Impulse zu Andreas Steinhöfels Roman „Die Mitte der Welt“
Am 10. November 2016 kam unter der Regie von Jakob M. Erwa „Die Mitte der Welt“ in die deutschen Kinos. Die ZEIT kommentierte: „Ein Blitzeinschlag ist nichts dagegen. So luftig-leicht […] wurde eine schwule Jugendliebe noch nie erzählt“1; bei Spiegel online ist zu lesen: „Andreas Steinhöfels Roman über die erste Liebe eines schwulen Jugendlichen wurde zum Bestseller. Jetzt ist die Verfilmung da – und findet für das Leben in einer engstirnigen Welt besondere Bilder“2; die taz titelt: „Sich ins Leben tasten. Ein viel zu seltener Glücksmoment der Diversität im deutschen Film“3 und NDR Kultur sieht in „Die Mitte der Welt“ eine „Ode ans Unangepasstsein“4.
Andreas Steinhöfels 5 Roman erschien bereits 1998 und machte bemerkenswert früh und überraschend selbstverständlich einen schwulen 17-Jährigen zum Protagonisten. Steinhöfel selbst sieht seinen Roman sogar nicht mehr als Coming-Out-Geschichte, sondern bereits als den „Versuch, einen Schritt weiter zu gehen in Richtung eines neuen Selbstverständnisses schwuler jugendlicher Romanfiguren“6. Zentrales Thema des Romans sei „der Ausbruch […] aus einer auf vielen Ebenen stattfindenden Kommunikationslosigkeit“7. „Mit etwas Glück begibt sich, wer Die Mitte der Welt zu Ende gelesen hat, gemeinsam mit Phil auf eine Reise, die ihn weit über die letzten Seiten des Buches hinaustransportiert. Und deren Ende und Ergebnis ich, der Autor, nicht mehr zu verantworten habe. In dieser Hinsicht ähnelt das Lesen dem Leben: Beides erfolgt auf eigene Gefahr.“8
Die positiven Kritiken des Films gelten in gleichem Maße für die Romanvorlage. Es lohnt, sie zur Hand zu nehmen und mit Schülerinnen und Schülern der Jahrgänge 9 bis 11, die selbst auf der Suche nach der eigenen Identität sind und die das Gefühl des angeblichen Anders-Seins aus unterschiedlichen Kontexten kennen werden, darin zu lesen.
Zentrale Personen
Phil ist der 17-jährige Protagonist des Romans und auf der Suche – nach sich selbst und seinem ihm unbekannten Vater; nach dem dunklen Geheimnis zwischen seiner Zwillingsschwester Dianne und Glass, ihrer Mutter; auf der Suche nach Nicholas, dem verschlossenen und so anziehenden neuen Mitschüler, für den Phil mehr sein will als ein Abenteuer: „die Luft, die Nicholas atmet“.
Dianne ist Phils Zwillingsschwester und im Dorf wie ihr Bruder als „Hexenkind“ verschrien, weil sie angeblich mit Tieren sprechen kann; ihre Begeisterung für Kräuter und Giftpflanzen nährt diese Vorurteile. Sie trägt den Namen Dianas, der Göttin der Jagd, ist die Kämpferin und das Kontrastbild zu ihrem Zwillingsbruder Phil. Dabei bleibt sie stets die Verschlossenere von beiden und trägt mehr als ein Geheimnis mit sich. Ihr Verhältnis zu Glass ist belastet, weil sie als Zwölfjährige die eine Fehlgeburt ihrer Mutter verschuldet hat.
Glass, von ihren Kindern beim Vornamen genannt, weil alles andere spießig wäre, ist eine Kämpferin. Im neunten Monat schwanger hat sie siebzehn Jahren zuvor Amerika verlassen und in Visible ein neues Leben begonnen. Sie ist wegen ihres freizügigen Umgangs mit Männern im Dorf verurteilt, wird andererseits zur Ansprechpartnerin für die Frauen im Ort, die sich von ihren Männern emanzipieren. Glass lebt ihren Kindern konsequent vor, dass sie geliebt und respektiert sind, egal, wie sie leben: „Seid stark und wehrt euch. Wer euch verletzt, dem tut doppelt weh oder geht aus dem Weg, aber lasst euch niemals vorschreiben, wie ihr zu leben habt. Ich liebe euch, wie ihr seid.“9
Kat ist die Tochter des Schulleiters und seit der ersten Begegnung im Krankenhaus im Zuge einer Operation die engste Freundin von Phil. Sie bringt an Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit mit, was ihrem besten Freund in so mancher Situation fehlt. Die Freundschaft wird, als sie Phil mit Nicholas hintergeht, auf eine schwere Probe gestellt.
