Als Michael Stanley Kibbee in Toronto, Kanada seine Krebsdiagnose bekam, wusste er, dass er nicht mehr lange leben würde. Für ihn war klar, dass er sich auf keinen Fall in einem handelsüblichen Sarg bestatten lassen wollte. So begann er, einen Sarg für sich zu bauen. Aber dieses war nicht das Einzige, was er noch vor seinem Tod umsetzen wollte. Sein Sohn, der inzwischen in Australien lebte, sollte eine Möglichkeit erhalten, über alle räumlichen Grenzen hinweg sein Grab zu besuchen. Aus dieser Idee entstand Mitte 1995 der „World Wide Cemetery“ (https://cemetery.org), die erste virtuelle Gedenkstätte im Internet. Die erste „Grabstelle“ wurde von Kibbee selbst eingerichtet. Sie erinnert an einen an Aids gestorbenen Freund. Kibbee starb im März 1997 mit 33 Jahren. Auf seinem Internetfriedhof war er bereits der 93. Tote.
Kurz darauf wurden die ersten Gedenkportale in Deutschland eingerichtet. Ihre Internetadressen lauten: Gedenkseiten.de, StrasseDer Besten.de, Stayalive.com, InFrieden.de, Trauer.de, Kerze-anzünden.de, Viternity.org, InGedenken.de oder gedenkseiten.trauernetz.de (Seite der Evangelischen Kirche im Rheinland).
Auf den ersten Blick ähneln die Portale sozialen Netzwerken. Oft werden sie auch als eine Art „Facebook für Tote“ beschrieben. Sie eröffnen Hinterbliebenen die Möglichkeit, private Angaben zum Verstorbenen sowie Fotos und Videos aus seinem Leben zu veröffentlichen. Wer möchte, kann auch die Stimme des Toten in die persönliche Seite einbringen. Teilweise besteht die Möglichkeit, den Aufruf der Seiten musikalisch zu begleiten. Ebenso können Besucher eine virtuelle Kerze anzünden oder virtuelle Blumen hinterlassen. Die „Grabstellen“ sind individuell gestaltbar und unterliegen keinen Vorschriften durch traditionelle Institutionen, wie dieses z.B. bei Todesanzeigen oder Grabinschriften der Fall ist. Zur Gestaltung greifen viele Gedenkplattformen auf traditionell konnotierte religiöse Symbole und Riten zurück und bilden sie im Netz ab. Gleichzeitig sind die einzelnen Seiten permanent modifizierbar. So können sie jederzeit der aktuellen Gefühlslage der Trauernden bzw. den verschiedenen Stadien der Trauer angepasst werden. Darüber hinaus werden die Erinnerungen aus verschiedenen Perspektiven generiert. Der öffentliche Zugang im Web ermöglicht es allen, Anteil zu nehmen, Trauer auszudrücken und über die Trauer gemeinsam zu kommunizieren. Die in Gästebucheinträgen oder Kondolenzbüchern hinterlassenen Erinnerungsperspektiven stellen verschiedene Facetten der Identität eines Verstorbenen dar. Die Gedenkseiten müssen keinen unmittelbaren zeitlichen Bezug zum Todesdatum des Verstorbenen haben und können auch noch viele Jahre nach dem Tod angelegt werden. Insgesamt stellen die Portale ein Medium des kollektiven Erinnerns bereit, wobei sie keinerlei Einschränkung durch Zeit und Raum erfahren.
Schaut man auf die Möglichkeiten der öffentlichen Darstellung des Verstorbenen, so werden diese sehr unterschiedlich genutzt. Neben den Seiten, die lediglich einen Namen und ein Geburts- und Todesdatum enthalten, werden auf den meisten Seiten besondere Charakteristika des Verstorbenen hervorgehoben. Gelegentlich werden auch die weniger guten Eigenschaften aus Sicht der Hinterbliebenen benannt. Auffallend ist, dass einzelne Einträge die mit dem Verlust verbundenen schmerzhaften Erfahrungen auch noch Jahrzehnte nach dem Tod thematisieren. Hier scheint es kein Ende der Trauer zu geben. Gleichzeitig wird auf vielen Seiten die tief empfundene Liebe zum Verstorbenen zum Ausdruck gebracht. An manchen „Grabstellen“ wird deutlich, dass die intime Beziehung der Hinterbliebenen zum Verstorbenen nicht beendet wurde, sondern virtuell weiter gepflegt wird. Trotz der physischen Abwesenheit werden die Verstorbenen als virtuelles kommunikatives Gegenüber direkt angesprochen. Geburtstage und Feste, wie z.B. Weihnachten, sind Anlässe für eine direkte Kommunikation mit den Toten. Gelegentlich werden die Verstorbenen nach einem Suizid nach Gründen für das freiwillige Ausscheiden aus dem Leben befragt. Häufig wird die Vorstellung eines Weiterlebens nach dem Tod mit Worten wie „Himmel“, „Engel“, „Paradies“ ausgedrückt. Verstorbene werden oft zu Schutzengeln der Hinterbliebenen und behalten so ihre Funktion für deren Leben. Gleichzeitig wird vom Tod häufig als Erlösung und als Übergang in eine neue friedliche Existenz gesprochen.
