Dienstagmorgen in einer Grundschule am Rande der norddeutschen Tiefebene: Soeben hat die Religionslehrerin nach der ersten Pause mit dem Unterricht in der vierten Klasse begonnen. Plötzlich erschrickt sie. Ein Beben scheint den ganzen Raum zu erfassen, ein unglaubliches Getöse, einem Gewitter gleich, bewegt sich in Sekundenschnelle von der Tür, vorbei an der Tafel und den ersten beiden Reihen, zu einem Platz in der vorletzten Bank. Dabei handelt es sich bei der sich scheinbar ankündigenden Katastrophe lediglich um Sven, der fünf Minuten zu spät zum Unterricht kommt. Sven gilt als hyperaktives Kind.
Situationen wie diese häufen sich in der Schule. Schulpädagoginnen und -pädagogen geraten dadurch zunehmend an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit. Sie erleben, dass sie mit ihren bewährten Mustern, mit Kindern umzugehen, nicht weiterkommen. Im Gegenteil, alles Gültige scheint zu zerfließen und sich in Nichts aufzulösen. Eine bis dahin gelebte, erprobte und für gut befundene Pädagogik steht in Frage. Gefühle von Wut, Verzweiflung und Schuld sind die Folge, und erfahrene Pädagoginnen und Pädagogen werden genötigt, sich einzugestehen, dass sie nicht mehr weiter wissen. Das gilt verstärkt für Religionslehrerinnen und -lehrer, sind sie es doch, die aufgrund des ethischen Hintergrundes und der Freiheit ihres Faches scheinbar über mehr Möglichkeiten verfügen, ein geordnetes Zusammenleben zu vermitteln und zu erproben.
Die Verhaltensmuster hyperaktiver Kinder lassen sich unschwer beschreiben: Sie bewegen sich zu viel, zu schnell, zu hastig und das alles mit viel zu großem Kraftaufwand. Nach kurzer Zeit sind sie völlig in Schweiß gebadet. Alles verläuft bei ihnen hyperdynamisch, maßlos und ungestüm. Sie stehen immer "unter Dampf", sind ständig "auf Achse" und sind weder in der Lage abzuwarten, stillzusitzen oder stillzustehen, noch ihre Bewegungen willentlich zu verlangsamen. Sie bevorzugen simple taktilhaptische "Anfass-Aktivitäten" und meiden differenzierte motorische Übungen. Hyperaktive Kinder haben eine Vorliebe für primitiv-archaische Bewegungsmuster wie Rollen, Trudeln, Kippeln, Zappeln, Hüpfen, Rutschen usw. Es fällt ihnen schwer, ein normales Handlungstempo einzulegen. Immer und überall fallen sie auf, weil sie nicht über die Fähigkeit verfügen, sich den Interaktionsforderungen der Umwelt anzupassen.
Hyperaktive Kinder werden ständig mit Reizen überflutet, weil sie nicht wie andere Menschen in der Lage sind, wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden. So kann die Spinne in der Ecke des Klassenzimmers dazu führen, dass die anderen im Unterricht dargebotenen wichtigeren Dinge nicht ins Bewusstsein gelangen lassen. Passivität kann diesen Kindern dabei keineswegs unterstellt werden. Sie erleben alles - auch ihre Fehler - intensiver als andere. Das bedeutet, dass sie darunter leiden, nicht genauso gut zu funktionieren wie andere auch. Bei allem Bemühen ist ihnen ein ständig testiertes Ungenügen gewiss.
Obwohl vielfach angenommen, handelt es sich bei der Hyperaktivität keineswegs um ein neues Phänomen. Kinder, die als Charakteristik ihres Lebens eine scheinbar nicht zu bremsende Aktivität und eine übergroße Impulsivität mit in die Schule bringen, gab es schon immer. Bereits 1845 - also lange bevor das hyperaktive Kind in den USA entdeckt wurde - schrieb der Frankfurter Arzt Dr. Heinrich Hoffmann die folgenden Zeilen:
"Ob der Philipp heute still |
Diese bereits im letzten Jahrhundert in einer eher moralisierenden Intention verfasste und als Erziehungshilfe gedachte Geschichte des "Zappelphilipp" unterstreicht, dass Hyperaktivität an sich nichts Neues ist. Lediglich die Häufigkeiten und Ausprägungen des Phänomens und vor allem die Reaktionen der Umwelt auf Kinder, die eine scheinbar nie enden wollende Unruhe in Situationen bringen, die Ruhe und Konzentration erfordern, haben sich verändert.
