Über die Sinnlosigkeit des Leidens – Religionspädagogische Erwägungen über Sinnsuche und Leiderfahrungen von Kindern und Jugendlichen

von Bernhard Dressler

 

I Leiden wir heute mehr als früher?

Soziokulturelle Beobachtungen zum gegenwärtigen Umgang mit dem Leid

Die Frage nach der Theodizee gehört zu den schwierigsten und bedrängendsten Fragen, die sich dem christlichen Glauben stellen, wenn er sich denkend verantwortet. Sie ist zugleich und noch mehr eine Anfechtung des Grundes des Glaubens, der jedem Denken vorausliegt. Erst recht am Ende eines Jahrhunderts, dessen Signatur den Namen "Auschwitz" trägt, ist sie gleichbedeutend mit der Frage nach Gott überhaupt. Eine Religionspädagogik, die sich dieser Frage nicht stellt, verurteilt sich selbst zur Bedeutungslosigkeit. Ebenso bedeutungslos wird eine Religionspädagogik sein, die keine elementaren Zugänge zum christlichen Glauben erschließt. Führt das nicht in ein Dilemma? Lässt sich die Theodizeefrage "elementarisieren", ohne sie in ihrer Radikalität zu verkürzen und ohne das kognitive und affektive Fassungsvermögen von Kindern und Jugendlichen zu überfordern? Die Frage zu verneinen - was ja aus sachlichen Gründen und aus entwicklungs- und kognitionspsychologischen Gründen nicht von vornherein auszuschließen ist - käme einer religionspädagogischen Kapitulation gleich. Denn die Theodizeefrage auszublenden, ist uns nicht nur aus Gründen der Redlichkeit und der Selbstachtung verwehrt, sondern auch aus Gründen der Glaubwürdigkeit gegenüber den von uns gar nicht erst wachzurufenden, sondern immer schon vorhandenen Fragen von Kindern und Jugendlichen. Und diese Fragen stoßen nunmehr nur noch auf unsere Antworten; sie werden nicht mehr durch die fraglosen Selbstverständlichkeiten frommer Milieus und religiöser Lebenswelten aufgefangen oder gar stillgestellt. An der Intersubjektivität individueller Verständigung führt kein Weg mehr vorbei. Die Theodizeefrage lässt sich zudem nicht mehr - wenn es denn überhaupt je möglich war - an die Voraussetzung eines reifen, erwachsenen Glaubens binden. Erwachsene und Kinder leben heute in einem strikteren Sinn als noch zu Beginn oder in der Mitte unseres Jahrhunderts in der gleichen Welt. Das liegt nicht zuletzt an der Omnipräsenz der Medien, die Kinder wie Erwachsene gleichermaßen täglich mit Bildern von Katastrophen und Kriegen konfrontieren. Es ist kein fragwürdiges Privileg der Erwachsenen mehr, jenes Leidens und Grauens der Welt angesichtig zu werden, das den Umkreis unmittelbar persönlicher Erfahrungen, von denen Kinder ja auch früher nicht verschont blieben, übersteigt. Darüber hinaus gilt aber auch, dass unsere Möglichkeiten, nahezu alles zu thematisieren und unsere Kommunikationen zu entgrenzen, die Grenzen zwischen der Erwachsenenwelt und der Kinderwelt verwischen. Es gibt keine kulturellen Barrieren mehr zwischen der Erwachsenenwelt und der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, sondern nur noch kognitive Grenzen zwischen den Erlebnis- und Deutungsmustern, mit denen Kinder und Erwachsene ihre Erfahrungen verarbeiten. 1 Pointiert gesagt: Kinder und Jugendliche sind heute in der Regel der vollen Härte und Wucht jener Erfahrungen ausgesetzt, die Erwachsene an der Gerechtigkeit Gottes verzweifeln lassen oder stumpf und indifferent werden lassen.

Bevor wir uns also der Frage nach den spezifischen Erlebnis- und Deutungsmustern im Umgang mit Leid bei Kindern und Jugendlichen zuwenden, ist ein Blick darauf zu werfen, wie unsere Gesellschaft - wenn dieser Pauschalbegriff einmal gestattet ist - mit Leid umgeht. Ich stelle diese Frage in der Überzeugung, dass die Intensität individuell erfahrenen Leids historisch nicht steigerbar ist, ebenso wenig wie es einen Fortschritt in der Intensität des Glückserlebens gibt. Die Trauer über den Tod eines nahen Menschen, die Bedrängnis einer am eigenen Leib erfahrenen Behinderung oder Krankheit, die Qual der Folter wie die Not von Einsamkeit trifft einzelne Menschen heute nicht schmerzender als früher. Anders als früher stehen wir aber heute vor einem scharfen Widerspruch: Bei uns in Mitteleuropa sind die Chancen eines zwar nicht von Leid und Tod, wohl aber von materieller Not und unbeherrschbarem physischem Schmerz weitgehend freien - und langen! - Lebens im Vergleich zu früher und im Vergleich zu anderen Weltgegenden dramatisch gestiegen. Zugleich aber sind wir über die Medien und in der Erinnerung an die jüngste Geschichte mit einem massenhaften Leiden konfrontiert, das uns schon deshalb emotional überfordert, weil unsere moralische Mitleidsfähigkeit und unsere Hilfsbereitschaft sich evolutionsgeschichtlich innerhalb des Nahbereichs der uns unmittelbar verbundenen Mitmenschen entwickelt hat. Hinzu kommt, dass sich uns das Katastrophische des massenhaften Leidens oft sogleich als Vorschein der Apokalypse darstellt, seitdem die Selbstvernichtung der Menschheit im Zeichen der atomaren Bedrohung wie der ökologischen Krise denkmöglich geworden ist und nahezu jede nichtalltägliche Erfahrung eintrübt. Es sind beides die Seiten der gleichen Medaille: Ein in den Wohlstandsmetropolen von Hunger und Seuchen freies Leben verdankt sich eben jener neuzeitlichen wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die auch Auschwitz und Hiroshima ermöglicht hat. Ich insinuiere hier ausdrücklich keine Gleichheit zwischen Auschwitz und Hiroshima, wie es zur stillschweigenden Entlastung der deutschen Geschichte oft geschieht, betone aber, dass beide Ereignisse kein Rückfall in vormoderne Barbarei waren, sondern genuiner Ausdruck der schwarzen Seiten der Moderne selbst.