Welche Rückschlüsse lassen sich aus dem Entstehen virtueller Friedhöfe ziehen? In säkularer gewordenen Zeiten hat die Religion die Funktion einer Zentralinstanz allgemeinverbindlicher Sinndeutungen verloren. Die Kommunikation über Tod und Trauer ist daher schwerer geworden. Entsprechend fehlen Sinnhorizonte, die im Alltag zu passenden Riten und Verhaltensmustern führen und kulturell geteilt werden. Nahmen in früheren Zeiten ganze Dorfgemeinschaften an Sterbe- und Trauerprozessen Anteil, wurden Einzelne in dieser Gemeinschaft begleitet und nicht allein gelassen, beschränkt sich dieses heute häufig auf einen engen Familienkreis. Aber auch hier sind selbstverständliche Rituale und kommunikative Handlungsanweisungen im Umgang mit Tod und Trauer nicht Konsens oder fehlen gänzlich. Infolgedessen suchen Menschen nach Möglichkeiten, ihre höchst individualisierten Formen der Trauer zum Ausdruck zu bringen. Im Internet treffen sie auf eine weltweite Gemeinschaft von Nutzerinnen und Nutzern, und die Chancen, dass die eigenen Formen der Bewältigung eines Todes geteilt werden, vervielfachen sich. Funktionale Defizite der Realwelt werden auf diese Weise kompensiert. Insofern stellen virtuelle Gedenkstätten eine Art Ergänzung zum Umgang mit Tod und Trauer in der realen Welt dar. Eine Verknüpfung zwischen beiden Welten findet gelegentlich dadurch statt, dass an Grabsteinen angebrachte QR-Codes auf die Gedenkseite der Verstorbenen im Internet verweisen.
Dennoch drängen sich Fragen auf: Wer hat eigentlich das Recht, das Gedenken an einen Verstorbenen öffentlich zu machen? Darf jede(r) für jede(n) eine virtuelle Gedenkstätte einrichten? Hat der Verstorbene einem weltweiten Gedenken zugestimmt? Was darf ein Hinterbliebener über einen Verstorbenen veröffentlichen und was verbietet der Respekt vor dem Verstorbenen? Gelten auf virtuellen Friedhöfen postmortale Persönlichkeitsrechte? Ist ein Toter, der viele Einträge im Kondolenzbuch verzeichnet und an dessen „Grab“ viele virtuelle Kerzen angezündet wurden, mehr wert als einer, der nur wenige Besuche an seiner „Grabstelle“ zu verzeichnen hat? Ist eine Trauer im Internet überhaupt vergänglich oder wird sie hier auf Dauer gestellt? Gibt es ein Recht auf das Vergessen von Toten? Was bewegt Hinterbliebene, ihre Trauer weltweit zu veröffentlichen? Was passiert mit dem digitalen Erbe? Was bedeutet es für die Hinterbliebenen, wenn Anbieter die Portale aus Kostengründen plötzlich schließen? Welche Rolle spielt der Ort der körperlichen Beisetzung und welche Rolle der „entkörperlichte“ Ort des virtuellen Friedhofs? Sind virtuelle Friedhöfe ein Indiz für ein gesteigertes öffentliches Interesse am Umgang mit dem Tod und an der Kommunikation von Trauergefühlen?
Insbesondere Fragen wie diese machen die Auseinandersetzung mit dem Thema „Virtuelle Friedhöfe“ spannend. Gleichzeitig können erste Eindrücke eines Besuchs entsprechender Portale Fragen aufwerfen, die bisher im Unterricht nicht thematisiert wurden und wichtige Impulse für ein Nachdenken über Tod und Trauer liefern.
Literatur:
- Jakoby, Nina R.: Die Zeit heilt alle Wunden? Erinnern und Vergessen im Kontext soziologischer Trauerforschung, in: Dimbach, Oliver; Heinlein, Michael (Hg.): Die Sozialität des Erinnerns. Beiträge zur Arbeit an einer Theorie des sozialen Gedächtnisses, Wiesbaden 2014, 183-197
- Jakoby, Nina R.: „Ohne, dass der Tod uns scheidet.“ Intimität in virtuellen Friedhöfen, in: Hahn, Kornelia (Hg.): E<3Motion. Intimität in Medienkulturen, Wiesbaden 2014, 73-91
- Nebelsieck, Simone: Virtuelle Friedhöfe, in: Westerbarkey, Joachim (Hg.): End-Zeit-Kommunikation. Diskurse der Temporalität, Berlin 2010