Hier deutet sich - wie schon in der Geschichte von Hoffmann - ein Verständnis von Hyperaktivität an, dass z.B. den traditionellen Darstellungen der Schulmedizin massiv entgegensteht. Diese nimmt als Hintergrund des "Hyperkinetischen Syndroms" (HKS) bzw. der "Minimalen Celebralen Dysfunktion" (MCD) (hirn-) organische Schäden an. Entsprechend dieser Pathologisierung folgt die Medikation. So wurden bereits 1970 in den USA 243 Millionen Tabletten des Medikaments Ritalin (Medikament zur Ruhigstellung überaktiven Verhaltens) verkauft. 50 % davon gingen an Kinder.
Fairerweise muss eingeräumt werden, dass seit Mitte der 80er Jahre einige Mediziner auf andere Erklärungszusammenhänge verweisen. 1984 forderte bereits G. Neuhäuser auf die Diagnose der MCD zu verzichten (vgl.: Neuhäuser, G.: Minimale Celebrale Dysfunktion. In: Diagnose 18, 1984). G. Esser und M. Schmidt kamen 1987 zu dem Ergebnis, dass es sich bei MCD nicht um ein Syndrom sondern um eine Leerformel handelt (vgl.: Esser, G.; Schmidt, M.: Minimale Celebrale Dysfunktion - Leerformel oder Syndrom? Stuttgart 1987). International finden die Begriffe MCD bzw. HKS seit geraumer Zeit keine Verwendung mehr. Hier hat sich der Terminus ADD (Attention Defizit Disorder) durchgesetzt. Mit der Wahl dieses Begriffes deutet sich ein Paradigmenwechsel an, auf den später noch näher eingegangen wird.
Neben medizinischen Reaktionen auf das Phänomen Hyperaktivität gibt es vor allem in der Pädagogik kompensatorische Konzepte zur Beseitigung hyperaktiver Störungen. Dabei wird mit einer Vielzahl unterschiedlicher Angebote versucht, die störende kindliche Unruhe abzustellen. So verstummen in den Kollegien weder die Sportlehrer mit ihrem Ruf nach täglichen Sportstunden, noch Pädagogen, die verstärkt für das Sinnliche in Unterricht und Schule eintreten. Diese Ansätze sollen hier keine grundsätzliche Wertung erfahren, jedoch können Medikation und Kompensation im Kontext des hier diskutierten Problems nur als kurzfristig angelegte, allein den sich gestört Fühlenden gerecht werdende Modelle eingestuft werden. Die Handlungsmotive der "Störenden" werden damit nicht aufgehoben, sondern lediglich für kürzere oder längere Zeit unterdrückt.