Diese das Fortschritts- und Emanzipationspathos der neuzeitlichen Aufklärung kränkende Einsicht trifft gegenwärtig auf Menschen, die sich in ihren Selbst- und Weltdeutungen doch überwiegend als Kinder eben dieser Aufklärung begreifen müssen. Der Machbarkeitsglaube, der wohl das geistige Zentrum unserer modernen Lebensformen ist, wird auf diese Weise schwer erschüttert, ohne dass für die meisten Menschen erkennbar wäre, an welchen Glauben sie sich denn stattdessen halten könnten. Die Krise unserer gegenwärtigen Lebensformen ist ja zu allererst eine Krise ihrer nachchristlichen, säkularen Gewissheiten - ohne dass damit automatisch die christliche Religion wieder auf größere Aufnahmebereitschaft träfe. In dieser Situation hat Horst-Eberhard Richter die "Krankheit, nicht leiden zu können" 2 als das Verhängnis diagnostiziert, das uns zugleich leidensunfähig macht und das unentwegt neues Leiden hervorbringt. Die mit dem Beginn der Neuzeit "anwachsende Geborgenheitsunsicherheit im Verhältnis zu Gott erzwang einen Ausgleich durch narzißtische Selbstsicherung." 3 Die Menschen der Moderne verleugnen ihre Begrenztheit, als Individuen oder als Menschheit, und steigern sich in einen Allmachtswahn, mit dem die ihnen nach biblischem Urteil schon immer innewohnende Hybris, "sein zu wollen wie Gott" (Gen 3,5) und Türme bis in den Himmel zu bauen (Gen. 11,1-9), mittels der seither gewachsenen technischen und ökonomischen Möglichkeiten in Leidensverleugnung, Leidensflucht und Leidensvernichtung endet. Diese Hybris scheint ungebrochen, obwohl die großen Menschheitsutopien eines unbegrenzten Fortschritts und der innerweltlichen Erlösung mit der ökologischen Krise und dem Scheitern des Marxismus zusammengebrochen sind. Aber z. B. in den ungebremsten Entwicklungen von Gentechnologie und Apparatemedizin lebt die Sehnsucht nach Leidensvernichtung ebenso fort wie im alltäglichen Versuch, Lustgewinn durch Konsum auf Dauer zu stellen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Jede Erfindung, die einem Kranken unnötige Schmerzen erspart, ist ein Grund zur Freude; und wer Konsumgewohnheiten anderer Menschen verächtlich macht, sollte sich fragen, in welchem Glashaus er sitzt. Es geht nicht um Leidvermeidung und Genussfreude als den allermenschlichsten Bestrebungen, sondern um die pathologischen Formen einer Hybris, die Leid und Tod überhaupt mit menschlichen Mitteln aus der Welt schaffen zu können glaubt. Nun können wir nicht nur im Blick auf die Geschichte unseres Jahrhunderts sagen, dass sich durch den Allmachtsanspruch des Menschen gerade die Ohnmachtserfahrungen verschärft haben. Wir erleben es auch an den vergleichsweise unspektakulären Paradoxien unseres Alltagslebens, dass das Leiden am Leiden mit den Erwartungen eines leidfreien Lebens wächst. Wir werden empfindlicher und kränkbarer gegenüber Versagungen, bei denen frühere Generationen von Leid zu sprechen nicht gewagt hätten. Das wird auch damit zu tun haben, dass die "Toleranzschwelle dafür, dass Versagungen und Verneinungen des Erwarteten und Beanspruchten als Leiden empfunden werden, dort, wo umfassende Deutungsmuster nicht mehr selbstverständlich zur Verfügung stehen, nicht etwa höher, sondern niedriger (wird)." 4 Der Zusammenhang zwischen dem Leid und der Sinnfrage wird also prekärer.

 

II Leiden im Wahrnehmungshorizont von Kindern und Jugendlichen: Überblick über empirische Beobachtungen

In dieser Situation ist es gänzlich unangebracht, wenn Pädagogen gelegentlich im anklagend-denunziatorischen Tonfall über "den asozialen Fatalismus unserer Konsumkinder" lamentieren. 5 Die Klage über den oberflächlichen Hedonismus "der" Jugendlichen, die, ohne nach dem Preis zu fragen, auf "Genuss ohne Reue" aus seien, die mit illusionslos-kritischem Blick auf "den ganzen Irrsinn, den die da oben machen", angeblich "(nicht) leiden und ein Mitleid (haben)" 6 - diese Klage fällt auf die Erwachsenen zurück, die sie im Munde führen. Abgesehen davon, dass dieses Bild viel zu undifferenziert ist, dass gerade Kinder und Jugendliche oft viel sensibler als Erwachsene auf das Elend der Welt reagieren und ihre zuweilen unverschämt scheinende Lebensfreude uns Erwachsene eher beschämen sollte, abgesehen davon also ist es ja wahr: Das allgemeine Klima der Leidvermeidung hat zu tun mit dem Wegfall der Frage nach Gott - und die Gottesfrage nicht mehr offen zu lassen oder nicht mehr zu stellen, bestärkt eine Kultur der Apathie. Aber zwischen Zynismus und Verzweiflung und zwischen Apathie und moralisch-rigorosem Weltrettungsalarmismus liegen schmale Grate. Auf diesen Graten ist es kaum möglich, das noch nie größere und verbreitere Wissen über Unheil und die noch nie so große Unsicherheit über die Möglichkeiten einer Umkehr auszubalancieren. Die Zuspitzung der Theodizeefrage und ihr Verschwinden im Loch der Leidverdrängung hängen eng zusammen.

Um vor diesem Hintergrund einen differenzierteren Blick auf Kinder und Jugendliche zu ermöglichen, möchte ich etwas genauer fragen, was wir unter Leiden verstehen. Das Thema setzt in besonderem Maße Erfahrungen voraus. Wer Leid nicht kennt, weiß nicht, worüber geredet wird. "Man kann nicht über das Leid reden ..., sondern nur von ihm, von ihm her, es sei denn, man sei darüber hinweg." 7 Leiden ist, mit anderen Worten, bei aller harten Faktizität, mit der es den Verdrängungen widersteht, etwas höchst subjektives, ja intimes. Der Begriff "Leiden" ist abstrakt, weil er eine so große Vielfalt subjektiven Erlebens bündelt: Krankheit, Schmerz, Verlust, Isolation, Scheitern, Angst. Andererseits ist der Begriff Leiden in dieser Abstraktion "als fundamentale anthropologische und theologische Kategorie unvermeidbar, ohne dass etwas zurückgenommen werden soll von der unterschiedlichen jeweiligen konkreten Betroffenheit." 8 Im Wort "Beleidigung" haben wir ein Indiz dafür, dass sich im Leiden alle Kränkungen des Daseins summieren. Mitleid, die Fähigkeit zur Sympathie und Empathie, jemanden leiden zu können als Ausdruck emotionaler Verbundenheit, verweist uns wiederum auf eine umfassendere Dimension: die des griechischen Wortes pathos. "dass Leidenschaft auch Leiden schafft, hat schon Anlass zu manchen Wortspielen gegeben. Wir sind genötigt, die Affektdimension menschlichen Lebens zu thematisieren" 9 , was uns bereits einen Hinweis darauf gibt, wie sehr wir das Thema verfehlen, wenn wir es - analog zu den philosophischen Theodizee-Spekulationen - kognitivistisch verengen. Etymologisch hängt "Leid" zudem mit dem Fremden zusammen 10 , mit einer Grunderfahrung der Trennung also.

Wir stoßen daher bei unserer Frage nach den Erlebnisdimensionen von Leid auf das allgemeine menschliche Phänomen der "Differenzerfahrung" 11 , das ganz besonders in der Pubertäts- und Adoleszenzphase das Selbsterlebnis beherrscht. Viele Äußerungen von Jugendlichen lassen sich so deuten. Ich greife eine von Helmut Hollenstein dokumentierte Äußerung einer 16jährigen Schülerin heraus: "Wenn man zum Leben ja sagt, und das Leben selber sagt zu einem nein - so muss man auch zu diesem Nein ja sagen". 12 Hier wird ein Zwiespalt benannt: Es öffnet sich eine Differenz mitten im Leben, deren Sinnwidrigkeit Sinn voraussetzt, einen Sinn freilich, der sich unaufhörlich an der Lebenswirklichkeit reibt. Ähnliche Äußerungen über Widersprüche zwischen Lebenserwartung und Lebenserfolg, zwischen etablierten Sinndeutungen und -entwürfen und faktischen Gegenerfahrungen lassen sich in altersspezifisch unterschiedlichen Formen bei vielen Jugendlichen finden, ohne dass damit immer schon Leid bewußt thematisiert wird oder gar die Theodizeefrage aufgeworfen wird. Hollenstein unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen einer "thematische(n) bzw. explizite(n) Theodizeefrage und eine(r) unthematische(n) bzw. implitze(n) Theodizee." 13 Wurzelt das Leiden am Leben in dieser Differenzerfahrung, in der Unmöglichkeit einer Balance zwischen eigenem Lebensentwurf und dem faktischen Leben, so dürfen wir, zumal bei Jugendlichen, die unter dieser Nichtidentität besonders leiden, nicht nur über Grenzerfahrungen qualvollen eigenen und fremden Schmerzes sprechen. Wir dürfen dann auch nicht das an den Grenzen von Krankheit, katastrophischem Unglück und Tod explizierte Leid zum Bewertungsmaßstab für den alltäglichen Lebensschmerz erheben. Die Erfahrungen menschlicher Begrenztheit und Endlichkeit werden, auch ohne als solche explizit bewusst zu werden, mitten im Lebensalltag gemacht.