Nicholas, „der Läufer“ genannt, bleibt dem Leser wenig greifbar. Wohlhabende Eltern, ein schwieriges und nahezu kommunikationsloses Verhältnis zueinander, das offenbar niemals Raum gegeben hat für die sexuelle Identität des Sohnes, eine Unnahbarkeit, die im permanenten Laufen ihren Ausdruck findet – das ist es, was der Leser und im Grunde auch Phil von Nicholas erfährt. Faszination und Verunsicherung bestimmen das Verhältnis zu Phil und die Liebesgeschichte, die sich zwischen ihnen entwickelt.
Tereza hat die Zwillinge auf die Welt geholt und ist seitdem Freundin und Begleiterin der Familie. Sie ist lesbisch und war lange in Glass verliebt, die ihre Gefühle nicht erwidern konnte; seit einigen Jahren ist sie mit ihrer Freundin Pascal glücklich. Tereza ist für Phil in der Suche nach seiner Identität immer wieder Bezugsperson.
Ort, Zeit und Handlung
Der Roman lässt sich weder zeitlich noch räumlich verorten, und das offensichtlich beabsichtigt.10Die Situation des – stets von außen zugeschriebenen – Andersseins gilt durch die Zeiten und der Ort ist dabei austauschbar. „Visible“11 heißt das Anwesen, auf dem die Geschichte spielt. Hier wird „anderes“ Leben sichtbar für die „Kleinen Leute“, wie Glass sie abschätzig nennt.
Der Prolog erzählt, wie die hochschwangere Glass allein per Schiff Amerika verlässt, um nach Europa zu reisen. Nach einer beschwerlichen Weiterfahrt per Zug erreicht sie das Dorf, in dem ihre Tante Stella lebt. Noch bevor sie deren Haus erreichen kann, setzen die Wehen ein. Tereza, die bei Stella lebt, hilft den Zwillingen auf die Welt.
Drei Tage vor Glass‘ Ankunft in Visible war Stella durch einen tragischen Unfall zu Tode gekommen. Und so übernimmt Glass das Anwesen und bleibt.
Die Familie wird schwer heimisch, denn die Menschen im Dorf begegnen ihnen mit Abneigung und Misstrauen. Und daran ist vor allem die emanzipierte und so ganz und gar nicht den moralischen Erwartungen entsprechende Glass schuld. (Im Trailer des Films heißt es: „Was immer ein normales Leben auch sein mag. Phil hat es nie kennen gelernt.“) Dass Phil schwul ist, ist dabei ein Störfaktor neben anderen.
Dianne und Phil haben nur sehr wenige Freunde: Für Dianne gibt es Kora und für Phil ist Kat die engste Vertraute. Der eine Erzählstrang erzählt die Geschichte dieser Familie, der beiden Geschwister, wie sie sich gegenüber den Kindern im Dorf Respekt verschaffen, und des Verhältnisses zwischen Mutter und Kindern, eine Geschichte von Einanderfremdwerden und Zueinanderfinden.
Der andere Erzählstrang lässt den Leser mit Nicholas, Phil und Kat durch die Handlung gehen. Er erzählt von Freundschaft und Liebe, Begehren und Eifersucht, Verrat und Verlustängsten.
Und dann gibt es da zahlreiche Episoden, die in Rückblicken vom Leben und den Menschen in und um Visible erzählen – und immer wieder vom Anders-als-erwartet-Sein.
Gerahmt wird die Handlung durch das Motiv des Reisens, des anthropologischen Grundbedürfnisses nach Aufbruch und der Suche nach der eigenen Identität. Während es zu Beginn des Romans Glass ist, die mit dem Schiff aus Amerika weggeht und ein neues Leben beginnt, ist es im Epilog Phil, der sich mit dem Schiff auf die Reise zurück nach Amerika begibt, um endlich seinen Vater zu suchen.