Folglich scheint ein Paradigmenwechsel angezeigt. Positionen, die Hyperaktivität als interaktionales Problem beschreiben, werden dem komplexen Problemfeld gerechter. Unruhe tritt immer nur in sozialen Zusammenhängen auf und zwar dann, wenn sich einer oder mehrere durch einen oder mehrere gestört fühlen. Dieses gilt für beide Seiten. Tobt ein Kind für sich allein, stört es keinen. Würde ein Kind in seiner gesunden Entwicklung nicht durch lebensweltliche Einflüsse gestört, würde es keine Störung erleiden. Folgt man dieser Argumentation, so ist Hyperaktivität nicht als im Kind sondern als in der interaktionalen Konstellationen angelegte Störung zu beschreiben. Eine Konzentration der Blickrichtung auf das Kind allein wird als unzureichend abgewiesen. Eine defizitäre subjektbezogene Sicht ist in diesem Rahmen nicht mehr möglich. So skizziert sich Hyperaktivität als aktives und sinnvolles Verhalten des Kindes in gestörten und zum Teil chaotischen Lebenswelten. Wie alle anderen auffälligen Verhaltensweisen von Kindern in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungen, bis hin zu psychischen, psychosomatischen oder körperlichen Erkrankungen ist Hyperaktivität eine "gesunde" Reaktion auf eine "krankmachende" Lebenswelt. Als aktive Ausdrucksform des Kindes ist sie als Problemlösungsversuch zu verstehen, der es dem Kind ermöglicht, im problematischen Chaos seiner Lebenswelt zu überleben. Würde das Kind nicht so reagieren, würde es noch schwerere Beeinträchtigungen und Erkrankungen erleiden.
So ist Hyperaktivität als Störung zu beschreiben, die das Kind über sein Verhalten in Interaktionsprozesse einbringt und die sich sowohl in aktuellen lebensweltlichen als auch in lebensgeschichtlichen Bedingungen gründet. Hier deutet sich ein von R. Voß u.a. vertretener systemischer Ansatz an, der den Blick vom Individuum zum Kontext und vom Defizit zur Kompetenz verschiebt (vgl.: Voß, R.: Das "hyperaktive" Kind: Sinnvolles Handeln verstehen. In: Behinderte, Heft 5, 16. Jahrgang 1993). Traditionelle Etikette, die apriori die Ursache der Problematik dem Kind als dem Gestörten zuschreiben, werden hier zu Konstruktionen der Definitionsmächte und können keine Gültigkeit beanspruchen. Sie nutzen wenig, denn sie versperren durch die diagnostische Auflösung des determinierenden Verhältnisses zwischen Störer und Gestörtem die Zugänge zu den eigentlichen, individuellen Signalen einer gestörten Lebenswelt
Will man sich einer solchen Lebenswelt und damit auch ihrer Geschichte nähern, darf man sich nicht durch idyllische Bilder über die Wirklichkeiten heutiger Kindheiten täuschen lassen. Peter Härtling schreibt: "Wahrscheinlich hat sich noch nie eine Epoche so an Kindern vergangen, wie die unsere. Noch nie wurden Kinder so verhätschelt und so gefoltert zugleich. Noch nie wurden sie so gedrillt und missbraucht, haben so viel erfahren und lernen müssen wie in den letzten 90 Jahren. Sie sind in Entwicklungen hineingestürzt, die sie berauschten und ihr Lebensgefühl steigerten. Zumindest die Kinder in Europa, in den Vereinigten Staaten. Sie ließen sich von der Technik ebenso verzaubern wie von der Technologie, vom Motor ebenso wie vom Computer, von der Geschwindigkeit ebenso wie vom Höhenrausch, von der Lust an rascher Information, am Überfluss gesendeter Bilder ebenso wie von der Ausdehnung des Weltbildes bis in die Galaxis hinein. Reihe ich diese Neuigkeiten aneinander, könnte es den Anschein haben, als sei ein neuer Mensch entstanden. Der Mensch des 20. Jahrhunderts. Der Mensch jenseits der industriellen Revolution. Welch ein Irrtum." (Härtling, P.: Der Anspruch der Kinderliteratur. In: Freundeskreis des Instituts für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M., Jahresgabe 1991, S. 11).