Ein Kontinuum der Leidenserfahrungen vom Alltagsschmerz bis zu extremen Grenzerfahrungen zeichnet sich in allen vorliegenden Untersuchungen über Kinder und Jugendliche ab 14 , wobei deren Äußerungen selbst innerhalb dieses Kontinuums selten Qualitätsunterschiede bezeichnen. Die Intensität des Leidens lässt sich nicht an einer objektiven Skala messen. Freilich verschieben sich die Wahrnehmungen mit wachsendem Alter und wachsenden Erfahrungsbreiten und Versprachlichungsmöglichkeiten. Kinder im Vorschulalter und in den ersten Grundschuljahren äußern sich primär zu selbsterfahrenem körperlichem Leid. Welt und Natur werden nur in ihrer unmittelbaren Bedeutung für das eigene Leben einbezogen: "Warum macht Gott die Tierchen, von denen man Halsschmerzen bekommt?". 15 Psychisches Leid scheint davon sprachlich nur in Ausnahmefällen unterscheidbar und benennbar zu sein. In diesem Alter eines "naiven Realismus", das bis etwa zum 8. Lebensjahr reicht, ist nur benennbar, was der unmittelbaren Wahrnehmung gegeben ist. Über Gott reden Kinder in diesem Alter in einem naiv-anthropomorphen Sinne. Er wird als unmittelbar eingreifender Übermensch vorgestellt: "Gott kann zaubern", sagt eine 5jährige. Umso ungeschützter trifft diese Kinder ihr Leid. Es ist mit ihrem Gottesbild nur schwer vereinbar - aber wenn Gott nicht helfend eingreift, wird seine Existenz deshalb noch nicht in Frage gestellt, sondern er wird angeklagt und beschimpft, und zwar umso mehr, als Gottes Interventionen direkt am Muster von Lohn und Strafe beurteilt werden: "Warum hast du meine Oma leben lassen, die doch zu uns so schlecht ist? Mein Opa war ja viel besser als meine Oma". "Katholiken leben länger, weil Gott auf sie aufpasst." 16 Im Übergang zur Altersstufe des "kritischen Realismus" (ca. ab dem 3. Schuljahr) werden als Ursache von Leid häufig die Menschen der nahen Umgebung genannt. Die Beziehungsebene mit Erlebnissen von Gewalt, Verboten, Scham, Isolation, rückt in den Mittelpunkt 17 , bevor dann Leid zunehmend nicht mehr nur am Beispiel eigener, sondern fremder Erfahrungen thematisiert wird. 18 Medien und wachsende Wahrnehmungsmöglichkeiten erschließen in der frühen Pubertät soziales Leid im weiteren Umfeld, bis hin zur Not anderer Kontinente 19, neben persönlich erlittenem Leid und Unrecht - von Todesfällen bis zu Zerwürfnissen, schulischem Leistungsrückgang usw.. In der Pubertät wird der Widerspruch zwischen der wachsenden Sensibilität für fremdes Leid und der Empfindlichkeit der eigenen Gefühlsbalance so groß, dass nun zum ersten Male massiver jene Attitüde von "coolness" beobachtbar wird, die als Verschließung gegenüber dem Leiden erscheinen kann.

Bei 15- bis 16jährigen, also am Beginn der Adoleszenz, fällt bei den von Hollenstein analysierten Äußerungen die "massive Konzentration ... auf den ... psychisch-sozialen Bereich des Leidens" auf. 20 Die sozioemotionalen Defizite der eigenen Sozialisationsgeschichte werden im Prozess der Suche nach eigener Identität und dem Ablösungsprozess vom elterlichen Umfeld, dem Gefühl des Unverstandenseins, schmerzlich bewusst. Dieser Befund kann ergänzt werden durch Nipkows Beobachtungen, wonach Jugendliche das Problem der Theodizee kaum auf unabwendbare Schicksalsschläge, sondern überwiegend auf gesellschaftliche Widersprüche und Ungerechtigkeiten beziehen und so die Theodizeefrage als Frage nach der Anthropodizee stellen. 21 Daneben finden sich in den Äußerungen dieser Altersgruppe freilich nunmehr alle thematischen Dimensionen der Theodizeefrage. Auffällig ist dabei die Spannung, um nicht zu sagen: der Riß zwischen der religiösen Traditionswelt, soweit sie überhaupt noch im Blickfeld liegt, und der erlebten Alltagswelt. Das wird allerdings auch schon bei jüngeren Schülern deutlich, sofern sie direkt zum Zusammenhang zwischen Gott und Leiden befragt werden: 22

"Wieso hilft Gott nicht in der Dritten Welt?"
"Warum schickt Gott Leiden auf die Erde?"
"Warum lässt Gott solche Zustände zu (verhungerte Kinder usw.)?"
"Warum hat Gott nicht den Reichtum gleichmäßiger verteilt?"
"Warum kann er Kriege nicht verhindern?" usw..
Daneben christliche Bekenntnisformeln:
"Jesus ist am Kreuz gestorben."
"Gott musste für die Sünden aller Menschen leiden."
"Beten bringt Trost."
"Gott wurde von uns gepeitscht." usw..
Einige Schüler empfinden das Begriffspaar "Gott und Leiden" (noch) als unproblematisch:
"Gott hat immer Zeit für die Leidenden."
"Er führt die auf falschen Weg geratenen Leute auf den richtigen."
"Wenn man an Gott glaubt und irgendwie Leiden hat, dem hilft Gott."
"Gott ist der Herrscher und liebt auch die Armen." usw..

Im Horizont der Schüler steht die eigene Welterfahrung relativ unvermittelt neben eher formelhaftem christlichem Bekenntnisgut. Ähnlich vermerkt Nipkow, dass Jugendliche, wenn sie die Ungerechtigkeit der Welt als Theodizeefrage benennen, davon seltener wirklich umgetrieben werden, eher "nur geläufige Vorwürfe an Gottes Adresse formelhaft nach(sprechen)." 23 Es ist zu vermuten, dass das nicht an mangelnder kognitiver Durchdringung des Problems liegt, sondern dass sich hier ein von den Erwachsenen generell und deren theologischer Reflexion und religiöser Lebensgestaltung im besonderen nicht gelöstes Problem niederschlägt.

