Sammeln, suchen, fragen, finden - Mit Worten und Schrift gestalten: Religionsunterricht als Schreibwerkstatt

Von Barbara Hanusa und Birgit Nass

 

Der Geist braucht Raum und Zeit, Dinge ruhig und gelassen zu befragen, intensiv zu betrachten, bildhaft zu denken und zu verwandeln. Nur wenn ausreichend Zeit zur Verfügung steht, lässt sich ein Spannungsbogen aufbauen, der von Neugier, Erwartungen und Aktivierung über die Annäherung und Vertiefung zur Gestaltung und Reflexion führt. Die Werkstatt ist ein für ästhetische Aneignungsprozesse reservierter Bereich, der die Hektik des Tagesgeschehens weitgehend ausschließt. Er bietet anregendes, für die Sinne geeignetes Werkzeug und ausreichend Freiraum.“ 1

Religionsunterricht basiert maßgeblich auf der Arbeit mit Texten, Worten, dem Umgang mit der Heiligen Schrift und deren Erschließung. Eine kalligrafische Schreibwerkstatt konzentriert sich auf die ästhetische Wahrnehmung und Gestaltung von Sprache durch Schrift. Kalligraphie, die Kunst des schönen Schreibens, buchstabiert Birgit Nass 2 für sich als einen Prozess der Verlebendigung: „Ich befreie Sätze und Wörter aus Büchern und rücke sie ins Leben.“ Hier lässt sich unter der Überschrift „Verlebendigung durch ästhetisches Unterrichten“ eine Schnittmenge zwischen der Arbeit einer Kalligraphin und der einer Religionslehrkraft bilden. Es geht solchem Unterrichten darum, Eindrücken im Schreiben Ausdruck zu verleihen und so zu einer vertieften Aneignung zu gelangen. Konkret für den Religionsunterricht heißt das, sich religiöse Gedanken, Fragen und Perspektiven gestaltend anzueignen, sie dabei zu prüfen, zu variieren und mit dem eigenen Leben zu verbinden. Die Kommunikation des Evangeliums formt sich in Schrift und Gestaltung. „Religionsunterricht wird ‚ästhetisch‘, wenn er biblisch inspirierte Sehvorschläge ins Spiel bringt, sich als ‚Sehschule‘ versteht, um Welt und Leben anders wahrnehmen zu lernen, wenn er Anregungen gibt, sich auf Gottes liebevollen und parteiischen Blick auf die Welt und die Menschen einzulassen.“ 3

Ein Unterricht, der darauf basiert, mit Worten und Schrift zu gestalten, ist von der Ausstattung her so gut wie voraussetzungslos zu organisieren: Keine Kunstfertigkeit und auch kein endloses Üben oder Abzeichnen bestimmter Schrifttypen sind nötig. Den Ausgangspunkt der Gestaltung bildet die eigene Handschrift.4  Als Material dienen Papiere, verschiedene Stifte, Leim und Lineale. Allerdings benötigt Unterricht in Form einer Schreibwerkstatt eine heterochrone Lernkultur 5, als deren Kennzeichen eine Verlangsamung im Wahrnehmen, im Denken und im Verarbeiten auszumachen ist.6 Nicht Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Verkosten der Dinge von Innen. Diese Einsicht aus dem Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola beschreibt Kernelemente eines Unterrichts, der sich an der bildenden Kraft christlicher Spiritualität orientiert, nämlich an einer Kultur, die geprägt ist von Nachdenklichkeit und Achtsamkeit. Mit der Hand schön zu schreiben und zu gestalten, ist ein verlangsamender Prozess, ein Fremdkörper im Beschleunigungsdruck von Gesellschaft und Schule, eine andere Bewegung als der schnell agierende Daumen auf der Tastatur eines Smartphones. Die Bedeutung des Handschreibens nimmt immer mehr ab; in Finnland beispielsweise soll die Schreibschrift an Schulen völlig abgeschafft werden, weil Druckbuchstaben besser auf die digitale Kommunikation vorbereiten. In Schweden lernen mancherorts ganze Grundschulklassen das Schreiben ausschließlich mit Computertastaturen.7  Dabei weiß man darum, dass sich beim Schreiben mit der Hand andere Wahrnehmungs- und Denkformen entwickeln: Der körperliche Akt des Schreibens ermöglicht ein tieferes Verstehen der Inhalte. Hier spielt nicht nur die Verlangsamung eine Rolle, sondern ebenfalls das physisch-materielle Erfassen. Die Pädagogin Angela Enders betont, das Verdrängen der Handschrift führe dahin, dass Schüler andere Wahrnehmungs- und Denkformen entwickelten: Am Computer könne man immer noch etwas einfügen und nachschieben. Mit der Hand müssten die Kinder von Anfang an planen und überlegen: Was will ich überhaupt schreiben? Das führe dazu, dass Kinder anders denken lernen, nämlich stärker logisch und schlussfolgernd. 8 Kalligraphischer Religionsunterricht arbeitet aneignungshermeneutisch, setzt auf offene Prozesse und lebt von seinem Werkstattcharakter. Dabei bleibt offen, ob der Umgang mit elementaren Materialien in sinnlich-ästhetischer Unterrichtspraxis auf Dauer einen Ausgleich zur Bildschirmwelt schaffen und das Verhältnis zur Wirklichkeit um ein sinnen- und empfindungsreiches Denken erweitern kann.9 Erfahrungen mit Lerngruppen an einem Gymnasium in der Umgebung von Lüneburg haben gezeigt, dass Mädchen wie Jungen der Sekundarbereiche I und II sich gleichermaßen angesprochen zeigten von den Methoden der Schreibwerkstatt, vielleicht gerade weil darin so anders gearbeitet wird, als sie es sonst gewohnt sind.


