Was machen die Mädels? – Was machen die Jungs? Ein lyrisch-musikalisches Spiel

Von Ursula Remmers und Johanna Stukenbrook

 

Ein lyrisch-musikalisches Spiel

Wie streiten die Mädels?“ – „Wie lieben die Jungs?“ – „Wie ziehen sich die Mädels an?“ – „Wie spielen die Jungs?“ – „Wie sprechen die Mädels?“ … Im Wechsel rufen ein Junge und ein Mädchen diese Fragen in den Raum. Für die Buxtehuder Kinder einer 3. Klasse ist dies ein Anlass, beim Thema Mädchen und Jungen unterschiedliche Verhaltensweisen zu beobachten und sie zu imitieren. Wenn die Mädchen das Fußballspiel der Jungen simulieren, amüsieren sich die Jungen darüber: „So kickt doch kein Junge!“ Wenn die Jungen sich als Mädchen zanken, übertreiben sie maßlos, ziehen sich gegenseitig an den Haaren und kreischen. Die Mädchen staunen über die verrückten Jungen.


Die Idee

Bei unserer gemeinsamen Theaterarbeit seit 2005 fiel unser Blick immer wieder auf das Verhalten von Jungen und Mädchen. Bei den Proben – vor allem in der Kennenlernphase – beobachteten wir, dass Jungen und Mädchen sehr unterschiedlich auftreten. Jungen rotten sich in Gruppen zusammen, verstecken sich hinter ihren „Kumpels“ und fallen auf. Mädchen sind aufmerksam, kooperieren, suchen Halt bei einer Freundin und passen sich an. Das wollten wir in unserem nächsten Projekt thematisieren.

Die Bestätigung unserer Sichtweise und unserer Einschätzungen zum Verhalten von Jungen und Mädchen fanden wir in den Büchern von Nikolaus Heidelbach „Was machen die Mädchen?“ und „Was machen die Jungs?“, erschienen bei Beltz im Jahr 1993. Die Zeiten haben sich seitdem geändert, die unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten sind jedoch geblieben. Aus den Klassikern der neunziger Jahre kamen im Jahr 2014 neue Bücher in neuem Gewand auf den Markt. Der Illustrator stellt in seiner unübertroffenen, typischen Bildsprache die Jungen und Mädchen von heute vor.

Die Cover sagen alles über seine Protagonisten aus: Tuschelnde Mädchen erzählen sich ihre Geheimnisse. – Energiegeladene Jungen messen ihre Kräfte. Engel und Teufel führen durchs Alphabet der Namen. Wer ist nun der Engel und wer der Teufel? Das könnte sich der Leser beim Betrachten der Bilder fragen. Nikolaus Heidelbach wurde in kleiner Abwandlung der Titel seiner Bücher der Ideengeber für unsere Produktion „Was machen die Mädels? Was machen die Jungs?“

Ende 2014 kam die Anfrage von Angela Witzheller, Klassenlehrerin einer 3. Klasse der Grundschule Harburger Straße in Buxtehude, ob wir mit den 24 Kindern ein Theaterprojekt realisieren könnten. Da wir ohne jegliche Vorgaben freie Hand hatten, entschieden wir uns für eine Inszenierung zum Thema Jungen und Mädchen. Anfang 2015 sollten die Proben beginnen.

Zunächst mussten die Finanzierung gesichert sein und organisatorische Dinge geklärt werden. Der Schulverein wurde eingebunden, ein Aufführungsort festgelegt, Zeiten im Stundenplan für unsere Arbeit mit den Kindern verabredet. Die Eltern wurden informiert und wenn nötig um ihre Mithilfe gebeten, besonders für den Tag der Aufführung. Sehr aufwändig war die Suche nach Sponsoren. Es gab viele Kontakte, auch aus den vergangenen Jahren. Finanzielle Unterstützung ist bei solchen Projekten unbedingt erforderlich, der Weg dorthin sehr mühsam und nicht immer erfolgreich.
 


Das Theaterprojekt

Der spielerische Umgang mit den Geschlechterrollen, Toleranz für Unterschiede und Gemeinsames standen im Mittelpunkt des Theaterprojekts zum Thema Jungen und Mädchen.

Inhalt und Ziel waren es, die Kinder für geschlechtsspezifische Verhaltensweisen zu sensibilisieren, ihnen Mut zu machen, sich in der Gruppe und auch allein ganz persönlich auf der Bühne zu zeigen. Jeder Junge spielte sein weibliches Gegenstück, die Mädchen schlüpften in ihre Jungenrolle: Marlene wurde zu Marlon, Alex zu Alexandra, Ben zu Benina, Celine zu Collin. Diese Verwandlung wurde durch farbige Stofftubes sichtbar, getragen mal als Gürtel, mal als Rock.

