ist der Erkenntnisort Gottes, an dem der Mensch von seiner Selbstvergottung frei wird12. Er wird menschliche Person, indem er sein eigenes Ich im Antlitz dessen findet, der "für ihn" am Kreuz stirbt13.
Der Gekreuzigte ist der aus dem Transzendenten lebende Mensch, der ganz für andere da ist14. Im Kreuz wird sichtbar, dass Jesus völlig darauf verzichtet hat, etwas aus sich selber zu machen15.
Das Kreuz ist der wirkliche Ort der Kondeszendenz Gottes in das Menschsein. K. Barth hat seine Versöhnungslehre nach der Bewegung der Erniedrigung und Erhöhung entworfen. Inhalt von KD IV ist der wahre, sich selbst erniedrigende und so der versöhnende Gott (IV,1), aber auch der wahre, von Gott erhöhte und so versöhnte Mensch (IV,2). Die Versöhnung des sündigen und verlorenen Menschen hat vor allem den Charakter einer göttlichen Herablassung, die auf dem Weg Gottes in die Fremde am Kreuz Ereignis wird16.
Kreuzestheologie kann Irrwege gehen. In der Spannung zwischen einer theologia gloria, die Leid mit Sinn verkleistert und einer Leidenstheologie, die die Hoffnung auf die Auferweckung des Gekreuzigten ignoriert, muss die Heilsbedeutung des Kreuzes "für mich" gefunden werden. Das Kreuz Jesu ist ein Prädikat seiner Auferweckung. Ohne Auferweckung als Einspruch Gottes gegen das Unrecht in dieser Welt bleibt das Kreuz für die Opfer das Zeichen einer hoffnungslosen Verdoppelung ihres realen Leidens. Die Auferweckung klagt im Kreuz die Wirklichkeit an und übersteigt sie, weil sie ihr nicht das letzte Wort lässt.
Das Kreuz Jesu muss ein Prädikat seiner Auferweckung sein, damit das Kreuz nicht von ihrer Gloria aufgehoben wird. Im Ereignis des Kreuzestodes Jesu wird Gott aus der Welt herausgedrängt; gerade als der, der sich aus der Welt herausdrängen lässt, kommt er im Kreuz zur Welt17.
Innerhalb dieser Koordinaten ist die Heilsbedeutung des Kreuzes "für mich" zu bestimmen. Der sich bis zum Tod am Kreuz erniedrigende Gott stellt sich auf meine Seite und erhöht meine Person zum wahren Menschen. Der Nachvollzug dieser offenen Denkbewegung, dass sich ein Mächtiger erniedrigt, damit die Armen Teil am Gottesreich haben, reichert das "für mich" des Kreuzes mit eigener Erfahrung an.
Symboltheoretische Überlegungen
Das Kreuz ist das christliche Symbol schlechthin geworden, das in seinem Gehalt inzwischen entleert ist18 oder prall von Vieldeutigkeit ist. Beide Möglichkeiten spiegeln für mich auf ihre Weise die Beliebigkeit der Bedeutungsleere/fülle eines Symbols. Sie haben den Geschichtsbezug zum Kreuz Jesu auf Golgotha verloren, das Kriterium jeder christlichen Symbolkunde ist19. Denn am Kreuz Jesu ist der präzise Sinn jedes Symbols erkennbar, Bild und Zerbrechen des Bildes werden in ihm zugleich wahrnehmbar20.
Im Symbol wird das Ding Wort21. Das Dingliche am Kreuz Jesu ist das Tötungsinstrument. Dieses Ding hat an sich eine stumme Mächtigkeit, die der Macht des Wortes widersteht. Die Widerständigkeit des Dinglichen bewahrt das Symbol vor dem Vorwurf reiner Fiktionalität22, die die Hoffnung aufheben würde. Das Symbol entwickelt sich in der Spannung zu der stummen Macht des Kreuzes in dem Augenblick, in dem es Ding-Wort wird23. Die dingliche Kraft des Jesus tötenden Kreuzes, seine Stummheit wird im Schmerzensschrei des Gebets (Ps 22) zerbrochen. Im Schrei, mit dem der Gottessohn stirbt (Mk 15,37) und ganz dem Menschen gleich wird, wird Gott hörbar. An dieser Stelle sind die Grenzen der Arbeit mit Symbolen markiert. Die hohe Ästhetik der Symboldidaktik steht in der Gefahr, "Blut zu lecken".