Vorübungen

Die Kalligraphin Nass arbeitet überwiegend mit Feder und Tinte, was für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht geeignet ist, weil langes Üben und Erproben für die richtige Handhabung des Schreibwerkzeugs notwendig sind. Als Alternative bietet sich ein so genannter Brush-Pen an, ein Fasermaler mit einer pinselähnlichen Spitze. Durch Druckausübung und eine veränderte Führung des Stiftes kann man damit variable Strichstärken von dünn bis dick erzeugen, die durch diesen Wechselstrich ein schönes, kontrastreiches Schriftbild ergeben. Schon bei diesem Sichvertrautmachen mit der Technik und den Stiften kehrt in der Regel eine konzentrierte Ruhe in die Klasse ein. Der Brush-Pen bietet sich für kurze Texte und einzelne Worte an. Für längere Texte verwendet man einen Fineliner und arbeitet mit der eigenen, sorgfältig ausgeführten Handschrift. Es kann sein, dass Schüler*innen ihre eigene Handschrift nicht leiden mögen. Dann kann man ihnen Variationen des eigenen Schriftbilds zeigen: Man kann Buchstaben schräg gestellt schreiben oder sie in die Länge ziehen. Oder sie arbeiten ausschließlich mit Druckbuchstaben, beispielsweise nur mit Versalien. Auch diese Buchstaben können langgezogen werden, dafür zwei Hilfslinien zeichnen, darauf achten, dass die Buchstaben schlank bleiben. Wenn Schüler*innen sich mit ihrer Schrift gar nicht anfreunden können, kann man ihnen eine gestaltete Schriftform an die Hand geben, das „Klammeralphabet“. Exemplarisch werden im Folgenden drei Projekte, in denen mit Schrift gestaltet wird, vorgestellt, die in unterschiedlichen Themenbereichen angewendet werden können.


Projekt 1: Wortsuche

Zwei Substantive werden als Ausgangspunkt genommen, um Gedanken auszudrücken, zu pointieren und zu gestalten. Aus einer vorbereiteten Schachtel mit Zeitungsworten zieht jede Person ein Wort. Dazu bekommt jede Person eine Spalte einer alten, ausgemusterten Bibel (Flohmarkt oder Antiquariat). Hier ist es gut, die Textmenge zu limitieren, sonst fällt die Wahl zu schwer. Der Auftrag lautet: Suche daraus ein Wort, das deine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann werden beide Substantive – das gezogene und das gefundene – nebeneinander geschrieben, Synonyme für sie gesucht und anschließend neu zusammengesetzt. Die Schüler*innen kreieren ein neues Wort, das für sie im Kontext des Unterrichtsthemas Sinn macht, ein Wort, das es – vielleicht – noch nicht gibt. „Einer Idee Gestalt geben oder eine Formgebung selbst entwickeln, heißt immer auch, Unbekanntes erobern, Teile neu zusammenfügen, sie durch innovative Ideen verwandeln oder über persönliche Symbole und Metaphern mit Eigensinn besetzen.“ 10 Sie stellen ihre Worte einander vor und bekommen einen weiteren Schreibauftrag: einen reflektierenden, entfaltenden Text, ein Gedicht, eine Wortcollage schreiben. Aus dem Zeitungswort, der Bibelseite, ihrem Wort und dem Textbaustein wird ein Leporello gestaltet. Die Anleitung dazu findet sich als Download. Frei im Raum hängend dreht es sich, kann von allen Seiten gesehen werden und dokumentiert die Wortfindung, die Auseinandersetzung mit den Worten sowie die Gestaltgebung: Worte werden zum Bild im Raum.