Dieser Irrtum gründet sich heute in einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr durch Leistung, Konsum, Gewalt und Medien charakterisiert. Zunehmend sind Kinder von Armut, Arbeitslosigkeit und Scheidung betroffen. Als Reaktion auf diese Missstände zeigt sich ein "Ersatzverhalten", das im Verweigern, Aussteigen oder zur Zeit im Rechtsradikalismus seinen Ausdruck findet. Weitere Fluchtbewegungen gehen in Richtung Krankheit, sozial auffälliges Verhalten, Kriminalität, Gewalt, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch, Sekten oder Selbstmord. Hyperaktivität scheint ein Spiegelbild unserer ruhelosen, nach Reizen gierenden und hektischen Gesellschaft zu sein. Als Ursachen werden gelegentlich der Wegfall traditioneller Gebundenheit und, damit verbunden, der Mangel an Begrenzung und Halt bereits im Elternhaus genannt. Unterstützt wird diese These durch die Beobachtung, dass in traditionsgebundenen Kulturen, die sich durch strenges Reglement begrenzen bzw. begrenzt werden, Hyperaktivität wesentlich seltener auftritt. So ist zu vermuten, dass es in unserer Zeit, in der neben einer scheinbar grenzenlosen Freiheit kaum tragfähige Werte und Ideale dem Subjekt handlungsleitend zur Seite stehen, vielen Kindern an innerem Halt, an Selbstkontrolle und an Möglichkeiten zur Verhaltenssteuerung fehlt. Für I. Prekop und C. Schweizer liegt eine wesentliche Ursache der Hyperaktivität, in der Unfähigkeit des Kindes, mit dieser Freiheit umzugehen (vgl.: Prekop, I.; Schweizer, C.: Was unsere Kinder unruhig macht. Stuttgart 1991). Lässt man das Kind damit allein, entlässt man es in die eigene Unruhe, den Stress und damit in die Unfreiheit.
Angesichts der beschriebenen Komplexität ist die Pädagogik, und damit auch die Religionspädagogik, trotz der oben angedeuteten Erwartungen und Möglichkeiten, mit der Lösung des Problems allein überfordert. Ein solcher Hinweis hat zunächst einmal entlastende Funktion. Ist die Last genommen, wird neues Handeln und die erneute Übernahme von Verantwortung möglich.
Der Religionslehrerin bzw. dem Religionslehrer kommt in diesem Kontext - und nun komme ich auf die Freiheit und die ethische Fundierung des Faches zurück - wesentliche Bedeutung zu. Ein Religionsunterricht, der die Freiheit des Evangeliums ins Zentrum stellt, hat von der unaufhebbaren Unvollkommenheit des Menschen auszugehen. Das bedeutet zunächst einmal, dem Kind aus einer Position der Gelassenheit eine positive Wertschätzung entgegenzubringen und sich auf dieser Grundlage für es zu engagieren. Diese in heutigen, vielfach der Verzweckung huldigenden, Schulen immer seltener anzutreffende Haltung bewirkt, dass das hyperaktive Kind vor Ansprüchen in Schutz genommen wird, denen es nicht gerecht werden kann. Dieses gilt ggf. zunächst einmal gegenüber der Schulleitung, dem Kollegium und den Mitschülerinnen und Mitschülern, aber auch in besonderen Maße gegenüber den Eltern. Auf diese Weise übernimmt die oder der Unterrichtende Verantwortung, die sich in der Übernahme einer Art Anwaltschaft für das Kind ausdrückt. Die Anwaltschaft äußert sich zum einen darin, dass der Religionsunterricht entsprechend den Bedürfnissen aller Schülerinnen und Schüler strukturiert wird. Diese wie selbstverständlich klingende Forderung ist in Klassen mit hyperaktiven Kindern nicht einfach umzusetzen. Im folgenden sollen daher einige Elemente einer sinnvollen Unterrichtsarbeit mit hyperaktiven Kindern aufgezeigt werden, die insgesamt die religionspädagogische Arbeit bereichern und daher für alle Kinder einer Klasse bedeutsam werden können.
Ausgehend von der Vermutung, dass das hyperaktive Kind vor allem durch sein negatives Selbstbild gekennzeichnet ist, ist die Schaffung eines vertrauensvollen Klimas grundlegende Voraussetzung einer sinnvollen religionspädagogischen Unterrichtsarbeit im beschriebenen Kontext. Dabei wird davon ausgegangen, dass
- jedes Kind ein eigenständiges Wesen ist, dessen Würde zu achten ist,
- jedes Kind nur dann zur Selbstentfaltung kommen kann, wenn es in einem akzeptierenden Beziehungsklima der Akzeptanz lebt,
- jedes Kind Beziehungspersonen braucht, die sein Lernen unterstützen,
- jedes Kind Lernhilfen braucht, die seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten angepasst sind.
