Werteerziehung? Eine Zumutung an die Schule

von Bernhard Dressler

 

Es ist merkwürdig: Je stärker sich das Gefühl wachsender sozialer Kälte aufdrängt, je bedrängender die Erfahrungen gesellschaftlicher Desintegration auf den Gemütern lasten, desto penetranter trübt ein moralisierender Tonfall den öffentlichen Sprachgebrauch ein. Der allgemeine Pragmatismus des "SichDurchwurstelns", der überall an die Stelle selbstbewusster und zukunftsträchtiger Handlungsmaximen getreten ist, kontrastiert scharf mit den moralischen Vibrationen, ohne die keine TalkShow und keine Bundestagsrede, kein Partygespräch und fast keine Predigt länger auszukommen scheinen. Die Nation versucht, aus dem Gemeinschaftsgefühl des ritualisierten Abscheus vor rechtsextremen Gewalttaten etwas von der verlorengegangenen Wärme wieder herauszuschlagen und gibt dabei die nüchterne Bemühung um einen zivilen Konsens resigniert auf. Mit der Klage über Sittenverfall und Werteverlust wird eine neuerliche "geistigmoralische Wende" vorbereitet. Gefordert wird nunmehr "Werteerziehung". Der Schule wird allgemein zugemutet, eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung dieser Forderung zu spielen. Sie soll jene gesellschaftlichen Brüche wieder reparieren, die doch im Lamento über Werteverlust eher vernebelt als offengelegt werden. Wo aber die Diagnose so unscharf ist, wird auch die Therapie erfolglos bleiben abgesehen davon, dass die Schule schon immer überfordert wurde, wenn ihr von Politik und Gesellschaft die Aufgabe eines sozialmoralischen Reparaturbetriebes zugeschoben wurde.

Es ist eine vertrackte Modernisierungsfalle, in die die Schule zu tappen droht, wenn sie sich der Forderung nach Werteerziehung beugt. Was in den immensen gesellschaftlichen Umbrüchen, deren Zeitzeugen wir sind, verloren geht, sind ja nicht in erster Linie "Werte", sondern soziale Bindekräfte und verhaltensstabilisierende Selbstverständlichkeiten. Nicht Sitten, Tugenden, moralische Normen brechen weg, sondern die lebensweltlichen Rückhalte, die die Beschwörung von Sitten, Tugenden und moralischen Normen überflüssig machten, solange ihre Integrationskraft fraglos wirkte. Die Forderung nach der Wiederherstellung von Werten ist aber umso wohlfeiler (um nicht zu sagen: verlogener), je mehr sie als Begleitmusik eines rasanten Modernisierungsschubes intoniert wird, in dem alle Lebensverhältnisse verflüssigt werden. Wer in Sonntagsreden Werte beschwört, hat ihnen in der Regel im politischen und ökonomischen Alltag zuvor den Boden unter den Füßen weggezogen. Wo ein RheinMainDonauKanal die Idylle des Altmühltals brutal durchschneidet, wird mit der Forderung nach "Heimatliebe", gar nach "Ehrfurcht vor der Schöpfung" noch nicht einmal Folkloreersatz geboten. Wo dem "Wirtschaftsstandort Deutschland" mit noch mehr Effizienz und Mobilität das Verbot der Feiertagsarbeit geopfert wird, klingt die Klage über den Verlust an Familienleben, an Treue und Gemeinschaftsgeist reichlich hohl und anachronistisch. Wo durch die Privatisierung öffentlicher Medien das Geschmacksdiktat der Einschaltquoten durchgesetzt und die Qualitätsmaßstäbe dem Profitkalkül ausgeliefert wurden, sollte über die Verrohungswirkung von Sex und Gewalt auf Bildschirmen gefälligst geschwiegen werden.

So gesehen, kann eine "Werteerziehung" gar nicht gegen die Dynamiken ankommen, die hinter dem diagnostizierten "Werteverfall" aufzudecken wären. Eben darin liegt eine Gefahr: Dass die Modernisierungsprozesse munter forciert werden können, dass die Durchökonomisierung unserer Lebensverhältnisse unwiderstehlich weiterläuft, dass die technischen Grenzen der Machbarkeit immer weiter ausgedehnt werden und dass die moralischen und kulturellen Folgekosten dieser Prozesse noch als demagogisches Spielmaterial zur Konservierung eben jener Strukturen eingesetzt werden können, denen die Zerstörungsdynamiken auflagern.