Wie schon bei vorangegangenen Inszenierungen standen Gedichte im Mittelpunkt des Theaterprojekts. Mit einem Fundus alter und neuer Texte wurde die Sammlung „Ich und Du und große Leute“ (Reclam, 2013) als Klassenlektüre eingeführt und begleitete die Arbeit mit den Kindern.
Wir bestimmten die inhaltlichen Schwerpunkte, mussten uns aber auch mit den organisatorischen Dingen befassen. Dabei war die Zusammenarbeit mit der Klassenlehrerin eine große Hilfe und wieder eine positive Erfahrung. Im Kollegium fühlten wir uns gut aufgehoben und fanden in kleinen Dingen Hilfe und Unterstützung. Die Akzeptanz der Elternschaft für das Projekt war uns ein wichtiges Anliegen. Immer wieder begegnete uns die Sorge, dass zu viel Unterricht ausfällt und die Vorbereitungen für Klassenarbeiten und Tests zu kurz kommen. Begeisterte Berichte der Kinder über die Proben und ihr Engagement für das Projekt zerstreuten nach und nach die anfänglichen Bedenken und bestätigten unsere Arbeit.
 


Auf dem Weg zum Stück

Von Februar bis Mai 2015 trafen wir uns einmal wöchentlich mit den Drittklässlern und entwickelten gemeinsam mit ihnen das Programm. Aus einer Vielzahl von Gedichten entdeckte jedes Kind sein Lieblingsgedicht. Sehr begehrt war der Vierzeiler von Frantz Wittkamp:

Ich freue mich, wenn ich dich seh,
ich finde dich so nett,
ich schenke dir mein H und E,
mein R und auch mein Z.

Die kleinen Reclambücher waren immer im Ranzen und begleiteten die Kinder in der Zeit der Proben. Im Fundus entdeckten sie neue Gedichte, tauschten sie untereinander aus und lasen sie sich gegenseitig vor. Der Prozess des Auswendiglernens und der Präsentation war für alle ein besonderes Erlebnis im Klassenverband.

Ein Junge wählte für sich das zweistrophige Gedicht von Hanna Hanisch aus:

Meine zweimal geplatzte Haut

Ich könnte platzen.
Aus allen Nähten könnte ich platzen
vor Wut.
Meine Hände zittern.
Meine Stimme bebt.
Meine Haut tut mir weh von soviel Wut.
Ich fühle mich krank in meiner Haut,
weil du so bös zu mir warst.

Ich könnte platzen.
Aus allen Nähten könnte ich platzen
vor Lust.
Meine Hände winken.
Meine Stimme lacht.
Mein Bauch gluckert von soviel Lust.
Ich fühle mich wohl in meiner Haut,
weil du so lieb zu mir warst.

Ein Mädchen entdeckte für sich ein Gedicht von Regina Rusch:

Einkaufsliste

Ich hätte gerne
ein Säckchen Sterne,
vom Mond ein Stück
und sechs Pfund Glück.

Dann noch zwei Schalen
mit Sonnenstrahlen,
ein Schwung-Rad und
Humor, fünf Pfund.

Pech brauch ich keines,
doch noch ein feines,
kleines Fitzel
Nervenkitzel.

Die Kinder identifizierten sich mit den Gedichten und wählten also vorwiegend Texte aus der Ich-Perspektive aus, wie „Allein“ (Manfred Schlüter) oder „Bin ich der Bräutigam“ (Ute Andresen) und „Mein Ball“ (Josef Guggenmos).

Für die Handlung und Dramaturgie des Stücks erarbeiteten wir geschlechtertypische Verhaltensweisen und geschlechterunabhängige Emotionen wie Freude, Angst, Ärger, Wut, Trauer, Staunen, Erschrecken … Improvisierte Musik und Lieder unterstützten den persönlichen Ausdruck der Kinder. Auf dem Weg zum Stück konnten Spiele und Bewegungssequenzen die Bilder verbinden und ein Ganzes schaffen.


Auf der Bühne

Im Forum Süd in Buxtehude fand dann am 29. Mai 2015 die öffentliche Aufführung statt. Einzige Requisiten auf der Bühne waren zwölf kleine Kästen aus dem Sportfundus. Mit Johann Wolfgang Goethe eröffnete ein Junge den Reigen der Lieder und Gedichte der Jahrhunderte.

Blumengruß

Der Strauß, den ich gepflücket,
Grüße dich viel tausendmal!
Ich habe mich oft gebücket,
Ach wohl ein tausendmal,
Und ihn ans Herz gedrücket
Wie hunderttausendmal!