Diesen Grundsätzen werden insbesondere klientenzentrierte Ansätze wie z.B. von Rogers gerecht (vgl.: Rogers, C.: Die Kraft des Guten. München 1978). Sie sind sowohl grundsätzlich im Unterricht, als auch in besonderen Angeboten wie z.B. der personenzentrierten Spieltherapie zu verwirklichen (vgl.: Goetze, H. (Hrsg.): Personenzentrierte Spieltherapie. Göttingen 1981). Die bezüglich der Steuerungsfähigkeit im klientenzentrierten Ansatz von Rogers genannten Voraussetzungen treffen auf hyperaktive Kinder nur zum Teil zu. Hier gilt es seitens der Lehrerin bzw. des Lehres bestimmte Strukturierungshilfen einzusetzen. In bezug auf hyperaktive Kinder bedeutet das, dass die Unterrichtsarbeit in einer Umgebung geschieht, die nicht durch exzessive Stimulierung gekennzeichnet ist. Innerhalb einer solchen überschaubaren und kontrollierten Umgebung ist dem Kind von der Lehrerin bzw. vom Lehrer auf der Basis von Wärme, Echtheit und Akzeptanz eine größtmögliche Freiheit zu gewähren, mit deren Hilfe es gelingt, eigene Strukturen zu entdecken. Dazu ist es ggf. notwendig, erst jene Bedingungen herzustellen, die eine warme, akzeptierende Erziehungsatmosphäre ermöglichen. Hier stellt sich ein besonderes Problem, denn aufgrund der in hohem Maße vorhandenen Ablenkbarkeit hyperaktiver Kinder, kann es sein, dass diese die angestrebte persönliche Kommunikation nicht wahrnehmen können bzw. die Umwelt als bedrohlich empfinden. So wird auf dem Hintergrund motorischer Inkoordinationen kaum eine befriedigende Auseinandersetzung mit der Umwelt stattfinden können. In diesem Fall kann der Religionsunterricht spezielle Hilfsmaßnahmen anbieten, die für alle Kinder zu fruchtbaren Unterrichtserfahrungen führen.
Hier sei zunächst auf Beeinflussungsverfahren psychosomatischer Vorgänge (z.B. autogenes Training, Phantasiereisen, progressive Entspannung, Biofeedback und meditative Übungen) verwiesen. Die psychomotorische Unruhe - nicht nur der hyperaktiven Kinder - lässt sich auf diesem Weg abbauen. Als Voraussetzung gilt, dass die Kinder bereit sind, sich auf die verschiedenen Stadien der Entspannungstechniken einzulassen. Aus diesem Grund ist ein sinnvoller Einsatz erst ab dem 10. Lebensjahr angezeigt. Der Vorteil der genannten Methoden liegt darin, dass bei richtigem Einsatz unmittelbar an die Spielfreude des Kindes angeknüpft wird. Eine Vielzahl praktischer Beispiele und Übungsanleitungen hierzu finden sich in verschiedenen Veröffentlichungen von E. Müller (vgl.z.B.: Müller, E.: Hilfe gegen Schulstress. Reinbek 1991).
Weiterhin kommen alle Formen des geöffneten Unterrichts den Bedürfnissen hyperaktiver Kinder in besonderer Weise entgegen. Durch formale, inhaltliche, methodische und institutionelle Offenheit wird allgemeinen Kriterien der Kindzentriertheit am weitesten entsprochen. So können innerhalb geöffneter Unterrichtsstrukturen Freiräume geschaffen werden, die dem übergroßen Aktivitätsdrang des Kindes Raum geben. Disziplinprobleme nehmen dadurch ab, dass das Kind in den Bereichen und mit den Methoden lernen darf, die es sich selbst gewählt hat. Weiterhin kann die Religionslehrerin bzw. der Religionslehrer sich im gezielter den lebensweltlichen Problemen aller Kinder annehmen. Damit wird den Unterrichtenden die Freiheit eröffnet, jedem Kind mit sinnvoll und hilfreich erscheinenden Mitteln zu begegnen. Mit einer derartigen Öffnung des Unterrichts wird der Religionsunterricht in besonderem Maße einem Menschenbild gerecht, dass von der Bibel her bezeugt wird (vgl.: Kuhl, L. (Hrsg.): Nicht immer im Gleichschritt. Loccum 1993. S. 8).