Didaktische Überlegungen
Der Unterrichtsentwurf zum Thema "Kreuz" kann in einer Jesuseinheit eingesetzt werden, in der die Passion Jesu ausführlich behandelt wird, etwa das Leben in Jerusalem, die Tempelreinigung, der Prozess und ein Kreuzweg.
Der Fortgang der Passionsgeschichte soll in dieser Stunde nicht nur historisch aufgenommen werden. Vielmehr soll an das Gerechtigkeitsbewusstsein der Schüler/innen angeschlossen werden, denn das Unrecht der Hinrichtung eines Unschuldigen leuchtet ihnen unmittelbar ein.
Das herkömmliche Rechtsbewusstsein wird durch das paulinische Verständnis der Gerechtigkeit allein aus Gnade (Röm 3,21ff) auf den Kopf gestellt. In der Gerechtmachung des sündigen Menschen durch den sündlosen Gottessohn hat die Gerechtigkeit der Gnade ihren Ausdruck. Die Deutung des Kreuzes als Erniedrigung bis zum Tode (Phil 2) ist hier eingefangen. Der Schuldlose macht sich im Kreuz dem sündigen Menschen gleich und eröffnet ihm den Zugang zum Reichtum Gottes (2. Kor 8,9).
Am Zeichen des Kreuzes kann den Schüler/innen die Bewegung der Erniedrigung als Geste der Befreiung (aus Schuld und Scham) einsichtig werden. Die Erfahrung, dass sich ein Unerreichbarer (der Gottessohn) zu Geringeren (den Menschen) hinablässt, ist heilsam und befreiend, aber selten. Sogar wenn einige der Schüler/innen solche Solidarität in ihrem Leben noch nicht zu spüren bekommen haben, ist ihnen dieses Ereignis zugänglich.
Die Botschaft vom Kreuz ist in der Welt keineswegs eindeutig aufgenommen worden (1. Kor 1,18). Die Mehrdeutigkeit der befreienden Geste, die emotional so eindeutig ist, bezeugt den Anstoß, den die Verkündigung des Kreuzes erzeugt (1. Kor 1,24). Die Deutungsoffenheit des Kreuzes erschließt den Schüler/innen einen Zugang über ihr Gerechtigkeitsbewusstsein, für das das Kreuz Unrecht ist. Dieser Zugang ist allerdings kaum kognitiv zu erfassen und bleibt als Heilstat "für mich" unverständlich. Umso stärker wird die emotionale Dimension bei den Schüler/innen angesprochen, wenn sie sich mit den Geringeren identifizieren können, die Solidarität "von oben" erfahren. Das "pro me" ist "extra nos". Das Kreuz ist als das Ereignis der Gleichwerdung des Gottessohnes mit den Menschen erfahrbar zu machen. Den Schüler/innen wird so ein Raum geschaffen, in dem sie das Kreuz als ein Zeichen deuten können, in dem Gott ihnen heilsam und befreiend begegnet.
Unterrichtsziele
Die Schüler/innen kennen das Kreuz als Hinrichtungsinstrument, durch das Jesus getötet worden ist. An diesem Zeichen sollen sie den Weg Gottes zu den Menschen bis zum Tod am Kreuz erkennen, in dem er ihnen gleich wird. Damit wird ein Weg nachgezeichnet, auf dem Gott den Schüler/innen entgegenkommt und sie durch seine Erniedrigung aus ihrer Unterlegenheit freimacht. Die Befreiung soll lebensgeschichtlich verankert sein, um eine Identifikation mit den Schwachen zu ermöglichen, "für die" sich der Gottessohn am Kreuz erniedrigt. Die Schüler/innen werden diese solidarische Handlung subjektiv als Befreiung erfahren, die aber auch anders aufgenommen werden kann. Sie sollen erkennen, dass diese Mehrdeutigkeit im Zeichen des Kreuzes ihren Ausdruck hat.