Immerhin lassen sich jenseits der Stereotype auch einige sprachlich eigenständige und divergente Äußerungen von bemerkenswerter Tiefe finden: "Gott ist lieb und schmerzhaft. Gott ist mitleidend und verschwiegend." (Hauptschülerin, 5. Schuljahr). "Gedanke: Gott ließ seinen Sohn leiden, ohne ihm zu helfen. Frage: Warum ließ er ihn leiden? Meinung: Vielleicht weil sein Sohn es nicht wollte, dass Gott ihm hilft." (Gymnasiast, 7. Schuljahr). 24 Nipkow resümiert: "Zusammengefasst erscheint als die erste Einbruchstelle für den Verlust des Glaubens an Gott - vielleicht als die zentrale - die Enttäuschung über Gott als Helfer, als den nur vermeintlichen 'lieben Gott'. Sie ist in jüngeren Jahren die Enttäuschung über Gott als kindlich erwarteten Wunscherfüller, der stets zur Stelle sein soll, später die Enttäuschung über die ausgebliebene Hilfe angesichts von unverschuldetem Leiden und unerklärlichem Sterben, ferner die Enttäuschung über ausgebliebene Hilfe angesichts des Elends und der Ungerechtigkeit in der Welt allgemein. Hierbei geraten nicht nur die intensiver reflektierenden Jugendlichen vor die Selbstwidersprüchlichkeit Gottes zwischen Allmacht und Liebe. In verschiedenen Facetten zeigt sich die Theodizeeproblematik als die erste und wahrscheinlich größte Schwierigkeit in der Gottesbeziehung überhaupt." 25 Dieses Resümee ist um eine weitere Facette noch kurz zu ergänzen: Von der Pubertät an ist bei Schülern der wachsende Einfluss eines szientistisch-positivistischen Weltbildes auch dann zu beobachten, wenn die mit diesem Weltbild verbundenen Krisenphänomene deutlich kritisiert werden. Fortschrittsgläubigkeit, die Überzeugung von der prinzipiellen Beherrschbarkeit des Lebens durch die Wissenschaft, die Reduktion alles Wirklichen auf das empirisch Feststellbare, auf das Mess- und Berechenbare, sind weithin ungebrochen oder stehen in frappierendem Nebeneinander zu den Scheintranszendenzen des Okkulten oder der Esoterik, die ihrerseits im Sinne technischer Beherrschung des Lebens gedeutet werden. Die Wissenschaft erhält eine sinnstiftende Funktion, wird zum gottähnlichen Mythos. Offensichtlich sind die damit verbundenen und ja oft durchaus kritisch bewerteten Krisen so divergent gegenüber dem Zwang, sich im täglichen Leben in einer wissenschaftlich-technisch geformten Welt bewegen zu müssen, dass dieser Widerspruch als unbearbeitbar empfunden und ausgeblendet wird. Hier lässt sich der Bogen von den Jugendlichen zurückschlagen zu den Bemerkungen über die "Krankheit, nicht leiden zu können" als einem Grundkomplex der neuzeitlichen wissenschaftlich-technischen Zivilisation: "In der narzisstischen Phantasie und im szientistischen Mythos wird die Wirklichkeit überstiegen, es besteht die Gefahr, dass die Differenzerfahrung unrealistisch kompensiert wird, d. h. sie wird nur verstellt, partikular wahrgenommen, abgedrängt und verdrängt, vorschnell abgewehrt." 26

 

III Aspekte zur Thematisierung von Leid im RU:

Ein Sprachangebot für Leiderfahrungen

So lässt sich nun die religionspädagogische Aufgabe angesichts der Leiderfahrungen von Kindern und Jugendlichen formulieren: Wir haben zu bedenken, dass Leid nicht nur von den extremen Grenzsituationen her in den Blick zu nehmen ist, an denen die Oberfläche des Alltagslebens aufreißt, an denen unsere Schwäche schutzlos dem Schmerz preisgegeben ist und dem Selbstbehauptungsbedürfnis der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Zwar wird es immer wieder Situationen geben, die den Religionsunterricht nicht unberührt lassen, in denen wir gar keine andere Wahl haben, als uns den Fragen von Schülern im Anblick solcher Extremerfahrungen zu stellen. Es mag unter Umständen sogar didaktisch sinnvoll sein, die Verhärtungen und Verdrängungen gegenüber eigenem und fremdem Leid von den Erträglichkeitsgrenzen her aufzubrechen. Dabei wird aber nicht nur sehr ernst zu beachten sein, wann sich der Religionsunterricht als Lernprozess einer Gruppe, im Gegensatz also zu einem freiwillig gesuchten Gespräch unter vier Augen, seelsorgerlich überfordert. Gerade weil davon ausgegangen werden kann, dass nur wenige Schüler selbst am eigenen Leib extreme Leiderfahrungen durchlebt haben, verbietet es sich, solche Leiderfahrungen didaktisch zu funktionalisieren - weil wir dann dem Ernst dieser Erfahrungen nicht wirklich gerecht werden können, und weil wir dann das unauffällige, unseren Alltag durchwirkende Leid in dessen eigenem Ernst nicht wirklich erschließen. Auf diese Lebensmitte aber käme es an. Der Bedrängnis der alltäglichen Differenzerfahrung eine Sprache zu geben, ermöglicht es erst, gleichsam eine Brücke zu den Erfahrungen extremen Leids zu schlagen und dann auch diese aus der Sprachlosigkeit herauszuholen. Der Zwang zum sprachlosen Verstummen verdoppelt das Leid, weil er Menschen in die kränkende Scham schutzlosen Preisgegebenseins einschließt. Aus diesem Zwang ist wohl nur herauszutreten, wenn schon zuvor der Alltagsbedrängnis eine aufmerksame Sprache verliehen werden konnte. Das Entwürdigungserlebnis lähmenden Schmerzes muss Menschen dann nicht gefangen nehmen, wenn sie zuvor gewahr geworden sind, dass sich ihre kreatürliche Würde nicht zuletzt in der Wahrnehmungsfähigkeit der sie stetig begleitenden Differenzerfahrungen erweist. Die schmerzliche Differenz zu erleben zwischen dem was ist, und dem was sein soll, unterscheidet ja allererst alle Menschen von in sich zentrierten Tieren oder gar Dingen in der Welt. Und erst, wenn das Erleben dieser Differenz immer wieder aufgefangen bleibt von dem Erlebnis empfangener Liebe, werden wir für die Erfahrung geöffnet, dass wir Geschöpfe und Ebenbilder Gottes sind und dass der Schmerz der Kreatürlichkeit uns nicht verstummen lassen muss.

Sprachlos gegenüber dem Leid macht die Weltsicht, die ich gerade als den mit wachsendem Alter bei Kindern wirksam werdenden neuzeitlichen Wissenschaftsmythos bezeichnet habe: der Leid verdrängende Aberglaube, alles unterliege der technischen Beherrschbarkeit, alles sei letztlich berechenbar und Gegenstand feststellenden Wissens. Als solche Gegenstände feststellenden Wissens sind dann die wissenden Menschen selbst und ihre Mitmenschen nicht mehr unterscheidbar von all den Dingen in der Welt, die wir zu Gegenständen unseres Wissens machen können. Von der Vorstellung einer vollständig vom Wissen erfaßssen Welt geht für Kinder eine große Faszination aus, an der nicht zuletzt die Schule beteiligt ist mit ihrer Art, die Welt als Ansammlung von lauter Wissenssegmenten zu erschließen. Im kleinen wiederholt die Schule das, womit die ins Wissen verliebte Aufklärung die Theodizeefrage zu beantworten versucht hat: Mit dem Drang, zu viel wissen zu wollen und darüber gerade die Welt um ihre wichtigste Dimension zu berauben, die Dimension des Geheimnisses, das mit Sprache nicht erfasst, sondern nur umkreist werden kann. Ich bin im Unterricht oft erstaunt gewesen über die Beharrlichkeit, mit der z. B. pubertierende Schüler ihre Selbsterfahrung reflexiv zu versprachlichen versuchten, indem sie - pointiert gesagt - ihre Gefühle als Funktion von Drüsensekretionen zu verstehen suchten, also unter dem für sich selbst bewusst werdende Menschen unwesentlichsten Aspekt. Weder Schmerz noch Liebe, also die Dimensionen des pathos, sind dann wirklich artikulierbar. Aber sie sind ja doch da. Sie mitteilbar zu machen mit Hilfe einer Sprache, die nicht feststellt und sich damit als zweckmäßig erweist, sondern die jenseits von Zweckkalkülen ausdrucksfähig macht - und damit übrigens die Grenzen gesprochener Sprache gegenüber nichtsprachlichen Expressionsformen verflüssigt -, das ist eine der vornehmsten Aufgaben des Religionsunterrichts: Deutlich werden zu lassen, dass wir als Wesen, die sprechen können, gehört werden und angesprochen werden wollen, ohne dass sich unsere Kommunikation ausschließlich den Maßstäben grammatikalischer Richtigkeit und funktionaler Eindeutigkeit zu fügen hat; dass wir überhaupt lieben und leiden können und dafür eine Sprache haben, die Liebe und Leid nicht für erklärungsbedürftig hält und auf Ursachen zurückführt, in deren Lichte sie dann nicht mehr als Liebe und Leid artikulierbar sind.