Verhaltensmodifikatorische Interventionen können für hyperaktive Kinder eine weitere Hilfe sein. Sie ermöglichen, dass das Kind lernt, sich zu kontrollieren und seine Aufmerksamkeit auf relevante Reize zu lenken. Schülerzentriertes Lernen wird auf dieser Lernbasis erst ermöglicht. Die Anwendung der Verhaltensmodifikation im Religionsunterricht erfordert allerdings eine Ausweitung des ihr zugrundeliegenden Paradigmas. Diese gründet sich in der ethischen Grundlegung des Religionsunterrichts. Ein Religionsunterricht, der Gruppenaktivitäten fördern will und Vertrauen und einen sozialen Erfahrungs- und Erlebnisraum schaffen will, muss Transparenz und Offenheit in seinem gesamten unterrichtlichen Handeln gewährleisten. Dieses ist durch Mitbeteiligung und Mitbestimmung der Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten. So ist ein kooperatives verhaltensmodifikatorisches Vorgehen angezeigt. Auf diese Weise wird dem Kind vermittelt werden, dass es für sein Verhalten selbst verantwortlich ist und es damit auch selbständig ändern kann.
Welche Formen eines angemessenen Religionsunterrichts letztendlich optimal sind, lässt sich hier nicht entscheiden und ist deshalb von Fall zu Fall neu zu überdenken. Die hier angedeutete Freiheit des Religionsunterrichts ermöglicht, dass er wie kein anderer Unterricht die Möglichkeit hat, das den Schülerinnen und Schülern entgegentretende Curriculum, auf aktuelle Bedürfnisse und Situationen künftigen Lebens zu beziehen. Auf diese Weise reicht die individuelle Lebensgeschichte der Kinder stark in den Unterricht hinein und bindet denselben dicht an wirkliche Lebenssituationen. Das bedeutet, dass hyperaktive Kinder - wie alle anderen Kinder auch - im Religionsunterricht einen Ausgleich zu ihrem schwierigen Alltag finden müssen. Ein Religionsunterricht, der sich an Kinder in chaotischen Lebenswelten wendet, soll auf der Grundlage christlicher Überlieferung bei den Schülerinnen und Schülern
- eine unbelastetere Wahrnehmung eigener Lebenswelten ermöglichen,
- Verständnis und Kritikfähigkeit gegenüber Wert- und Normvorstellungen der Umwelt entwickeln,
- Geduld im Umgang mit Konflikten begünstigen,
- die Motivation zu einem aus christlicher Hoffnung gespeisten verantwortetem Handeln gegenüber dem eigenen Leben sowie gegenüber Menschen und Dingen seiner Umwelt fördern.
So wird deutlich, dass ein Religionsunterricht, der in diesem Kontext die Emotionen und die lebensweltlichen Erfahrungen besonders von hyperaktiven Kindern nicht berücksichtigt und eine reine Stofforientierung (im Sinne einer puren Kenntnisnahme biblischer Geschichten und katechismusartiger Überlieferungen) in den Mittelpunkt stellt, zum Scheitern durch permanentes Gestörtsein verurteilt ist. Hingegen kann ein wie oben beschriebener Religionsunterricht Hilfe zu einem selbstgestalteten, verantwortungsvollen und sinnvollen Leben geben und christliche Hoffnung vermitteln.
