Eigentlich haben die beiden bisher nichts miteinander zu tun gehabt: der Ich-Erzähler des Romans und Schiefer; der Privatdetektiv und der ehemalige und – nach eigener Aussage – gescheiterte Lehrer. Über ihre Liebe zum Schachspiel entwickelt sich eine ungewöhnliche Freundschaft. Als Schiefer ein Zimmer seiner Wohnung untervermieten möchte, fällt die Wahl auf Theo Mal, einen Lehrer. Schiefer sieht seine Chance gekommen: „Nehmen wir einen Lehrer, sagte er, einen Lehrer, der aus dem Schuldienst ausgeschieden ist. Um herauszufinden, warum genau er gescheitert ist, ob er der Fehler im System Schule war oder ob das System Schule fehlerhaft ist, wäre doch die Beobachtung eines anderen Lehrers ein legitimes Vorgehen.“
Zwei Wochen später, am 6. August, zog Theo Mal bei Schiefer ein. Ein Samstag. Das Thermometer war die ganze Nacht nicht unter 20 Grad gefallen. Ich war bereits um sechs Uhr wach. Schiefer hatte sich gestern Abend gemeldet. Eine kurze Notiz auf dem Anrufbeantworter: Theo kommt morgen früh. Ich bin vorbereitet. Das war alles. Das Wort vorbereitet hatte er ausgesprochen, als hätte er nicht die Wohnung, sondern die Waffe geputzt. Obwohl ich mir der Lächerlichkeit meiner Handlung bewusst war, hatte ich mir noch spät am Abend einen Platz am Fenster so eingerichtet, dass ich es eine Zeit lang aushalten konnte. Ich ging in die Küche, brühte mir einen Kaffee auf und schaltete das Radio an. Eine Frau gedachte mit betroffener Stimme des Atombombenabwurfs auf Hiroshima vor sechzig Jahren. Danach sang Peter Maffay Über sieben Brücken musst du gehn. Plötzlich das Telefon: Schiefer. Im Radio haben sie gerade des Atombombenabwurfs auf Hiroshima gedacht. Hast du das gehört? Ja, ja, sagte ich, vor sechzig Jahren. Vielleicht hat das was zu bedeuten, sagte Schiefer. Was, wenn ich mich da verrannt habe? Im Grunde ist Theo Mal ja unschuldig. Unschuldig, hörst du, brüllte Schiefer ins Telefon. Entspann dich. Du willst ihn ja nicht umbringen, brüllte ich nun ebenfalls ins Telefon, um ihn zu erinnern, worum es eigentlich ging.
Um acht fuhr ein Umzugswagen eines weltweit operierenden Unternehmens vor Schiefers Haus vor. Zwei professionelle Umzugshelfer in blauen Overalls mit dem Firmenlogo auf dem Rücken sprangen aus dem Führerhaus und ein Mann mit beiger Stoffhose und blauem Hemd. Das musste Theo Mal sein. […]
Zwei Tage später rief ich Schiefer erneut an. Bevor ich etwas sagen konnte, brüllte er in den Hörer: Sie geben ihm eine achte Klasse. Theo wird Klassenlehrer. Hörst du, eine Achte!“ Schiefers Stimme überschlug sich fast. Er schien mir entsetzt und gleichzeitig begeistert darüber zu sein. Ungläubig und auf eine Art fassungslos, dass es so gekommen ist, wie er es sich gedacht hatte. Er schrie: Ich habe es gewusst, dass es so kommt, ich habe es gewusst.
Schiefer, sagte ich, ich höre dich, was aber bedeutet eine achte Klasse? Ist das gut oder schlecht? Ob das gut oder schlecht ist? Auf was für einem Planeten lebst du? Stell dir vor: Du hast all deine Bauern, deine Pferde und Läufer schon verloren, selbst deine Dame und deine Türme sind bereits im Jenseits. Einsam und verlassen steht dein König auf e8, begleitet von einem letzten verbliebenen Bauern auf e7. Um dich herum nichts als schwarz, eine Armada von schwarzen Bauern, Läufern, Pferden und Türmen, die langsam Schritt für Schritt näher kommen, um dich zu vernichten. So ist es, eine achte Klasse zu haben. Und weißt du, wer der Bauer ist, der dich noch begleitet?
Nein, sage ich, weiß ich nicht.
Das ist die Hoffnung, dass es doch noch gut ausgeht. Schiefer fing an zu lachen. Ein brüllendes Lachen, ein verzweifeltes Lachen, das mir einen Stich versetzte, denn es kam mir so vor, als lachte er mich aus.
Ein Lehrer setzt seine Hoffnung auf einen Bauern, auf das schwächste Glied, stell dir vor, dabei taugt ein Bauer doch nur etwas, wenn man sowieso schon am Gewinnen ist. Schiefer schnappte nach Luft. Theo geht in die Schule, sagte ich, er zieht nicht in den Krieg. Bleib auf`m Teppich. Weißt du, was Menschen sind, die glauben, alles sei halb so schlimm?, fragte Schiefer in einem Ton, dass ich froh war, ihm nicht direkt gegenüber zu sitzen. Beneidenswert, sagte er gleich darauf. Dann legte er auf. […]
Eines Nachts, während ich auf der Lauer lag, rief Schiefer bei mir an. Er war wütend. Er fluchte. Erst über Theo, dann auch über mich. Was ich ihm da für einen Hamster ins Haus geholt hätte. Ein Depp sei das, ein Hamsterdepp, ein depperter Hamster.
Ist gut, Schiefer, worum geht`s?
Fastnacht. Heute durften sich die Schüler verkleiden.
Musst du mich deswegen anrufen? Ich arbeite.
Theo ging heute mit Hasenohren in die Schule. Schiefers Stimme klang auf einmal sehr resigniert, fast tonlos sagte er, Theo meinte, es sei gut, wenn man ihn mal von einer anderen Seite erlebe.
Du sagst das, als sei das wieder so ein Kardinalfehler. Erst beklagst du dich, dass er mit Anzug in die Schule geht, jetzt regst du dich über Hasenohren an Fastnacht auf. Vielleicht war alles andere schon ausverkauft. Ich war früher mal Meerjungfrau, weil es keine anderen Kostüme mehr gab.
Theo ist Lehrer, schrie Schiefer in den Hörer. Lehrer, hörst du, in einer achten Klasse. Da werden Hasenohren nicht als Zeichen von Humor empfunden. Ich habe Theo gesagt, er solle das sein lassen, Hasenohren seien was für die Grundschule, er solle auf andere Weise zeigen, dass er ein lustiger Mensch ist. Aber Theo meinte, mit einer roten Pappnase sei es heute nicht mehr getan, ein bisschen mehr Mut müsse man schon beweisen.
Bei dem stimmt doch was mit den Synapsen nicht, sagte Schiefer und legte auf. Zwei Minuten später rief er wieder an: Am Samstag, zum Essen, bei mir.