Projekt 2: Gottsammlung

Dieses Projekt orientiert sich an der Portfolioarbeit im Religionsunterricht und versteht das individuelle Schülerportfolio als Lerninstrument zur Aneignung eines komplexen Inhalts, exemplarisch das Thema „Gott und Gottesbilder“. Eine solche Sammlung wird unterrichtsbegleitend über mehrere Wochen erstellt. Felix Winter, der sich intensiv mit Portfolioarbeit im Unterricht und ihrer Leistungsbewertung auseinandergesetzt hat 11, markiert folgende Aspekte: „Die Arbeit und Entwicklung der Lernenden wird anhand ausgewählter Arbeiten dargestellt, reflektiert und bewertet. Das Portfolio ermöglicht ein dialogisches, stärker differenziertes, individualisiertes, förderorientiertes Arbeiten im Unterricht. Es dient der Ausbildung der Reflexion im unmittelbaren Lernzusammenhang. Der Unterricht muss daraufhin geplant und zugeschnitten sein.“12 In der Werkstatt wird hierfür ein einlagiges Heft mithilfe einer Heftbindung hergestellt. Dann wird das Buch gestaltet, der Titel wird auf den Einband gestempelt und geschrieben. Thematische Buchreiter können am Längsrand angeklebt werden, so dass sie halb darüberstehen und mit kleinen Druckbuchstaben beschriftet werden, z.B. für Zitate, Bilder, Meinungen, Bibelverse, Fragen. Ein Tipp von Birgit Nass kann Schüler*innen entlasten: Man braucht keine Angst davor zu haben, in das Buch zu schreiben – wenn etwas schiefgeht, kann man „über-collagieren“. Collage ist eine optimistische Technik. In solchen Portfolios steckt häufig akribische Gestaltungs-, Schreib- und individuelle Denkarbeit, darum sind Präsentation und Wahrnehmung zentral. Im Unterricht zu diesem Projekt haben die Lernenden ihre wichtigste Seite des Portfolios im Kurs vorgestellt und bekamen Rückmeldungen aus der Lerngruppe. Jedes Portfolio wurde seitens der Lehrperson außerdem schriftlich, individuell kommentiert.


Projekt 3: Lebensfragen

Manchmal sind Fragen wichtiger als Antworten. Ein guter Religionsunterricht zeichnet sich dadurch aus, dass darin Raum und Zeit für die Lebensfragen von Kindern und Jugendlichen ist.13 Angeregt von Pablo Nerudas „Buch der Fragen“ 14 lassen wir in diesem Projekt Fragen zum Themenfeld Sterben, Tod und Auferstehung stellen. Die Gedichte geben hierbei eine Strukturierungshilfe für die eigenen Fragen vor, die „Oder-Konstruktion“ Nerudas ermöglicht, dass es so sein kann oder und auch ganz anders.15 Es gibt sie nicht, die eine Antwort. Die Fragen loten das Feld aus, eröffnen den fragenden Raum der individuellen Perspektive auf Welt und lassen unbeantwortbare Fragen zu. U.a. folgende Schülerfragen wurden im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Nerudas Fragen formuliert: Ist nach dem Tod alles vorbei oder fängt alles erst an? Bin ich allein oder sehe ich alle wieder, die ich liebe? Kann ich noch spüren oder ist der Tod kalt? Gehe ich im Universum verloren oder werde ich gefunden? Bin ich gestorben? Bin ich noch Ich, oder habe ich mich aufgelöst? Gehe ich weg oder komme ich an? Ist Leben einzig oder gibt es einen Kreislauf? Bin ich irgendwann lebenssatt oder muss ich mit Hunger sterben?
Die kalligraphische Umsetzung erfolgt in einer Palmblattbindung: Jede Frage bekommt eine zweiseitig gestaltete Karte, die in Reihe aneinandergebunden, auf der Vorder- und Rückseite beschriftet, von zwei betitelten Deckeln gerahmt, den fragenden Raum entfalten.