Nun ist ein Missbrauch von Werten noch kein Argument gegen ihre Geltung. Zu fragen wäre also genauer, von welchen Werten und welchen Geltungsansprüchen die Rede ist, wenn nach Werteerziehung gerufen wird. Dass neuerdings wieder in Mode gekommene Begriffe wie "Leistungs und Opferbereitschaft", "Treue", "Fleiß", "Heimatliebe" so altmodisch klingen, ist ja noch kein Gegenargument. Interessant ist, dass es heute immer häufiger als anstößig gilt, im Zusammenhang mit solchen Werten von "Sekundärtugenden" zu sprechen als plädiere man mit diesem Urteil jeweils für das Gegenteil, für Eigennutz, Untreue und Faulheit. Tatsächlich geht es aber darum, dass diese Tugenden niemals an sich einen Wert darstellen: Sie sind immer funktional auf ein Handlungsziel bezogen und nur in einem solchen Zusammenhang moralisch zu qualifizieren. D.h. aber, dass sie immer auch für üble Zwecke instrumentalisiert werden können. Der Satz, dass mit Sekundärtugenden auch Konzentrationslager geführt werden konnten, ist nach wie vor richtig. Und weiterhin gilt auch, dass sich für solche Tugenden nur motivieren lässt (sofern sie nicht auf ebenfalls moralisch indifferente Weise als blinder Konventionsdruck wirken), wer sich zuvor für grundlegendere, übergreifendere Zielsetzungen gewinnen ließ. Könnten solche Ziele aber nicht wiederum Werte sein, z.B. die Grundwerte unserer Verfassung? erneut sind Zweifel angebracht: Weil für den Grundwertekatalog des Grundgesetzes allgemeine Anerkennung und Achtung einzufordern ist, muss er weltanschauungsneutral sein. Der Preis für die uneinschränkbare Geltung dieser Grundwerte ist folglich ihre inhaltliche Vagheit und/oder ihr formaler Charakter. Als regulative Normen repräsentieren sie nicht Werte gelingenden sozialen Lebens, sondern regeln den Streit um politischgesellschaftliche Ziele bzw. ziehen diesem Streit Grenzen. Das Urteil, was konkret unter gutem Leben zu verstehen sei, bezieht seine Kriterien jedenfalls nicht aus allgemein verpflichtenden Grundwerten.

Nun fällt auf, dass in den verschiedenen "Grundwerte"Debatten, die in den Programmkommissionen der großen Parteien ja schon vor dem lauten Ruf nach Wertevermittlung stattfanden, die Frage nach Wahrheit keine Rolle spielt. Der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel sieht in diesem Sachverhalt ein Indiz dafür, dass es sich beim Begriff "Wert" um einen Gegenbegriff zur "Wahrheit" handelt.1 Jüngel hält diese Einsicht für so zentral, dass er dem gesamten dritten Band seiner "Theologischen Erörterungen" den irritierenden Titel "Wertlose Wahrheit" gibt.2

Man muss sich vergegenwärtigen, dass das scheinbar so pastoralgravitätische Wort "Wert" seinen Ursprung durchaus nicht in der Sphäre bewahrenswerter Kulturgüter hat, sondern im nüchternberechnenden Geschäft des Tauschhandels beheimatet ist. Es ist ein konstitutiver Begriff des Marktes: Der Wert ist der Bestimmungsgrund des Preises. Durch ihren quantifizierbaren Wert werden Gegenstände allererst als Waren austauschbar. Ihre Tauschbarkeit liegt ja nicht in ihren stofflichen Eigenschaften, auch nicht in ihrer individuell unterschiedlichen Nützlichkeit, sondern darin, dass alle Waren sich auf ein tertium comparationis, ein allgemeines Wertäquivalent beziehen lassen. Das ist, um einem Missverständnis vorzubeugen, nichts Anrüchiges hier soll keiner Fundamentalkritik des Geldes als dem allgemeinen Wertäquivalent das Wort geredet werden; niemand von uns könnte ohne die Geltung von Marktmechanismen zivilisiert leben. Aber es kommt auf Unterscheidungen an, darauf, wie tief die Mechanismen ökonomischer Kalküle in unser Leben hineinreichen sollen. Deshalb muss daran erinnert werden, dass Sachen Wert haben. Problematischer ist es schon, dass auch Arbeit Wert haben kann und zwar als ihrerseits wertschaffende Lohnarbeit. Jedes Urteil, das von daher auf den arbeitenden Menschen übertragen wird, ist eine Grenzverletzung und macht den Menschen der sich im Arbeitsverhältnis bekanntlich "verdingt" insgesamt zur Sache. Personen haben keinen Wert, sondern Würde und Würde lässt sich nicht verwerten. Das Gefühl einer Unstimmigkeit, einer problematischen Schieflage trügt nicht, wenn von jemandem das geht nie ohne gönnerhaften Unterton gesagt wird, er sei ein "wertvoller Mensch". Diese Redeweise ist bei genauem Bedenken nicht weniger obszön als wenn von "Schülermaterial" gesprochen wird.