Medien
Zu Beginn der Stunde wird mitten im Klassenraum (Gemeindehaussaal) ein großes Kreuz (1,6 m) präsentiert. Es setzt einen stummen Impuls und dient der angestoßenen Diskussion als Bezugspunkt. Durch seine Position erweist es sich als Strukturelement, wenn die Konzentration auf die "Mitte" gelenkt werden soll. Folglich ist als Sitzordnung der Gruppe ein Kreis/ein U am besten geeignet.
Die Wirkung des Raumes ist an zahlreichen Stellen der Stunde zu entfalten. Die Blickrichtungen und Arbeitsformen können häufig wechseln, um die Deutungsarbeit am Kreuz "vom Kopf auf die Füße zu stellen". Die Schüler/innen sind in die Gestaltung einzubeziehen, damit bei ihnen das Gefühl bestärkt wird, kreativ selbst-tätig zu sein.
Nach der Eingangsdiskussion soll die Situation der Jünger nach der Kreuzigung Jesu eingefangen werden. Folgender Text kann vorgetragen werden:
"Die Jünger treffen sich in einem Raum. Vielleicht ist es einer, so groß wie dieser, in dem wir sind. Einer hat gesehen, wie Jesus das Kreuz trug. Einer, wie er zusammengebrochen ist und wie sie einen Fremden nahmen, der das Kreuz weiter tragen musste. Jetzt hängt er wohl schon am Kreuz; er leidet, und wir sind hier, nicht bei ihm, sagt einer. Aber wenn sie uns hier finden, dann hängen wir gleich daneben, spricht einer aus, was viele denken. In Panik verlassen die Jünger den Raum, lassen alles stehen und liegen, jeder für sich. Sie wenden sich ab vom Kreuz, an dem ihr Meister hängt und laufen weg."
Der/die Vortragende erzeugt eine gespannte Stille. In die Situation, die etwas gedrückt wirken kann, gibt sie/er die Regieanweisung: "Nehmt eure Stühle, lasst alles stehen und liegen und dreht euch um, so dass ihr an die Wand/aus dem Fenster schaut."
"Noch ist alles voll Unruhe, alles läuft durcheinander, man stößt hier und da an. Langsam werden die Straßen leerer, die Jünger finden den Weg aus der Stadt, sie sind allein, aber sie fühlen sich schlecht. Zwar werden sie nicht mehr von der Tempelpolizei verfolgt, dafür aber von Jesus selbst. Sie fühlen sich als Verräter, schämen sich, werden ganz klein. Es wird dunkel um sie herum."
Es kann z.B. das Licht ausgeschaltet werden. Eine meditative Stimmung ist aufgebaut. Die/der Vortragende fährt fort:
"Zeit nachzudenken. Stille. Sie können es nicht verstehen. Warum ist er, der Tote wieder zum Leben erweckt hat, so einfach in den Tod gegangen? Warum er, der Kranke geheilt und Verzweifelten Hoffnung gegeben hat, warum ist er nicht vom Kreuz heruntergestiegen? Da kommt jemand in dieses Dunkel, diese Stille und nimmt die Jünger an der Hand. Er erzählt ihnen eine Geschichte. Jesus kommt in dieser Geschichte nicht einmal vor, aber sie führt die traurigen und einsamen Jünger in eine andere Welt. Ich möchte euch diese Geschichte erzählen. Nehmt eure Stühle und setzt euch wieder an eure Tische." Diese Regieanweisung soll sehr einladend sein. Die/ der Vortragende hat sich bisher bewusst distanziert verhalten und tritt mit der neuen Geschichte demonstrativ in die Gruppe hinein.
Die Geschichte "Er erniedrigte sich selbst" von Ralf Johnen habe ich den "Kurzgeschichten 4" von Willi Hoffsümmer24 entnommen und leicht verändert.