 

Anmerkungen:

  1. Petra Kathke: Sinn und Eigensinn des Materials, Weinheim 2001, 152.
  2. Vgl. www.birgitnass.de. Vgl. auch Vgl. auch Stephanie Freienstein u.a.: Tagebuchrezepte. Kreatives Schreiben und Gestalten, Holzen 2018.
  3. Georg Hilger: Wahrnehmen und gestalten: Ästhetisches Lernen. In: Münchener Theologische Zeitschrift 51 (2000) 201-210, hier 203f.
  4. Ich erinnere mich sehr gut an meine erste Kursstunde bei Birgit Nass. Vor mir hatten sich in der Zehnerfrauengruppe zwei Grafikerinnen, eine Architektin und zwei Kunstlehrerinnen vorgestellt. Innerlich wurde ich immer kleiner: „Ich bin Theologin und arbeite leidenschaftlich gern mit Worten. Außerdem bin ich Linkshänderin mit einer Schrift, die Menschen manchmal für chinesische Schriftzeichen halten.“
  5. Vgl. dazu Barbara Hanusa: Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit! Zeit als Gestaltungsherausforderung und Bildungsaufgabe in der Schule, in: Martina Kumlehn / Thomas Klie (Hg.): Protestantische Schulkulturen, Stuttgart 2011, 232-245.
  6. Vgl. Georg Hilger: Für eine religionspädagogische Entdeckung der Langsamkeit, in: ders ./ George Reilly (Hg.): Religionsunterricht im Abseits? Das Spannungsfeld Jugend – Schule – Religion, München 1983, 261 – 279, hier 262.
  7. www.epochtimes.de/wissen/der-wert-der-hand schrift-im-computerzeitalter-a2180406.html (zuletzt abgerufen am 11.08.2018).
  8. Angela Enders: Der Verlust von Schriftlichkeit. Erziehungswissenschaftliche und kulturtheoretische Dimensionen des Schriftspracherwerbs, Berlin 2017, 16.
  9. Kathke, Sinn, 13.
  10. Kathke, Sinn, 202.
  11. Vgl. Ilse Brunner / Thomas Häcker / Felix Winter (Hg.): Das Handbuch Portfolioarbeit. Konzepte, Anregungen, Erfahrungen aus Schule und Lehrerbildung, Seelze 2006; Thomas Häcker: Portfolio: ein Entwicklungsinstrument für selbstbestimmtes Lernen, Baltmannsweiler 2006; Johanna Schwarz / Karin Volkwein / Felix Winter (Hg.): Portfolio im Unterricht – 13 Unterrichtseinheiten mit Portfolio, Stuttgart 2008.
  12. Felix Winter: www.friedrichverlag.de/fileadmin/re daktion/user_upload/Special/Portfolio_Schule/Material/Schnellkurs_Portfolio.pdf (zuletzt abgerufen am 06.08.2018).
  13. Vgl. dazu Holger Dörnemann: Kindertheologie – Ein religionspädagogisches Resümee nach zwei Jahrzehnten eines theologischen Perspektivenwechsels, in: MThZ 63 (2012) 83-94.
  14. Nerudas Buch besteht aus 74 durchnummerierten Abschnitten mit je vier bis sechs meist zweizeiligen Fragen, die nicht beantwortet werden sollen, sondern einen fragenden Raum eröffnen. Die Gedichte wurden zuerst 1974, nach Nerudas Tod, auf Spanisch veröffentlicht. Sie stellen seinen poetischen Nachlass dar.
  15. „Ist unser Leben vielleicht ein Tunnel zwischen zwei verschwommenen Lichtern? Oder ist es nicht eher ein Licht zwischen zwei Dreiecken düster? … Besteht der Tod dann aus Nichtsein oder aus gefährlichen Substanzen? … Was tun deine Knochen, wenn sie zerfallen, nehmen sie noch einmal deine Gestalt an? Werden deine Trümmer in eine andre Stimme, in ein anderes Licht umgegossen? … Weißt du auch, woher der Tod kommt, von oben oder von unten?“ Pablo Neruda: Letzte Gedichte, München 1993, 110f.
     

Projekt 1:

Projekt 1: Wortsuche. Aus dem Zeitungswort, der Bibelseite, dem eigenen Wort und dem Textbaustein wird ein Leporello gestaltet. © Barbara Hanusa

Projekt 2:

Projekt 2: Gottsammlung. In der Werkstatt wird ein einlagiges Heft mithilfe einer Heftbindung hergestellt. Dann wird das Buch gestaltet, der Titel wird auf den Einband gestempelt und geschrieben. © Barbara Hanusa

Projekt 3:

Projekt 3: Lebensfragen. Die kalligraphische Umsetzung erfolgt in einer Palmblattbindung. © Barbara Hanusa