Die Darsteller waren in dem fast einstündigen Stück konzentriert und präsent. Inhalt und Stimmung der Gedichte und Lieder erreichten in den sieben Bildern ein aufmerksames Publikum. Ihre Lieblingstexte sprachen die Kinder bei ihrem Auftritt allein oder zu zweit. Im Wechselgesang verliehen die Mädchen und Jungen mit dem Frauen- und Männerlied „Wey hai da jaydo-ho“ den weiblichen und männlichen Energien ihre Stimmen. Ebenso energiegeladen präsentierten die Kinder den spanischen Gesang „Yo te daré“ („Ich will dir geben“). Das uralte Liebeslied „Wenn ich ein Vöglein wär“ war eine Aufforderung an das Publikum mitzusingen. Die traditionellen Singspiele wie „Hallo du, nimm diesen meinen Schuh“, „Zum Tanze, da geht ein Mädel“; „Wir schließen das Tor“ lösten bei den Kindern Ausgelassenheit und Heiterkeit aus.

Der Kreis schloss sich mit einem Gedicht von Heinz Janisch. Die Kinder präsentierten in der Gruppe zum Ende der Aufführung das Spiel mit den Worten:

Sonderbar

Vergessen
Verhauen
Versinken
Verlassen
Verraten
Versagen
Sich verlaufen
Sich verschreiben
Sich versprechen
Sich verschätzen
Sich was verrenken

Sich verlieben
 

Für ein wechselhaftes, bewegtes Spiel war das Forum Süd als Spielort mit seinen verschiedenen Ebenen wie geschaffen.

Im Februar 2016 fand im Atheneum Stade das Regionale Theatertreffen Niedersachsen statt. Hier konnten fast ein Jahr später die Viertklässler noch einmal auftreten und ihre große Spielfreude zeigen.
 


Nachwort und Ausblick

Wie bei unseren bisherigen Produktionen ist zu Beginn dieses Projekts mit Ausnahme des Themas alles neu und nichts Konkretes vorhanden. Wir kennen weder die Kinder mit ihren Vorlieben noch das Zusammensein im Klassenverband. Bei unseren Vorbereitungen ist noch offen, welche Texte die Kinder für sich entdecken. Ihre jeweiligen Lieblingsgedichte sind das Gerüst für die Inszenierung. Wir finden passende Lieder und wählen Gedichte aus, bei denen alle Kinder beteiligt sind. Hinzu kommen eigene Texte der Kinder, tänzerische und improvisatorische Elemente in der Bewegung. Und wieder entsteht beinahe von alleine im Laufe der Proben eine Dramaturgie. Von Probe zu Probe entwickeln sich Ideen für Requisiten und Kostüme. Sie unterstützen die Darbietungen der Schauspieler und lenken nicht von ihnen ab. Das kooperative Spiel wird dadurch gestärkt, dass es keine Haupt- und Nebenrollen gibt.

„Die Kinder haben sich verändert“, berichtete die Klassenlehrerin einer 2. Klasse im Anschluss an ein Theaterprojekt. Wir erleben eine Entwicklung der Kinder von der ersten Begegnung zu Beginn des Projekts, während der Proben und bei der Premiere. Dann entlassen wir die Kinder in den Schulalltag. Dass wir mit unseren Inszenierungen etwas erreichen, bestätigt unsere Arbeit und ist jedes Mal eine große Freude. Es ist für uns Spielleiter nach wie vor überraschend und faszinierend, dass aus einer Idee eine bühnenreife Präsentation entsteht – und das gemeinsam mit den Darstellern.

Für das Jahr 2017 gibt es neue Ideen für Lyrikprojekte. Geplant ist eine Inszenierung der Monatsgedichte von Elisabeth Borchers, die der Kölner Komponist Matthias Keul Anfang 2000 vertont hat. Aus Buxtehude kommt für das neue Schuljahr eine Anfrage zu einem Programm mit der Gedichtesammlung „Allerlei Getier“.

Seit über zehn Jahren erarbeiten wir inszenierte Lyrik mit Kindern wie „Kleines Waldtheater“, „Verhext! Verzaubert!“ und Christian Morgensterns „Das große Lalulā“. Auf Anfrage können wir ein Programm zu verschiedensten Themen mit dem Schwerpunkt Gedichte und Lieder der Jahrhunderte entwickeln.

 

Literatur

  • Remmers, Ursula / Warmbold, Ursula (Hrsg,): Allerlei Getier. Gedichte für Kinder, Stuttgart, 2. Aufl. 2013
  • dies.: Ich und Du und große Leute. Gedichte für Kinder, Stuttgart, 2. Aufl. 2013
  • Heidelbach, Nikolaus: Was machen die Mädchen heute?, Weinheim / Basel 2014
  • ders.: Was machen die Jungs heute?, Weinheim / Basel 2014
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