Gerade so aber werden wir auf die Sprache der Bibel verwiesen. Es ist nicht die Sprache, mit der das Geheimnis der Welt aufgedeckt und in Wissen transformiert wird, als wäre es nur ein lösbares Rätsel. Es ist die Sprache wechselseitiger zweckfreier Anrede, die Sprache, mit der Gott uns anredet und mit der deshalb Menschen auf Gott antworten können. Loben, danken und klagen, bitten, Versprechungen machen kann man nur gegenüber einem Du. So wird nicht über etwas, sondern zu jemandem geredet, solche Sprache informiert nicht über Sachverhalte, bildet keine feststellbaren Gegenstände ab, sondern ist kreativ - wie Sprachwissenschaftler sagen: performativ -, indem in und durch den Akt des Sprechens innerhalb einer Beziehung neue Wirklichkeiten geschaffen werden. Der Gegensatz zur Wahrheit ist in dieser Sprachdimension nicht der Irrtum, sondern die Lüge. Ingo Baldermann hat Wege gezeigt, wie etwa Metaphorik und Sprachgestus der Psalmen gerade der Affektwelt von Grundschulkindern Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen, durch die z. B. die Klage über erlittenes Unrecht und Leid unmittelbar und stimmig elementare religiöse Erfahrungen erschließt. Gleiches ist für die Lektüre des Hiob-Buches möglich, durch die die Gegenwartsmentalität zwischen Resignation und Rebellion sich wiederfinden und deuten lassen kann, wobei zudem bei jugendlichen Schülern die kognitive Dissonanz, dass das "in der Bibel steht", fruchtbar zu machen wäre.

Insgesamt erfordert diese Art spracheröffnenden Lernens an der Bibel Lektüreformen, die den Text auf andere Weise wahrnehmen als beispielsweise bei dem funktionalen Zugriff auf biblische Geschichten durch einen verengt verstandenen problemorientierten Religionsunterricht, aber auch anders als bei der doch kognitivistisch verengten Elementarexegese des hermeneutischen Religionsunterrichts. Die Geschichte vom sinkenden Petrus auf dem See (Mt 14, 22-33) stößt dann kein Nachdenken über den Glauben an, sondern eröffnet die Differenz zwischen diskursiver Rede über Religion und der Sprache des Glaubens: "Natürlich gibt es gewisse/Unterschiede./ Nehmen wir ein Beispiel:/ 'Sich über Wasser halten'/ und 'sich über Wasser unterhalten',/das hat soviel/ miteinander zu tun/ wie der Aufschrei des Herzens/ 'Herr, hilf mir!'/ mit der Diskussion darüber/ ob es einen Gott gibt."(Lothar Zenetti). 27

Zu diesen Sprachangeboten, die die Schwierigkeit der Mitteilbarkeit von Leiderfahrungen überwinden helfen können, gehören übrigens auch Liturgien. Liturgische Sprache stellt neben das Gotteslob und die Bitte um Erbarmen auch die Klage über unser Leiden an Gott und der Welt. Sie bringt den Ausdruck unseres Leids in gestaltete Formen, denn wir können nicht ständig im Erregungszustand der unmittelbaren Expression leben. Freilich müssen die gestalteten Sprachformen einen verstehbaren Anschluss halten an die Erregungen unseres Gemüts. Es ist jedenfalls nicht willkürlich, wenn Henning Schroer seine Vorschläge einer Einübung in Klagesprache abschließt mit der Bemerkung, dass sich "die Brücke zu einem Schulgottesdienst nahelegen (wird)." 28

 

IV Sinn statt Trost: eine falsche "Bewältigung" von Leiderfahrungen

Als leitende Fragestellungen zum Thema "Leid" im Religionsunterricht formuliert Schroer zuvor: "Kann zwischen Trost und Vertröstung sinnvoll unterschieden werden? Kann Apathie in Sympathie oder auch Empathie verwandelt werden?" 29 Nur wer Leid klagend zur Sprache bringen kann, wird sich die eigene Trostbedürftigkeit nicht vom religionskritischen Vorwurf denunzieren lassen, der abschätzig von der Vertröstung aufs Jenseits zugunsten des irdischen Jammertales spricht. Religion als "Seufzer der bedrängten Kreatur", als "Trost der trostlosen Zustände" (Marx) wird als Illusion entlarvt, aber als Preis dafür wird die Klage über das Leid zum Verstummen gebracht mit dem nun tatsächlich vertröstenden Glauben an seine Abschaffbarkeit als dem Ziel der menschlichen Geschichte - einer Geschichte, in der es bis dahin, sehr zum Untrost der jetzt lebenden Menschen, berechtigt erscheint, über Leichen zu gehen. In einer solchen Deutung der Geschichte erhält das Leid vom in der Hand der Menschen liegenden Ende der Leidensgeschichte her einen Sinn, es ist dann das notwendige Durchgangsstadium zu einer leidfreien Welt. Der Vorwurf, Religion sei skandalöse Vertröstung der Leidenden, fällt auf diese Religionskritik zurück. Denn der eigentliche Skandal ist es, dem Leiden auf diese Weise einen Sinn zu geben, den Schmerz und die Klage lebendiger Menschen zu entwerten, als seien sie nur ein Wellengekräusel auf der Oberfläche des Stromes der Menschheitsgeschichte.

Das sich für aufgeklärt haltende Bewusstsein hält die menschliche Trostbedürftigkeit für verächtlich. Was vor dem Menschenverstand nicht besteht, gilt nur als Vertröstung, "richtigen Trost aber würde der neuzeitlichen Vernunft nur die durch Anschauung hervorgerufene Gewissheit einer Ordnung der Welt spenden ...." 30 . Die verstandene Ordnung der Welt ist ihr offenbarer Sinn. Die Klage über Leid und Schmerz hat keinen anderen Adressaten als die verstehende Vernunft. Die vollendete Aufklärung ist zugleich die geklärte Theodizeefrage. Der Unterschied zwischen der atheistisch-religionskritischen und der theistischen Variante wird bedeutungslos. Gott kann so nur als der Universalzusammenhang, als Bedeutungsganzes, als letzter Sinn gedacht werden - ein "Götze, in dem sich re-flektiert und bespiegelt, wer ihn hervorgebracht hat." 31 Gott wird mit der von der Vernunft als vernünftig erkannten Ordnung identisch. Wenn aber "die ganze Welt auf Gott zurückgeführt werden kann, wird sie selber nichtssagend" 32 , denn es stellt sich keine Frage mehr. Wenn Religion mit Sinnsuche verwechselt wird, verwechselt der religiöse Mensch seine Orientierungsbedürftigkeit in der Welt mit seinem Bedürfnis, sich und die Welt zu rechtfertigen. 33 Die Beantwortung der Sinnfrage zielt ab auf die Rechtfertigung all dessen, was geschieht. Für die Suche nach Sinn als der aufgedeckten Weltordnung, dem Gegenteil von Widersinn, steht dann ständig das Ganze auf dem Spiel. Die Metaphorik der Sinnsuche suggeriert, Sinn könne gefunden werden wie ein Schatzsucher mit Hilfe eines schlimmstenfalls verschlüsselten Lageplans und technischem Gerät eine Goldtruhe findet. Mit diesem Fund wäre die Suche am Ende. Dann begönne das sinnerfüllte Leben, gleichsam wie nach der vollendeten Erlösung. Die Täuschung besteht darin, dass Sinn kein welthafter Sachverhalt ist, auch nicht nur etwa ein besonderer Bereich des Sinnvollen, sondern eine Ordnungsform menschlichen Erlebens, eine Deutungskategorie. Sinn steckt nicht einfach in den Dingen wie der Alkohol im Wein. Wir finden nicht Sinn, aber wir produzieren auf deutende Weise täglich Sinn. Wir können gar nicht anders leben. Nur müssen wir uns hüten, unsere Sinndeutungen als Funde misszuverstehen. Mehr noch müssen wir uns vor der Vorstellung hüten, wir könnten mit unseren Sinndeutungen Schneise auf Schneise ins Gestrüpp der Welt schlagen, bis sie vollkommen übersichtlich vor uns läge.