"Ein König gibt ein großes Fest. Viele angesehene Bürger sind eingeladen. Die meisten Gäste kommen mit vornehmen Kutschen. Es beginnt zu regnen. Vor der Toreinfahrt bildet sich eine große Pfütze. Ein vornehm gekleideter, älterer Herr steigt aus, bleibt am Trittbrett hängen und fällt der Länge nach in die Pfütze. Mühsam erhebt er sich wieder. Er ist von oben bis unten beschmutzt und sehr traurig. Denn so kann er sich auf dem Fest ja nicht mehr sehen lassen. Ein paar andere Gäste machen spöttische Bemerkungen. Ein Diener, der den Vorfall beobachtet hat, meldet ihn seinem Herrn, dem König. Dieser eilt sofort hinaus und kann den beschmutzten Gast gerade noch erreichen, als dieser zurückfahren will. Der König bittet den Gast, doch zu bleiben, ihm würde der Schmutz an seinen Kleidern nichts ausmachen. Doch der Gast hat Angst."
Hier ist die Geschichte zu unterbrechen, und die Schüler/innen sind nach ihrem Fortgang zu befragen. "Da lässt sich der König mit seinen schönen Gewändern in dieselbe Pfütze fallen, so dass auch er von oben bis unten voller Dreck ist. Er nimmt den Gast an der Hand und zieht ihn mit sich. Sie gehen beide, beschmutzt wie sie sind, in den festlich geschmückten Saal."
Ich halte die Geschichte für geeignet, die Bewegung der Erniedrigung nachzuvollziehen, dadurch, dass sich ein Mächtiger beschmutzt und sich damit dem Schmutzigen gleichmacht. Die Pointe ist sofort zugänglich und eindeutig. Ihr Überraschungseffekt ist einfach und greifbar, die Schüler/innen können ihn sicher an ihrer eigenen Lebensgeschichte belegen. Dennoch ist die Wendung so überraschend, dass man kaum von allein darauf kommt. In ihrer leichten Tiefe liegt der Gleichnischarakter der Kurzgeschichte, der für die Deutung des Kreuzes fruchtbar gemacht werden kann. Die Geschichte hebt sich in ihrer Leichtigkeit von der Brutalität der Kreuzigung ab, so dass es unter den Schülern keine Konkurrenz in grausamen Todesdeutungen gibt. Der Vergleich mit der Deutung des Kreuzes als Erniedrigung bis zum Tode wird vom Schmutz her mit der ganz unblutigen Geschichte erschlossen.
Für die anschließende Gruppenarbeit sind Denkblasen in drei verschiedenen Farben anzufertigen. Mit den Farben werden Positionen von Gästen auf dem Fest in die Geschichte hineinprojiziert. Sie wird dadurch fortgeschrieben in den offenen Prozess einer Deutung des Geschehens hinein. Die Gasttypen werden plakativ vorgestellt: die einen rümpfen die Nase; andere sind froh, weil sie sich selbst schon beschmutzt haben, und noch andere waren gar nicht eingeladen und hoffen nun draußen vor der Tür.
Die individuell ausgestalteten Denkblasen werden danach von den Schüler/innen am Kreuz mitten im Raum befestigt. Die Farben können ganz durcheinander oder in ihren Gruppen aufgehängt werden. In jedem Fall stehen sie für die Vieldeutigkeit des Kreuzes .