Mit einem solchen Handeln - im wie außerhalb des Religionsunterrichts - wird einer in unserer Gesellschaft und verstärkt auch in unseren Schulen weit verbreiteten Haltung widersprochen, die für alles - und so auch für Kinder, deren Unruhe, Impulsivität, Übererregbarkeit und Ungeduld nur noch stört - Zuständigkeiten bei anderen sucht. Diese Bequemlichkeit hat eine Situation geschaffen, in der vor lauter Zuständigkeiten keiner mehr zuständig ist. Aus diesem Labyrinth gibt es nur einen Weg der Befreiung. Er verläuft einzig über den Mut zur persönlichen Verantwortung. Damit meine ich nicht, dass der sich einsetzende Lehrer allein gefordert ist, sondern, dass er (wenn dem Kind keine anderen Hilfestellungen zur Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft des Gestörtseins bereitstehen) vielleicht zunächst der erste ist, der durch eine Veränderung gewohnter Unterrichtsstrukturen Verantwortung übernimmt. Hierin besteht der eine Teil der oben angedeuteten Anwaltschaft. Der andere liegt darin, dass der Lehrer einen interdisziplinären Dialog mit Eltern, Kolleginnen und Kollegen, der Schulleitung, Sonderpädagogen, Schulpsychologen und ggf. einem Arzt initiiert. Die in einem solchen Dialog angelegte Schaffung des Bewusstseins, dass das Verhalten des Kindes auf eine lebensweltliche bzw. lebensgeschichtliche und keine dem Kind innewohnende Störung zurückzuführen ist, kann bereits die Situation zugunsten des Kindes verändern. Allein durch diesen, sich für das Kind entlastend auswirkenden Faktor, wird demselben eine ansatzweise Befreiung aus den Netzen seiner Lebenswelt ermöglicht. In der Konsequenz heißt das, dass dem Kind damit eine unbelastetere Wahrnehmung der Beziehungsstrukturen, in denen es gefangen ist, offen steht. Das bereits in diesem ersten Schritt von der Lehrerin bzw. dem Lehrer aufzubringende notwendige Engagement geht wesentlich über die eigentliche Unterrichtsverpflichtung hinaus. Stellt sich ein Unterrichtender, trotz der in Niedersachsen zur Zeit kultusministeriell verordneten Mehrbelastung, dieser Aufgabe, so gilt es, in einer lebensweltbezogenen Analyse die Wirkmomente der gestörten Situation ausfindig zu machen. Dieses kann nur in einem phantasievollen Prozess aller an der Veränderung Interessierten geschehen. Eine unabdingbare Voraussetzung dabei ist
- die Bereitschaft, die Stärken und Ressourcen des Kindes in den Prozess der Veränderung mit einzubeziehen,
- die Fähigkeit, sich in das Kind, seine Lebenswelt und seine Lebensgeschichte einzufühlen,
- die Überzeugung, dass Toleranz und Geduld für diesen Prozess unerlässlich sind,
- das Wissen darum, dass sich Lebenswelten ändern lassen.
So gilt es, in diesem Prozess nicht nur das Handeln des betroffenen Kind kritisch zu durchleuchten, sondern auch das derjenigen, die mit dem Kind in sozialen Beziehungen stehen. Das bedeutet, dass alle am problemdeterminierten System Beteiligten sich der Rekonstruktion und Analyse desselben stellen müssen. Nur so können subjektive Bewertungsmuster, die dem Kind entgegengebracht werden, aufgebrochen werden. Notwendige Voraussetzung ist die Schaffung von Bewusstsein für bis dahin handlungsbegleitende Kognitionen und Emotionen. Damit wird eine Überprüfung des Verhaltens gegenüber dem betroffenen Kind implizit gesetzt. Ein solches Vorgehen basiert auf der von B. Gröller aufgestellten Hypothese, das veränderte handlungsleitende Kognitionen (und Emotionen) zu neuen persönlichen Einstellungen dem Kind und sich selbst gegenüber führen (vgl.: Gröller, B.: Wege zu neuen Erziehungseinstellungen bei Müttern hyperaktiver Kinder. In: Behinderte in Familile, Schule und Gesellschaft. 5, 1993). Ausgelöst durch die Erweiterung der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten im Kreis der mit dem Kind in sozialen Kontakt Stehenden werden Umstrukturierungen des sozialen Systems vorgenommen. Diese führen wiederum zu Veränderungen der Bedeutungszuschreibungen gegenüber Phänomenen, Beziehungen und Strukturen bei allen am Interaktionsprozess Beteiligten. Im Reflexionsprozess gilt es, diese systemischen Veränderungen zu berücksichtigen, denn sie geben weitere wesentliche Aufschlüsse über zukünftige Wege. Ziel eines so orientierten Vorgehens ist die Eröffnung neuer Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten für eine vom Schüler und seiner sozialen Umwelt als unbefriedigend erlebten Situation.