Für den christlichen Glauben liegt die vollendete Deutung der Welt nicht beim Menschen und seinen alltäglichen Sinnproduktionen, sondern bei Gott. "Die Frage nach Gott, übersetzt in die Sinnfrage, versagt sich dem Reden von Gottes Offenbarung und Gottes Schweigen." 34 In Gottes Zuwendung erfahren Christen in dieser Welt den Vorschein der Verheißung, dass am Ende der Welt ihr Sinn offenbar wird - nicht als Stillung unseres Erklärungshungers, sondern indem "alle Tränen abgewischt" sein werden (Jes 25,8; Offbg 7, 17; 21,4). Diesen "Sinn" finden nicht wir, sondern er sucht und findet uns. Wir können ihn nicht namhaft machen, sondern sind auf ihn angewiesen. Wir empfangen ihn in Beziehungen - und deshalb ist das Wort Trost auch angemessener, denn wir empfangen nicht einen gedanklichen Inhalt, sondern eine Gegenwart. "Sinngebung ist als 'Theodizee' nicht mehr möglich", und "selbst dort, wo der christliche Glaube im Widerspruch gegen das Bestehende orientierende Kraft erweist, resultiert sie doch nicht aus der Einsicht in die Stimmigkeit der erfahrenen Welt." 35

Das kann nun aber nicht heißen, die Frage nach dem Sinn des Lebens im Religionsunterricht einfach abzuqualifizieren. Nipkows insistierender Verweis, dass diese Frage bei Kindern "zum Anfang des religiösen Weges" zwar nicht werden muss, aber kann 36 , und als Gottesfrage das thematische Zentrum des Religionsunterrichts sei, ist ja richtig. Ebenso richtig ist, dass die reformatorische Entdeckung, wonach nicht Gott der Rechtfertigung bedarf, sondern die Menschen der Rechtfertigung durch Gott bedürfen, im Religionsunterricht nicht als theologische Lehre entfaltet werden soll, sondern als elementare Antwort auf die Sinnfrage. 37 Eine solche Antwort hätte nicht einfach die falsch gestellte Sinnfrage abzuwehren, sondern Schüler mit der Erfahrung nicht allein zu lassen, dass die auf Dauer gestellte Sinnsuche scheitert. Diese Erfahrung stellt sich ja ohnehin ein, sie bedarf aber, um nicht in Resignation, Zynismus oder Beliebigkeit zu münden, der deutenden Begleitung. dass man Selbstzustände wie Liebe oder Sinnerfülltheit nicht selbst wachrufen, nicht herstellen kann, wird schon Kindern schmerzlich bewusst. dass Sinn gerade dann systematisch verfehlt wird, wenn er intentional angestrebt wird, wäre eine Einsicht, die durchaus nicht ohne Erfahrungsrückhalt auskommen müsste. Gerade im skeptischen Blick auf eine Erwachsenengeneration, die in dauernden Selbstverwirklichungsprojekten nur um sich selbst zu kreisen scheint, liegt Kindern und Jugendlichen durchaus die Einsicht nahe, dass wir unser Leben nicht in der auf Dauer gestellten Suche nach Deutungsmustern und Gestaltungsentwürfen deuten und gestalten können. Denn im endlichen Leben müssen wir ja einmal - und immer wieder - anfangen, unser Leben zu gestalten, ohne darauf warten zu können, vollkommen identisch, vollkommen mit uns selbst und der Welt im reinen zu sein. Theologisch gesprochen: Der Glaubende ist vom Sünder nicht dadurch unterschieden, dass er irgendwann sein Leben sinnvoll gemacht hat, mit sich identisch geworden ist, also in einem Zustand ohne Differenzerfahrung lebt, sondern dass er nicht mehr mit sich selbst identisch zu werden braucht. Im Religionsunterricht ginge es darum, dass Schüler für desintegrierende Erfahrungen offen bleiben, darum, dass diese desintegrierenden Erfahrungen nicht etwa Gott in Frage stellen, sondern uns in ihnen Gott nahe kommt. Zugespitzt: Der Glaube an Gott und seine Verheißungen hängt an der zugelassenen Differenzerfahrung. Vollendete Identität würde die Frage nach Gott überflüssig machen. Alle die glauben, hat Dorothee Sölle einmal gesagt, hinken ein wenig - wie Jakob nach dem Kampf mit dem Engel. Die christliche Religion hilft, Kontingenzen auszuhalten, nicht zu "bewältigen", wie es eine bekannte Formel nahe legt, mit der Religion funktional definiert wird. Das Ziel des Religionsunterrichts ist deshalb keine Sicherheit, die dann auch die denkerische Bewältigung der Theodizeefrage einschlösse, sondern im Gegenteil Unsicherheitstoleranz.

 

V Leiden ist sinnlos - der RU darf sich nicht an der "Sinngebung des Leidens" beteiligen

D. h. dann freilich auch, dass keine Leiderfahrung in einen sicheren Sinnhorizont zu integrieren ist. Schmerz und Leid bleiben skandalös, bleiben sinnlos und elend. Die Sinngebung des Leidens ist unverantwortbar, "weil man damit die Solidarität mit Leidenden irgendwie transzendiert und sich von einem höheren Standpunkt aus davon distanziert." 38 Diesen höheren Standpunkt nimmt nicht einmal Gott ein, der nach biblischem Zeugnis kein affektfreies, gedanklich zu erfassendes geistiges Prinzip ist, sondern ein leidenschaftlicher, mitleidender Gott. Das Mitleid Gottes, seine tröstende Gegenwart im Leid, lebensdienlich mitzuteilen, nicht Leiderfahrungen mit Erklärungsgründen zu traktieren - darum sollte es im Religionsunterricht gehen. "Von Gott zu reden, um etwas zu erklären, was wir nicht wissen können, hieße, nicht die Wahrheit zu sagen ... . Unwahr wäre das Wort, das die Finsternis leugnet, durch falschen Trost beschönigt oder den Namen Gottes für den Dienst an eigenen Interessen missbraucht." 39 Um der Wahrheit willen und nicht nur aus den guten Gründen pädagogischen Taktes ist es dem Religionsunterricht verboten, Leid als ein Mittel religiöser Erziehung zu betrachten oder moralisch zu instrumentalisieren. 40

Freilich kann ich sagen, Gott bestraft mich, sofern ich das in der Erinnerung an Auschwitz auch nicht nur andeutungsweise verallgemeinere. Problematisch ist es, aus der ersten Person Singular in die Sprachform zu fallen: "Du leidest, damit du lernst oder damit ich lerne". Das Recht einer Person, für sich selbst im eigenen Leiden einen Sinn zu sehen, ist davon sehr genau zu unterscheiden. Auch die Deutung von Leid als Strafe darf nicht völlig ausgeschlossen werden, "sonst verstellt man sich den ethischen Zusammenhang" 41 , in dem Menschen sich selbst schuldhaft in Leid verstricken. Die Strafe ist dann aber nicht Gott zuzuschieben. Es versteht sich, dass der Einspruch gegen die Sinngebung des Leidens nicht den Umkehrschluss erlaubt, dass Leidlosigkeit oder Leidvermeidung eo ipso ein gelungenes, sinnerfülltes Leben bedinge. Leid anzunehmen, darf nicht als masochistische Unterwerfung unter einen despotischen Gott verachtet werden. In der Annahme des Leids geht es aber nicht um seine Bejahung, sondern um die Bejahung des Lebens trotz des Leids. Um jedem Anflug einer doktrinären, moralisierenden, lieb- und trostlosen Behandlung dieses schwierigen Themas zu entgehen, eignet sich im Religionsunterricht wahrscheinlich besonders gut die Arbeit an Biographien, wobei normative Wertungen soweit wie möglich unterlassen werden sollten.