Eine theoretische Antwort
Möchte man nicht den vollständigen Roman mit den Schülerinnen und Schülern lesen oder schwerpunktmäßig mit dem Film 12 arbeiten und diese Arbeit durch Textpassagen der Romanvorlage ergänzen, bietet sich M 1 als Einstieg an. Die Jugendlichen finden sich hier in einer vertrauten Schul- und Freundessituation, und Kats Fragen, auf die Phil bislang nur eine theoretische Antwort zu geben weiß, sind zentral für jemanden, der sich mit der eigenen (homo)sexuellen Identität auseinandersetzt. Sie sprechen Unsicherheiten und Ängste an, die ein Outing mit sich bringt: Wäre ich so mutig, damit offen umzugehen? Was würden die anderen, deren Urteil mir aus unterschiedlichen Gründen wichtig ist, sagen? Würde sich etwas verändern in unserem Verhältnis? Wie offen und bedrohlich würde ich möglicherweise angefeindet werden?13 Und: Was wäre, wenn ich selbst mich outen wollte, mein Gegenüber das aber verweigert? Könnte und wollte ich dann geheim leben? Was würde das mit mir selbst machen?
Mit den Jugendlichen Ängste einer Outing-Situation zu antizipieren bzw. in Worte zu fassen ist notwendig, um die eigene Haltung und das persönliche Verhalten zu reflektieren und unterschiedliche Perspektiven nachzuvollziehen. Über Phil als fiktive Romanfigur kann das in schützender Distanz geschehen.14
Ängste und Unsicherheiten angesichts des eigenen Outings haben ihre wesentliche Ursache in den Vorurteilen anderer; die Auseinandersetzung mit persönlichen Idealen und dem Selbstbild der eigenen Identität ist häufig erst der zweite Schritt. Für den Prozess des Outings ist damit wesentlich das von außen zugeschriebene Fremdbild bestimmend. Der Eindruck, normativen familiären wie gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen zu müssen, erschwert das Suchen und Finden des eigenen Ich.
Gesellschaftliches Denken kann sich nur dann verändern, wenn der Respekt vor der Vielfalt sexueller Identitäten zur neuen Norm wird, wenn sich Menschen begegnen und Lebensformen selbstverständlich gelebt werden können. Kinder und Jugendliche sind hier, und das wird am Ende von M 1 deutlich, in einer Schlüsselrolle: Sie entscheiden, ob sie lebensfeindliche Vorurteile, die sie bei ihren Eltern und Großeltern erleben können, nicht müssen (!) unreflektiert weiter tragen oder sich eine eigene Meinung bilden. Kat vertritt hier eine pessimistische Ansicht, Phil hofft auf einen Bewusstseinswandel durch Jugendliche, die eigenständig denken und bisherige Urteile kritisch prüfen.
Mit interessierten Schülerinnen und Schülern lohnt es sich, den zu Beginn des Textauszugs erzählten Ausführungen des Mathematiklehrers Händel nach dem Verhältnis von Vernunft und Emotion nachzugehen: Sollte nicht die Vernunft, die Blitz und Donner nicht mehr als Zeichen göttlichen Zorns deutet, dann über die Emotion siegen, wenn behauptet wird, der Zorn Gottes gehe auf den Menschen nieder, der einen Menschen des gleichen Geschlechts liebt? Hier ließe sich – je nach Jahrgangsstufe – ein differenzierter und aufschlussreicher Blick auf den Umgang von Religion(en) und Kirche(n) mit der Vielfalt sexueller Identitäten anschließen.