Allerdings wird im Zuge einer alle Poren der Gesellschaft durchdringenden Ökonomisierung die Sphäre der Tauschgerechtigkeit immer mehr zum Ersatz für die Wahrheitsfrage. Und das Vordringen der "Wertedebatte" ist dafür ein Symptom. Wahrheit wird zunehmend irrelevant. Interessant ist hingegen, was wirksam, was effektiv, was wertvoll ist. Die Rede von den Werten, zu denen wir zurückzukehren haben, ist deshalb so impertinent, weil sie hinter dem Gestus des Bewahrens und kultureller Erbschaftssicherung ihre Komplizenschaft mit den Kräften und Wirkmechanismen verbirgt, die moralische Urteile von Wahrheitsansprüchen abkoppeln.

Sofern mit der Klage über Werteverlust und mit der Forderung nach Werteerziehung nicht nur gedankenlos über scheinbar auf der Hand liegendes schwadroniert wird, kann bei der sogenannten "materialen Wertethik" eine Begründungshilfe gefunden werden, die sich mit respektablen philosophischen Autoren wie Max Scheler und Nicolai Hartmann verbindet. Ohne hier in eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser moralphilosophischen Konzeption eintreten zu können3, ist es angesichts der Verfänglichkeit der Wertedebatte auch bei Theologen und Religionspädagogen doch angebracht, kurz und pointiert zu sagen, dass die "materiale Wertethik" jedenfalls nicht mit christlicher Ethik vereinbar ist. Im Gegenteil: Wie bei kaum einer anderen philosophischen Gesprächslage ist hier die Unterscheidung zwischen Evangelium und Gesetz angemessen. Die Wertethik unterstellt, dass es moralische Werte "an sich" gebe, die unabhängig von menschlichem Handeln existieren.4 Dass es im Raume der Realität immer auch zu Wertkonflikten kommen kann, ficht diese Position nicht grundsätzlich an. Gut ist für sie auf jeden Fall nur dasjenige Handeln, das einen Wert realisiert.

Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehen diejenigen am Opfer des Raubüberfalls vorbei, die dafür bekannt sind, dass sie gesetzestreu sind, wir könnten wohl aus heutiger Perspektive sagen: dass sie "Werte" vertreten, ja verkörpern. Dass Jesus von einem Samariter erzählt also von einem Abweichler, einem, der aus dem religiösen Konsens herausfällt , er habe angehalten und unter Gefahr geholfen, stellt nicht nur die Bigotterie der Etablierten bloß. Unterstrichen wird damit, dass auch in dieser Geschichte dem, der unter die Räuber gefallen ist, keine WertEthik weiterhilft. Auch hier gilt: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Und dass Jesus im Verlauf der Geschichte die Frageperspektive "Wer ist mein Nächster?" stillschweigend um 180o wendet ("Wem kann ich Nächster sein?"), lenkt zusätzlich von einer wertorientierten Frage (Wer steht mir nah? Wer ist meiner Hilfe wert?) zu einer situativen Frage: Was kann ich tun? Damit stellt sich immer auch die Frage nach dem, was unser Handeln motiviert und ermöglicht, was uns der Angst, selbst unter die Räuber zu fallen, begegnen lässt. Dass Hilfe den Ausgeraubten, den Erniedrigten, den Beleidigten zukommt, ist keine Frage, für die Werte in Anschlag zu bringen sind. Es handelt sich um eine Selbstverständlichkeit. Ähnlich das Märchen von der Frau Holle: Die Goldmarie verwirklicht doch keine Werte, wenn sie den Apfelbaum schüttelt und das Brot aus dem Ofen holt. Im Gegensatz zur Pechmarie hat sie aber einen unverstellten Blick auf die Selbstverständlichkeiten der Welt, eine aufmerksame Wahrnehmungsfähigkeit für jene Appelle an unser Handlungsvermögen, die keiner näheren Begründung bedürfen.