Das Stichwort "Wahrheit" ist gerade gefallen. Ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, warum Religionslehrer wie alle Erwachsenen verpflichtet sind, religiöse Erziehung nicht als den Versuch misszuverstehen, Kindern auf Kosten der Wahrheit eine sorglose Weltstimmung zu erhalten. Es ist auch ein Hinweis auf die "unbewältigte" Theodizee, wenn z. B. Hartmut von Hentig dieses Missverständnis in einer reformpädagogisch wirksamen Tradition des Idealismus begründet sieht: "Statt die Welt vor dem Kind zu verantworten, wie sie ist, hat man ihm eine eigene, heile, 'reichere' Welt vorgemacht, eine Welt, wie sie nicht ist." 42 Zu ergänzen wäre, dass wir nicht die Welt, sondern das, was wir aus ihr machen, zu verantworten haben.

Warum-Fragen müssen Kindern gestattet werden. "Wir müssen mit dem Kind lernen, mit dem Negativen in der Welt zu leben". 43 Nur so können Kinder behutsam lernen, die Warum-Fragen in Wohin-Fragen zu verwandeln, damit das irgendwann scheiternde Interesse an der Welterklärung im Vertrauen auf Gottes Verheißung aufgehoben werden kann. Verboten sind Ausflüchte ("das verstehst du noch nicht"), verboten ist das bald durchschaute Gaukelspiel einer heilen Welt, verboten ist die Zuflucht in ein fatalistisches und omnipotentes Gottesbild ("Gott hat es so gewollt"; "Der Mensch denkt, Gott lenkt"). So würden wir Kinder vor die fatale Alternative zwischen weltlosem Glauben und gottloser Welt stellen. Es gibt einen spezifisch jugendlichen "Atheismus aus Enttäuschung" als Reaktion auf die zu häufige Rede vom "lieben Gott". Kinder brauchen unser Eingeständnis, dass wir die Warum-Frage nach dem Leid nicht beantworten können. Wenn wir Kindern ihre Trauer wegreden und wegdeuten, zwingen wir sie zu primitiveren Mitteln der Schmerzabwehr. Auf Dauer werden so gefühlsarme Menschen erzogen.

 

VI Von welchem Gott kann im RU erzählt werden - angesichts des Leids?

Ich kann mich hier nicht ausführlicher mit dem theologischen Problem auseinandersetzen, wie die Rede von Gottes "Allmacht" zu verstehen sei. Mit der Rede von Gottes Allmacht verstricken wir uns in unlösbare Paradoxien, von denen die biblische Rede von Gott, in der seine Allmacht bemerkenswerterweise nur sehr am Rande vorkommt 44 , erst im Lichte eines philosophischen Gottesbegriffs in Frage gestellt wird. Es soll hier der Hinweis reichen, dass das Bekenntnis zu Gottes Allmacht nur eschatologisch zu verantworten ist, als Ausdruck der Hoffnung auf die Übermacht seiner Liebe und als Ausdruck der Begrenzung unserer menschlichen Allmachtsphantasien. Die Bibel vermeidet logische Paradoxien, indem sie Gott als Person bezeugt, die nicht der Logik der Widerspruchsfreiheit unterworfen ist. Die Bibel erzählt Geschichten, Geschichten aber sind immer Umwege, die sich keiner abstrakten Logik fügen. Gleichviel: Kinder scheitern am Gedanken der Selbstwidersprüchlichkeit zwischen göttlicher Liebe und Allmacht, weil sie Gottes Allmacht nur magisch denken können. Ich halte deshalb dafür, die Allmacht Gottes aus der Kinderkatechese und der Kinderliturgie zu verbannen. 45 Wir machen Kinder mit dem Namen Gottes vertraut, nicht mit einem Gottesbegriff. Gottes Personalität verwickelt uns mit den Kindern in eine Geschichte mit offenem Ausgang. In dieser Geschichte liegt die Möglichkeit, mit Gott vertraut zu werden, ohne genau über ihn Bescheid zu wissen. Für problematisch halte ich es übrigens, die Rede von Gottes Allmacht durch die ausschließliche Betonung seiner mütterlichen Güte abzulösen, wie es manche feministische Theologinnen raten. Muttergottheiten machen die Frage nach dem Leid nicht leichter bearbeitbar, auch wenn das Bild der lebensspendenden Mutter in ein reifes Gottesbild integriert werden kann. Mit Gott zu hadern - bis hin zum Zweifel an seiner Güte, ja an seiner Existenz, gehört zu einer reifen Gottesbeziehung. Gerade aber in den durch das Modell der Mutter-Kind-Symbiose gekennzeichneten Beziehungen ist eine hadernde Abwendung nicht ohne Angst vor Vernichtung möglich. Eine rigide moralisierende Weltsicht ist oft als Resultat einer missglückten Über-Ich-Bildung zu deuten, aufgrund des Misslingens der Ablösung aus der präödipalen Welt der abwechselnd als gewährend und vernichtend empfundenen Mutter. Das bedingt ein zwischen Verschmelzungssehnsucht und Vernichtungsangst schwankendes Lebensgefühl, ein bei Strafe der Vernichtung zum dauerhaften Gutsein verdammtes Ich. Es steht immer alles auf dem Spiel. Der eigenen moralischen Güte ist die Rettung der Welt zur Aufgabe gestellt.

