Ein ästhetisch, handgeschriebener Brief ist etwas Wunderbares – keine Frage. Aber bedarf dieser nach dem mühevollen Erlernen der Druckbuchstaben im ersten Schuljahr ein weiteres Jahr voller Schwungübungen, Linienpapier und Handkrämpfe?
Würden wir nicht den vollen Lehrplänen und den immer heterogeneren Lerngruppen entgegenkommen, wenn wir auf diesen mühseligen Prozess verzichteten bzw. ihn von den Kindern selbst gestalten ließen?
Würde ich Sie bitten, Agnes einen handschriftlichen Brief zukommen zu lassen, würden Sie feststellen, dass Sie (wenn Sie nicht schon vierzig Jahre lang Grundschullehrerin sind) schon längst nicht mehr so schreiben, wie es die Vereinfachte oder die Lateinische Ausgangschrift von Ihnen verlangen würden. Sie würden eine Mischform aus Druckbuchstaben und verbundenen Buchstaben benutzen – eben Ihre Handschrift.
Diese hat sich im Laufe Ihres Lebens entwickelt, weil Sie Ihre Bewegungen und die Schnelligkeit des Schreibprozesses optimiert haben. Ihre Schrift liest sich also vielleicht wie eine verbundene Schrift, erfüllt aber nicht diese Kriterien. Alle drei bis vier Buchstaben weist ihre Handschrift Lücken auf, die Ihrer Hand im Schreibfluss Entspannung gönnen. Trotzdem schreiben Sie vermutlich einigermaßen flüssig, formklar und formkonstant, nur eben nicht im Sinne einer klassischen Schreibschrift.
Grundschülerinnen und Grundschüler sollen am Ende des Primarbereichs eine gut lesbare Handschrift entwickelt haben, aber auch den PC zum Schreiben verwenden und für die Textgestaltung nutzen können.
Daher plädiere ich für das „Einsparen“ der klassischen Schreibschriften in der Grundschule zugunsten einer komplexeren Medienerziehung schon in den ersten Schuljahren.
Mit der Einführung der Grundschrift ab der ersten Klasse könnte dies ohne viel Aufwand gelingen: Diese Schriftart ist sozusagen darauf ausgelegt, den Umweg über die Vereinfachte oder Lateinische Ausgangschrift einzusparen und den Schülerinnen und Schülern dennoch zu einer individuellen, gut lesbaren Handschrift zu verhelfen. Nur findet dies nicht im Gleichschritt früherer Schwungübungen statt, sondern in einem individualisierten, unterrichtsbegleitenden Prozess. Natürlich ergibt sich für die Lehrkraft dennoch die Aufgabe, die manuelle Schreibästhetik der Kinder im Blick zu behalten, mit der Klasse über Formkonstanz zu sprechen und zu erläutern, wie ästhetisch anmutende Texte gestaltet werden, wenngleich auch in einem deutlich kürzeren Zeitraum. Was dann wiederum Zeit schafft, um die Kinder fit am PC zu machen, der in ihrer zukünftigen Berufswelt eine enorm wichtige Rolle spielen wird. Schon heute kommunizieren Grundschulkinder per WhatsApp und Sprachnachrichten. Ist es da nicht sinnvoll, ihnen den Umgang mit diesen Medien näher zu bringen, sie auf Chancen und Grenzen des Digitalen Zeitalters aufmerksam zu machen, mit ihnen Zehn-Finger-Schreiben zu trainieren, anstatt ein komplettes Schuljahr alle Kinder der Klasse zum manuellen Schönschreiben zu verdonnern?!