Nicht, dass wir das Gute erst mit einer Denkanstrengung ermitteln müssen, ist das Problem, vielmehr: "Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich" (Röm 7, 19). In der Frage nach der Kraft, die uns aus unserer sündigen Verkrümmung in uns selbst befreien kann, sieht das Neue Testament das ethische Grundproblem aufgeworfen. Im Evangelium von Jesus Christus wird uns diese Kraft als die zuvorkommende Liebe Gottes bezeugt. Es ist Gottes liebevoller Blick, mit dem er sich zu seiner Kreatur hinabbeugt, der uns Menschen als seine Kreatur wiederum zu jenem aufmerksamen Blick der Anteilnahme befähigen kann, wie ihn auch die Goldmarie auf die Welt richtet. Vor den Geboten des Dekalogs wird an Gottes Befreiungshandeln beim Auszug aus Ägypten erinnert, vor den Antithesen ("Ich aber sage euch...", Matth5, 21ff.), vor den Rigorismen der Bergpredigt, die alle moralischen Selbstgefälligkeiten bloßstellen, wird in den Seligpreisungen (Matth 5,1ff.) an das erinnert, was unserem Handlungsvermögen immer schon vorausgeht. Die etwas plakative Formulierung, dass der "Indikativ" der Heilszusage Gottes dem "Imperativ" der moralischen Forderungen vorausgehe, trifft durchaus den Kern der neutestamentlichen Ethik ohne dass damit gesagt ist, dass situative Klärungen, Entscheidungen in Zielkonflikten, die Überprüfung von Handlungsfolgen nicht außerordentlich schwierig sein können. Aber davon unberührt bleibt, dass nicht Werte das Handeln der Christen leiten, sondern allein die aus der Wahrheit Gottes kommende Liebe. Auch von der Liebe gilt, dass sie keinen Wert hat. Dilige et quod vis fac liebe, und tue was du siehst: So fasst Augustinus die Summe seiner ethischen Reflexion zusammen. "Schau hin, und du weißt", formulierte Hans Jonas den gleichen Gedanken in der Gegenwart neu. Dem Hinschauenkönnen geht freilich die Erfahrung voraus: Selbst liebevoll angeschaut worden zu sein. Liebevoll handeln zu können setzt die Erfahrung voraus, mit Liebe behandelt worden zu sein. Im Lichte dieser Erfahrung, die sich je und je neu in unseren einzelnen Lebensgeschichten aufdrängen kann, deutet die Bibel die Beziehung Gottes zu all seinen Geschöpfen. Diese Erfahrung schließt ein, dass ich mich nicht dazu entschließen kann zu lieben. Als intentional angesteuertes Gefühl stellt sich Liebe nicht ein und zwar die erotische Liebe zwischen zwei Geliebten ebenso wenig wie die Agape, die geschwisterliche Liebe der tätigen Anteilnahme. Jede Liebe muss aufgeschlossen werden durch die Erfahrung der Liebe Gottes.5 Im Lichte dieser Erfahrung "können alle Selbstverständlichkeiten ihre Selbstverständlichkeit endgültig einbüßen oder aber auch umgekehrt neu gewinnen. So oder so das christliche Handeln wird auf jeden Fall das Gute selbstverständlich tun. Es wird zwar im Blick auf die Frage, wie es, wo es und wem es Gutes tun kann, höchst bedacht und reflektiert verfahren. Aber im Blick auf seine eigene Sittlichkeit ist es völlig unreflektiert. Gutes Handeln ist im Horizont christlicher Wahrheitserfahrung an der Güte seines Handelns, an seinem Wert, schlechthin uninteressiert. Es reklamiert die Güte der guten Tat nicht."6

