Menschen wenden uns den Rücken zu, nur ein Kind schaut verlegen zur Seite.
Sie scheinen auf der Kaimauer eines Hafens zu stehen.
Die Gangway steht ungebraucht herum.
Dunkle Wolken im Hintergrund. Davor die Weite des Wattenmeeres.
Die Menschen schauen auf ein Gebilde an der Hafenmauer.
Was es genau ist, wissen wir nicht.
Wir sehen nur Decken und Planen, die etwas verbergen.
Jemand hat sich niedergebeugt. Will er etwas prüfen … auf etwas hinweisen … helfen?
Wir wissen es nicht.
Trostlose Weite … grauschwarz die Wolken am unruhigen Himmel.
Stillstand.
Fragen.
Was ist passiert?
Das Bild stammt aus dem Zyklus „Gnade und Barmherzigkeit“, das der Maler Hermann Buß zu seinen Schlüsselwörtern der 95 Thesen von Martin Luther gemalt hat. Gnade und Barmherzigkeit sind für ihn die zentralen Begriffe des 500 Jahre alten Protestschreibens gegen den Ablass.
Hermann Buß lebt in Ostfriesland an der Nordseeküste.
Das Bild könnte eine Momentaufnahme aus seiner Heimat sein.
„Ein Poller ist für mich Sinnbild der Gnade“, sagt Hermann Buß.
„Und die Persenning (die Planen, mit denen man offene Schiffe und Boote abdeckt) symbolisiert die Barmherzigkeit.“
Der Poller bietet Halt. Die Persenning schützt vor Sturm und Regen.
Hier auf unserem Bild richten die Menschen den Blick auf die Persennings.
Sie stehen in einer freudlosen Umgebung.
Sie schauen verwirrt, fragend, neugierig.
Was hilft?
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ schreibt Paulus im
2. Korintherbrief im 6, Kapitel, Vers 2.
Dass jetzt der Tag des Heils ist, fällt schwer zu glauben,
bei den Nachrichten, die wir hören, und bei dem, was wir sehen.
Und dann dazu das Bild von Hermann Buß, das auch ein Stimmungsbild einer Gefühlslage sein könnte, die uns all zu oft überfällt …
Öde, Leere, Verwirrung, düstere Wolken, Ratlosigkeit überall …
Da von Gnade und Barmherzigkeit zu sprechen, von der Zeit des Heils?
Die Zeit, in der Paulus lebte, war voller Unheil.
Gnadenlose Gewaltherrschaft, Unterdrückung – damals wie heute.
Wenige profitieren auf Kosten vieler.
Und gerade dieser – seiner – Wirklichkeit stellt Paulus im Namen Gottes ein mächtiges „Trotzdem“ entgegen. Trotzdem, in dieser Welt gelten Gnade und Barmherzigkeit Gottes.
Unser Leben können wir nicht mit eigenen Leistungen und guten Ratschlägen erfolgreich gestalten, bei allen Bemühungen leben wir von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, behauptet Luther vor 500 Jahren.
Und das gilt bis heute.
Es ist so, Leiden und Todeserfahrungen sind nicht von unserer Wirklichkeit zu trennen.
Aber Gott ist im Leiden und bei den Leidenden gegenwärtig.
Gott war bei seinem Sohn, als Christus am Kreuz litt und starb.
Es stimmt, Christus hat weder Unrecht noch Gewalt, weder Leid noch Tod aus der Welt verbannt, auch nicht aus dem Leben seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger und schon gar nicht aus seiner Kirche.
Wir selbst sind ein Teil dieser widersprüchlichen Welt.
Es ist ein Missverständnis zu meinen, ein starker Glaube würde uns von allen Leidenserfahrungen und Schreckensnachrichten befreien.
Hineingesprochen in unsere zwielichtige Zeit ruft Paulus damals wie heute:
„Jetzt“ – „hier und heute“ – ist die Zeit der Gnade.
„Jetzt“ – „hier und heute“ – ist der Tag des Heils.
Wir wünschen uns das anders:
Eine frohe Botschaft soll leidensfrei sein, ohne Tod.
Unter Gnade und Heil stellen wir uns eine schmerzfreie, glückliche und gesunde Zeit vor, mit äußeren Erfolgen und Frieden.
Wir wünschen uns idyllische Bilder.
Paulus kennt die unheile und gnadenlose Welt mit Verfolgung, Sklaverei und Kreuzigungen.
Luther kennt die Angst vor Teufel, Tod und Höllenqualen.
Wir sehen heute Unrecht, Ausbeutung, Zerstörung des Lebens.
Wie da leben, weiterleben, überleben?
Paulus vertraut Gott.
In diese widersprüchliche Welt setzt er das Wort von der Gnade, der Barmherzigkeit und dem Gottesheil.
Wir sind nicht heil- und gnadenlos dem Welt- und Zeitgeschehen ausgeliefert.
Schon jetzt gilt die Gewissheit, dass todbringende Mächte nicht das letzte Wort haben.
Schon jetzt gibt es Orte der Gnade und Anhaltspunkte der Barmherzigkeit – mitten in dieser verdorbenen Welt, mitten in das Grau unseres Alltags.
Schon jetzt bekommt unser Sehen eine neue Perspektive:
Da ist die Persenning, die birgt.
Sie ist ein Schutzkleid.
In der endlosen grauschwarzen Küsten- und Hafenlandschaft Zuflucht gewähren.
In der größten Verwirrung ahnen wir, dass nichts so bleiben muss, wie es ist.
Da trauen wir uns, genau hinzuschauen.
Nichts wird beschönigt oder mit Trugbildern verschleiert.
Oft stehen wir dabei auf ungeordnetem, unsicherem Grund.
Unser Christusglaube stärkt uns, unsere Gegenwart anzunehmen und im Handeln in ihr zu bestehen.
Unser Christusglaube hilft uns, nüchtern in unserer Gegenwart zu leben und sie zu verändern – durch Beten und Tun des Gerechten.
Wir erleben die Gegenwart als verantwortungsvolle Stunde Gottes mit uns …
Wer aus der Gegenwart flieht, flieht die Stunden Gottes.
Gottes Wort an uns heißt:
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“ – Was immer auch ist und geschieht.