Insgesamt gilt, dass ein solches Vorgehen ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, Phantasie und Flexibilität erfordert. Dabei wird es im Prozess immer wieder unumgänglich sein, ursprüngliche Konzeptionen zu ändern und zu adaptieren. Die Grundhaltung solchen Bemühens ist wirkliches Interesse am Kind. Interesse heißt wörtlich übersetzt: Drin-Sein, Mit-Sein. Ein solches Mit-Sein nimmt dem betroffenen Kind die Angst vor der Vereinsamung in den Netzen seiner chaotischen Lebenswelt und verhilft zu neuem Leben in einer ungestörteren Welt.
Literatur
- Esser, G.; Schmidt, M.: Minimale Cerebrale Dysfunktion - Leerformel oder Syndrom? Stuttgart 1987
- Goetze, H.(Hrsg.): Personenzentrierte Spieltherapie. München 1978
- Gröller, B.: Wege zu neuen Erziehungseinstellungen bei Müttern hyperaktiver Kinder. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. 5, 1993
- Gröller, B.: Zur Effektivität von kombinierten Entspannungsübungen für Kinder mit Asthma bronchiale. In: Rehabilitation 30, 1991
- Härtling, P.: Der Anspruch der Kinderliteratur. In: Freundeskreis des Instituts für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M. (Hrsg.). Frankfurt 1991
- Jetter, K.: Hyperaktive Kinder - Kinder im Chaos? In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. 5, 1993
- Kiphard, E.J.: Das hyperaktive Kind aus psychomotorischer Sicht. In: Passolt, M. (Hrsg.): Hyperaktive Kinder: Psychomotorische Therapie. München 1993
- Kuhl, L.: Nicht immer im Gleichschritt. Loccum 1993
- Ludewig, K.: Unruhige Kinder. Eine Übung in epistemischer Konfusion. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 40, 1991
- Mattner, D.: Minimale Cerebrale Dysfunktion - Abschied von einem bewährten Konzept. In: Motorik. 11, 1988
- Müller, E.: Hilfe gegen Schulstress. Reinbek 1991
- Neuhäuser, G.: Minimale Cerebrale Dysfunktion. In: Diagnostik. 18, 1984
- Prekop, J.; Schweizer, C.: Was unsere Kinder unruhig macht. Stuttgart 1991
- Reiter-Theil, St.; Eich, H.; Reiter, L.: Der ethische Status des Kindes in der Familien- und Kinderpsychotherapie. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. 42, 1993
- Rogers, C.: Die Kraft des Guten. München 1978
- Voß, R.; Wirtz, R.: Keine Pillen für den Zappelphilipp. Reinbek 1991
- Voß, R.: Das "hyperaktive Kind": Sinnvolles Handeln verstehen. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. 5, 1993
- Voß, R.: Das auffällige Kind im Kontext von Lebenswelt und Lebensgeschichte verstehen und fördern. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. 2, 1991
- Voß, R.: Hyperaktivität. In: Psychologie heute. 6, 1991
- Wynne, L.C. u.a.: The road from family therapie to system consultations. In: Wynne, L.C. u.a.: Systems consultation. A new perspektive for family therapy. New York, London, 1986