Die Frage nach Werten darf sich nicht an die Stelle schieben, an der es allererst darum geht, Menschen für die Erfahrung der Liebe Gottes aufzuschließen was ja nicht zuletzt heißt, Menschen selbst mit liebevoller Achtung zu begegnen und allen jenen Verhältnissen entgegenzuarbeiten, in denen Menschen von der Erfahrung der Liebe Gottes abgetrennt sind. Im übrigen handelt es sich hierbei auch um ein Gebot der Klugheit wir können wissen, dass kein Werteappell die Tiefenschichten des Hasses erreicht, mit dem fremde Menschen, vermeintliche Feinde, verachtet, beleidigt, gequält werden. D.h. nicht, dass haßerfülltem Handeln nicht in den Arm gefallen werden muss, dass ihm nicht mit Strafe gewehrt werden muss. D.h. aber, dass es ein Kampf gegen Windmühlenflügel wäre, jenen massiven, bedrohlichen Desintegrationserfahrungen, die gegenwärtig Haß und Bosheit in vielen Menschen wecken, mit der bloßen Erinnerung an Werte und der Erziehung zu Werten entgegenzutreten. Hätte dieser Irrtum nicht so bittere Folgen, wäre es fast zum Lachen, so naiv (wo nicht berechnend) erscheint die Wiederbeschwörung der Werte bei Licht. "Anders formuliert: Durch moralische Aufrüstung und durch moralische Selbstverwirklichung gewinnt das menschliche Handeln die fundamentalen Selbstverständlichkeiten nicht zurück, die es in solchen Vorhaben als problematisiert eingesteht und deren Verbindlichkeit doch gerade vorausgesetzt wird."7

Dass Gewalt verwerflich ist, gehört zu diesen Selbstverständlichkeiten, die gewissermaßen gefährlich plausibel sind. Denn über der Evidenz, mit der die Liebesbotschaft des Neuen Testamentes Gewaltfreiheit postuliert, wird oft vergessen, dass es sich dabei um eine religiöse Botschaft handelt und nicht um einen moralischen Appell. Begegnung mit Religion bedeutet immer auch Begegnung mit dem Heiligen, dem Unverfügbaren, das nicht mittels moralische Regeln einholbar ist. Um die Liebesbotschaft nicht zum Verhaltensprogramm zu degradieren, ist in der Religionspädagogik die Widersprüchlichkeit zu entfalten, in die wir Menschen uns mit der Liebe verwickeln: Liebessehnsucht stößt immer auch auf liebloses Verhalten, Verheißungen reiben sich an der armseligen Gegenwart. Dass wir vor Gott als "Sünder und Gerechtfertigte zugleich" qualifiziert sind, gehört zu dieser Widersprüchlichkeit. Daran zu erinnern setzt auch das Nachdenken über Verhaltensanforderungen und Handlungsregeln ins Recht. Anderenfalls wäre Religion nur da möglich, wo das Denken aussetzt. Reflexionsfähigkeit bewahrt vor einem Wechselbad von Frustration und Begeisterung, wenn sie sich den Ambivalenzen unserer Lebenswelt stellt. Richtig: Religion ist stets mehr als ein "Reden über etwas". Aber die denkende Bemühung um das, was die biblische Liebesbotschaft uns ermöglichen will, bewahrt davor, an die Stelle alter glatter Antworten neue glatte Antworten zu setzen. Und zu den allzu glatten Antworten auf die Probleme unseres Zusammenlebens gehört die Forderung nach Werteerziehung.

 

Anmerkungen

  1. Eberhard Jüngel: Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die "Tyrannei der Werte"; in: s. Anm. 2.
  2. Eberhard Jüngel: Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens; Theologische Erörterungen III, München 1990.
  3. Vgl. Jüngel, a.a.O., S. 99ff.
  4. Ein solcher Platonismus mag katholischen Ohren weniger anstößig klingen, insofern es der katholischen Theologie gelingt, sich naturrechtliche Denkfiguren anzuverwandeln, die aus einem Sein ein Sollen ableiten. Für Protestanten, zumal lutherischer Herkunft, ist die Voraussetzung, wir könnten mittels des Lichtes der Vernunft das objektive Sein natürlicher Ordnungen erkennen, immer schon problematisch.
  5. Oben hieß es, dass Sekundärtugenden auch dem Bösen dienen können. Es qualifiziert hingegen die Liebe, das sie niemals dem Bösen dienen kann. Und so wenig ich mich zur Liebe entschließen kann, so sehr kann ich mich durchaus zu Sekundärtugenden wie Treue und Fleiß entschließen. Freilich: so berechnend und unmoralisch ein Wissen ohne Liebe sein kann, so fehlgeleitet kann zuweilen die Liebe ohne ein Wissen sein. Erst belehrte Liebe wird in komplexen Handlungssituationen das Gute und Richtige erkennen.
  6. Jüngel, a.a.O., S. 108.
  7. a.a.O., S. 107.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/1994

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