Die offen zu haltende Theodizeefrage, die sich durch ihre Unbeantwortbarkeit ja nicht einfach zum Verstummen bringen lässt, ist nun aber auch ein Schutz davor, etwa alles Übel auf menschliche Schuld zurückführen zu wollen, sei es Aids, sei es der Krieg in Bosnien. Es wohnt uns, solange wir nicht in Indifferenz versinken, ein starker Impuls inne, die Welt zu retten. "Aber ich, wär ich allmächtig, ich könnte das Leid nicht ertragen, ich würde retten, retten", sagt Büchners Lenz. Auch dort, wo uns objektiv keine Schuld anzurechnen ist, sehen wir uns in Schuldzusammenhänge verstrickt: "S'ist Krieg, s'ist leider Krieg und ich begehre, nicht schuld daran zu sein" (Matthias Claudius). Umso präziser wird im Religionsunterricht darauf zu achten sein, die Theodizeefrage nicht in die Frage nach dem rettenden Handeln der Menschen umzubiegen. Katholische Unterrichtsentwürfe zu diesem Thema rücken das Theodizeeproblem oft in einen Zusammenhang mit der menschlichen Freiheit, die für das Leid und das Übel der Welt verantwortlich gemacht wird. Damit bleibt die Frage etwa nach dem durch Naturkatastrophen bewirktem Leid aber umso bedrängender. Evangelische Unterrichtsentwürfe legen dagegen das Schwergewicht häufig auf die Solidarität des Menschen mit den Leidenden und blenden durch die Reduktion auf Ethik die Frage nach Gott aus. Die moralisch motivierte Suche nach Ursachen des Leids, um es abzuschaffen, ist aber nur im Bedenken auf die Reichweite des menschlichen Handlungsvermögens sinnvoll. Und es gilt zu bedenken: Auch der z. B. denkbare medizinische Sieg über den Krebs macht keine Qual vergangener Krebstode wieder gut. "Das Entscheidende ist, dass die Differenz zwischen überwindbarem oder aufhebbarem und unvermeidbarem Leid nicht von vornherein festliegt." 46 Der religionskritisch-revolutionäre Impuls, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes. Wesen ist" (Marx), ist ja nur dann Hybris, wenn er als Imperativ unterstellt, dass wir das selbst können. dass wir das sollen, soweit wir es können, steht außer Frage. Christen werden dazu motiviert nicht allein durch Gottes Gebot, sondern weil Gott sich selbst in den Weltzusammenhang von Leid, Mitleid und mitmenschlicher Solidarität eingelassen hat. Nach dem Sterben auf Golgatha ist für Christen das Leid kein Indiz der Abwesenheit Gottes mehr. Diese Motivation, sich dem Leid zu widersetzen und ihm standzuhalten, wirkt freilich nicht so sehr über gedankliche Einsicht oder über erzieherische Beeinflussung, als aus der Erfahrung, auch im Leid geliebt und angenommen zu sein. Hier liegt eine Grenze jedes Religionsunterrichts. Wir können die Geschichte von Kreuz und Auferstehung als die Geschichte des leidenden Gottes erzählen, wir können das Zeugnis der Auferstehung mitteilen als Vorschein der endgültigen Überwindung von Leid und Tod. Wir können mit dem Apostel Paulus aufzeigen, dass im Seufzen aller Geschöpfe der Heilige Geist Gottes selbst zu hören ist (Röm 8, 22.26). Mit all dem können wir den Glauben vor Missverständnissen bewahren, ihm einen Weg in die Herzen ebnen, aber keinen Glauben selber bewirken und keinen Mangel an Erfahrungen ersetzen, die einen solchen Glauben anstoßen. Vielleicht ist es aber nicht zu vermessen, bereits in der Frage nach dem Leid, die sich nicht mit dem Schmerz der Welt abfinden will, etwas vom Heiligen Geist wirksam zu sehen. Denn, nicht wahr, wenn das Leid im Urteil von Kindern und Jugendlichen wie von Erwachsenen ein Einwand gegen die Existenz Gottes ist, in wessen Namen wird denn dann Nein gesagt? Das Nein, das sich nicht der Welt fügt, wie sie ist, bedarf ja einer Instanz außerhalb der Welt - denn die Welt selbst ist, ohne Gott, gegen das Leid unempfindlich. Woher stammt unsere moralische Anklage gegen Gott? Wie kommt der Mensch auf die Idee, die Welt könne und solle etwas anderes sein als ein Tal der Tränen? Aus welcher Perspektive blicken wir auf die Welt, wenn wir den Abstand beklagen zwischen dem Zustand, wie die Welt ist und wie wir sie gerne hätten? Mit der alten Frage des Boethius: "Si Deus est, unde malum? Si non est, unde bonum?" (Wenn Gott ist, woher das Übel? Wenn er nicht ist, woher das Gute?). Genauer noch: Woher dann die bloße Idee des Guten, an der wir die Übel der Welt messen? Gott ist "unverzichtbar, nicht um uns mit dem Leid zu versöhnen, sondern um (uns) mit der Sinnlosigkeit des Leidens nicht abzufinden." 47

 

Anmerkungen

  1. Thomas Ziehe: Optionen und Ohnmacht. Zur Modernisierung jugendlicher Lebenswelten; in: Loccumer Pelikan 2/1993.
  2. Horst Eberhard Richter: Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen, Hamburg 1979, S. 127ff.
  3. AaO, S. 23.
  4. Walter Sparn: Leiden - Erfahrung und Denken. Materialien zum Theodizeeproblem, München 1980, S. 248.
  5. Joachim Kutschke: "Sie leiden nicht und haben kein Mitleid". Über den asozialen Fatalismus unserer Konsumkinder; in: Der Spiegel 13/1989.
  6. ebd.
  7. Henning Schroer: Didaktische Notizen zum Thema Leiden mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Bedeutung biblischer Exegese; in: Ev. Erzieher 5/1984, S. 575.
  8. AaO, S. 579.
  9. AaO, S. 581.
  10. Vgl. aaO, S. 580.
  11. Dies ist ein Schlüsselbegriff in der Untersuchung von Helmut Hollenstein: Der schülerorientierte Bibelunterricht am Beispiel der Theodizeefrage; Diss. Uni Münster; Aachen 1974, s. bes. S. 110ff.
  12. Zit. aaO, S. 104.
  13. Helmut Hollenstein: Der nicht kalkulierbare Gott; in: Religion heute 1986, S. 128.
  14. Vgl. v. a. die Materialen bei Hollenstein, Bibelunterricht (s. o. Anm. 11), S. 53ff. S. auch Ralph Sauer: Kinder fragen nach dem Leid, Freiburg 1986, S. 24ff.
  15. Sauer aaO, S. 25.
  16. AaO, S. 29 u. 27.
  17. Vom Leiden der Kinder, Interview mit R. Ulitzka; in: Kat. Blätter 11/1977, S. 888.
  18. Hollenstein aaO, S. 58f.
  19. AaO, S. 54.
  20. AaO, S. 56.
  21. Karl Ernst Nipkow: Grundfragen der Religionspädagogik (Bd. 3), Gütersloh 1982, S. 86.
  22. Hollenstein aaO, S. 58f.
  23. Karl Ernst Nipkow: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, München 1987, S. 55.
  24. Hollenstein aaO, S. 61f.
  25. Karl Ernst Nipkow aaO, S. 56.
  26. Hollenstein: Der nicht kalkulierbare Gott, aaO, S. 130.
  27. Lothar Zenetti: Die wunderbare Zeitvermehrung. Variationen zum Evangelium, München31987, S. 54.
  28. Schroer aaO, S. 590.
  29. AaO, S. 580.
  30. Reinhard Schmidt-Rost: Trost oder Theodizee?; in: Michael Nüchtern (Hg.): Warum lässt Gott das zu? Kritik der Allmacht Gottes in Religion und Philosophie, Frankfurt/M. 1995, S. 92.
  31. Gerhard Sauter: Was heißt: Nach Sinn fragen?, München 1982, S. 163.
  32. AaO, S. 61.
  33. Vgl. aaO, S. 35.
  34. AaO, S. 92.
  35. W. Sparn aaO, S. 247.
  36. Nipkow: Grundfragen, aaO, S. 64.
  37. Nipkow: Erwachsenwerden, aaO, S. 88.
  38. Gerhard Schunack: Anthropologie der Hoffnung bei Paulus. Menschliches Dasein "im Fleisch" und als "neues Geschöpf"; in: B. Dressler (Hg.): Der bedrohte Mensch. Zeitkritische Impulse christlicher Anthropologie (Arbeitshilfen Gymnasium 5), RPI Loccum 1993, S. 40.
  39. Susanne Heine: Kinder fragen nach Wahrheit; in: Lutherische Monatshefte 9/1995, S. 4.
  40. Nipkow aaO, S. 60; vgl. Werner Brändle: Das Ende der Theodizeefrage?; in: Nüchtern aaO, S. 67.
  41. Nipkow aaO, S. 59.
  42. Hartmut von Hentig, zit. bei Hollenstein, aaO, S. 123.
  43. Hollenstein aaO, S. 124 (durch mich B. D.)
  44. Carl-Friedrich Geyer: Das Übel und die Allmacht Gottes; in: Nüchtern aaO, bes. S. 38ff.; vgl. auch Werner Ritter: "Gott, der Allmächtige" - Religionspädagogische Grundsatzüberlegungen zur Problematik eines theologumenons; in: AfdeRaG I/95, Erlangen 1995, S. 31ff.
  45. So auch Sauer aaO, S. 90.
  46. Schroer aaO, S. 588.
  47. Johan Baptist-Metz, zit. in: G. Bartelt/ M. Weber: Dem Leid zum Trotz (Netzwerk Religion und Ethik in der Sek. II, hrsg. v. R. Bergold u.a., Hildesheim o. J., S. 54.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/1996

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