Der Stundenverlauf
Durch den Impuls des Kreuzes, das schon bei der Ankunft im Klassenraum/Gemeindehausasl die Blicke auf sich zieht, werden die Vorkenntnisse der Schüler/innen festgestellt. Ihr Wissen kann von der/dem Unterrichtenden immer wieder auf diesen Mittelpunkt bezogen werden. Es ist das Ziel dieser Assoziationensammlung, einen Einsatzpunkt für die Situation der Jünger/innen nach Jesu Kreuzigung zu schaffen. Die/der Unterrichtende trägt den vorgeschlagenen Text vor und gibt die Regieanweisungen. Anfängliche Unruhe und Unsicherheit bei den Schüler/innen sind von der/dem Unterrichtenden auszuhalten. Am Ende der Präsentation der Jüngersituation sollen die Erfahrungswelten der Schüler/innen mit denen der Jünger/innen verwoben sein. Die Geschichte "Er erniedrigte sich selbst" bricht die Erfahrung des Alleinseins. Sie kann nahe am Text erzählt oder vorgelesen werden. An der Stelle, an der der König seinen Gast bittet, doch zu bleiben, ist die Geschichte zu unterbrechen. Die Aufmerksamkeit ist am höchsten, und die Schüler/innen werden zahlreiche Vorschläge äußern, wie die Situation gemeistert werden kann. Die/der Unterrichtende erzählt das Ende der Geschichte. Ihre Pointe ist ein stummer Impuls für die Schüler/innen. Falls der nicht ausreicht, kann ein weiterer Impuls nachgelegt werden, der das Gespräch über die ungewöhnliche Wende im Geschehen öffnet. Die Schüler/innen erkennen den Befreiungseffekt und tragen eigene Erlebnisse bei, die den Kern der Geschichte kristallisieren. Dieser Kern wird zu einer Hauptaussage verdichtet und von der/ dem Unterrichtenden an die Tafel geschrieben. Vorschlag: "Der König macht sich dem Schmutzigen gleich, damit sein Gast zum Fest gehen kann."
Die Aussage hat ihren Vergleichspunkt mit dem Kreuz in dessen Deutung als Erniedrigung des Gottessohnes, der den Menschen bis zum Tod gleich wird. Die/der Unterrichtende stellt in den Raum, dass der Kern der Geschichte etwas mit dem Geschehen am Kreuz zu tun hat. Wenn das Unterrichtsgespräch möglichst offen gehalten und nicht gleich auf einen Satz zugeschnitten wird, übertragen die Schüler/innen viele Nuancen der Geschichte auf das Ereignis am Kreuz. Zur Bündelung ihrer Aussagen bietet sich an, einen zweiten Tafelsatz von den Schüler/innen selbst erarbeiten zu lassen. Die Assoziationensammlung zum Kreuz und die beiden erzählenden Teile über die Jüngersituation und die Geschichte "Er erniedrigte sich selbst" dauern je 5 Min., das Unterrichtsgespräch bis zu 10 Min.
Ein Wechsel der Arbeitsform legt sich an dieser Stelle nahe. Die Schüler/innen gestalten individuell jede/r eine Denkblase. Einzelarbeit und Gruppenarbeit können sich vermischen. Die Gruppe, die ihre Position als Gäste auf dem Fest am schnellsten aufgeschrieben hat, darf ihre Denkblasen zuerst am Kreuz befestigen. Wenn alle drei Gruppen ihre Positionen angeheftet haben, steht ein verändertes Kreuz im Raum. Das Kreuz ist offen für Deutungen und nötigt den Schüler/innen Deutungen ab.
Einzelne stellen die Denkblasen ihrer eigenen Farbgruppe vor. Es zeigt sich, dass die Positionen der Gäste, die die Nase rümpfen bzw. sich bereits beschmutzt haben, kaum variieren. Die Denkblasen derer, die nicht zum Fest eingeladen waren, weichen stärker voneinander ab. Dieses Ergebnis kann noch einmal auf das Kreuz projiziert werden.
Es erscheint mir sinnvoll, nach dieser Stunde über das "Kreuz als Zeichen" die Auferweckung des Gekreuzigten zu thematisieren. Die Erhöhung des Menschensohnes (Phil 2,9ff) darf seine Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz nicht auswischen, sondern muss ebenso wie die Deutung des Kreuzes Anhalt an den Lebensgeschichten der Schüler/innen bekommen.
Anmerkungen
- Die Stunde wurde in einer sechsten Klasse gehalten, ist aber im Sinne des Spiralcurriculums ebenso in anderen Jahrgangsstufen, im KU oder sogar in der Erwachsenenarbeit einzusetzen.
- Becker, 1990, S. 35
- Röm 3,25 Bundesopfer; 1. Kor 15,3ff Sühnopfer; 1. Kor 5,7 Passaopfer; 2. Kor 5,14 Stellvertretung.
- Conzelmann, 1992, S.228.
- Conzelmann, 1992, S.389f.
- Ebd., S.390. Vgl.für alle drei Textzeugen den Aufsatz von U. Luz, Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament, in: EvTh 1974, S. 116-141.
- Die Übereinstimmungen und Differenzen können im einzelnen nicht besprochen werden, s. z.B. Conzelmann, 1992, S.11ff.371f
- Bei Johannes ist es umstritten, vgl. Conzelmann, 1992, S. 390 und die Gegenposition Käsemanns, dort zitiert S. 386; s. auch Kuhn, 1990, S. 721.
- Gollwitzer, 1970, S. 380.
- Ebd.
- Moltmann, 1972, S.145, fordert eine Revolution im Gottesbegriff, der den Tod, das Leiden, usw. in Gott hineinnimmt, ebd., S.192. Der Aspekt der (A-)Pathie Gottes gegen/im Kreuz soll hier nicht diskutiert werden, weil er von mir in der Stunde nicht thematisiert wird. Die Theodizeefrage, warum Gott das zugelassen hat, ist ebenfalls ein zu weites Feld für eine Unterrichtsstunde.
- Moltmann, 1972, s. 72
- Martin Luther versteht das Kreuz Christi als Protest Gottes gegen den Mißbrauch seines Namens zum Zwecke religiöser Krönung menschlicher Weisheit. Der Mensch erfährt im Leiden Christi am Kreuz die Liebe Gottes, die liebt, was sündig und schlecht ist, um es gerecht und gut zu machen. Moltmann, 1972, S.193-199 referiert Luthers Kreuzestheologie. Vgl. auch die Überlegungen Henning Luthers zum Subjektverständnis im Anschluß an den "Humanismus des anderen Menschen" des jüdischen Philosophen E. Levinas, z.B. in: Tod und Praxis, in: 2ThK 88, 1991, S.422f.
- Bonhoeffer, 1983, S. 191f.
- Ebd., S.183.
- K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV,1, Zürich 1953, S.184. Die angeführte Stelle dient hier als dogmatischer Steinbruch, um einen Entwurf zu nennen, in dem der Gedanke der Erniedrigung Gottes als Deutung des Kreuzes betont wird. Eine Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Versöhnungslehre Barths kann ich nicht leisten.
- Biehl, 1989, S. 25f.
- So Ebeling, zitiert bei Biehl, 1983, S.29.
- Biehl, 1993, S.28 u.ö.
- Ebd., 1983, S.53.
- Bader, zitiert bei Biehl, 1993, S.35. Biehl diskutiert G. Baders "Symbolik des Todes Jesu" eingehend auf den S.34-44. Eine Zusammenfassung dieses Konzentrates kann hier nicht geleistet werden. Ich greife eklektisch Wesentliches für meine Überlegungen heraus. Problematisch erscheint mir bei Bader der Zusammenhang von Kreuz zu Tod/Opfer/Gebet zu sein, der vom ntl. Befund nicht ohne weiteres gegeben ist.
- Biehl, 1993, S.41.
- Ebd., S.40ff.
- Mainz 1987, S.47, Nr.59.
Literatur
- Becker, J., Die neutestamentliche Rede vom Sühnetod Jesu, in: ZThK 1990, Beiheft 8, S.29-49.
- Biehl, P. u.a., Symbole geben zu lernen II (WdL 9), Neukirchen 1993, bes.1-59.172-224.
- Bonhoeffer, D., Widerstand und Ergebung, Gütersloh 1983.
- Conzelmann, H., Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1992.
- Gollwitzer, H., Krummes Holz - aufrechter Gang, München 1972, bes.250-259.373-383.
- Moltmann, J., Der gekreuzigte Gott, München 1972.