Die Kleinen Leute
Der Textauszug M 2 15 knüpft an der Vorurteilsproblematik an. Die Szene spielt fünf Jahre zuvor und ist einer der Rückblicke, mit denen Phil sein Leben zu verstehen versucht. Glass und er gehen gemeinsam durch den Ortskern, Glass hat ihrem Sohn kurz zuvor von ihrer Schwangerschaft erzählt. Auf dem Marktplatz vor dem Kirchenportal kommt es zur ersten Begegnung zwischen Phil und Nicholas – ohne dass die beiden miteinander sprechen. Während Phil verunsichert und fasziniert auf Nicholas reagiert, ist Glass die Situation schnell klar, sie winkt Nicholas unbefangen zu und bringt ihren Sohn damit in noch größere Verlegenheit. Diese Textpassage hat in dreifacher Hinsicht eine Schlüsselfunktion:
1. Die Verachtung, die Glass für die Kleinen Leute empfindet, bekommt in dem Moment, in dem sie ihr eigenes Kind als Ziel lebensfeindlicher Vorurteile bedroht erkennt, einen noch schärferen Ausdruck als sonst. Sie trifft stellvertretend einen Mann und eine Frau, die zufällig über den Marktplatz gehen und deren Beschreibung durchaus nicht gängigen Idealbildern entspricht: „Der Körper des Mannes war verwachsen, beim Gehen zog er das linke Bein nach. Das Gesicht der Frau […] schien von einem betrunkenen Puppenmacher aus unpassenden Bauteilen zusammengesetzt“. Glass kommentiert diese beiden als „arme Dinger“ und verflucht die Stadt als „eine verdammte Kloake“. Was dem Leser hier mitleidig erscheint, erweist sich im nächsten Moment als Verachtung über die Doppelmoral genau dieser Personen: „Die Menschen hier kleben seit Hunderten von Jahren aufeinander und halten das für völlig normal. Aber dieselben Menschen werden dich dafür hassen, dass du dich früher oder später in einen Jungen verlieben wirst.“
2. Phil erkennt, dass seine Mutter ihm und seiner Schwester ein anderes Leben vorlebt und möglich macht und sie gemeinsam „eigene Gesetze“ schaffen, „die hier draußen, unter den Kleinen Leuten, keine Geltung hatten“. Dafür ist Phil dankbar, denn er weiß um die Freiheit und um die Achtung, die seine Mutter ihm dadurch entgegen bringt. Bei aller Schwierigkeit, die ihm seine Mutter mit ihrer direkten und spontanen Art bereitet und die wiederum sein Selbstbewusstsein einfordern, erkennt Phil, dass dieses Verhältnis zur Mutter ihn stärkt.
3. Und so gelingt es ihm, sich noch einmal alleine auf den Marktplatz zu begeben und alle „Unsicherheit gegenüber den Kleinen Leuten“ zu vergessen. Für Phil hat sich in dieser Szene etwas in seinem Selbstbild verändert und die Schneekugel, die ihn bisher begleitet hat, tritt zurück hinter „das Gesicht des Jungen mit den leuchtenden Augen“.
Verlorenes
Zu dem Wenigen, das der Leser wie auch Phil von Nicholas erfahren, gehört seine Angewohnheit, Verlorenes aufzulesen, zu Hause sorgfältig in einer Vitrine zu verwahren und eine Geschichte zu diesen Gegenständen zu erfinden. Nicholas lässt Phil, als er ihn zum ersten Mal zu Hause besucht, an seinen Gegenständen und den Geschichten teilhaben. Auf Phils Frage nach den Beweggründen antwortet Nicholas: „Aus Mitleid.“ (M 3) Für Nicholas sind verlorene oder fortgeworfene Gegenstände „ein Sinnbild von Missachtung“, in der Weiterführung von Händels philosophischen Ausführungen zum Schönen in der Welt sei Verlorenes oder Weggeworfenes sogar „weit entfernt von Gott“.
So sehr der Mensch, seit es ihn gibt, in seinem Verhalten Händels kulturgeschichtliche bzw. Nicholas‘ kritische Wahrnehmung immer wieder bestätigt und sich dieser kritische Blick in Perikopen wie Gen 11 spiegelt, so sehr widerspricht biblisches Reden von Gott und dem Menschen als seiner Imago Dei wie auch vom Leben und Handeln Jesu einem den Menschen abwertenden und missachtenden Bild.
Im Kontext dieses Romanauszuges legt sich die Frage nahe, ob Nicholas, der sich in seiner Identität nicht angenommen weiß, sich mit dem Verlorenen und Weggeworfenen identifiziert; ob er in den Dingen, die er findet und aufliest, die Missachtung vergegenständlicht sieht, die andere ihm und den Menschen, die wie er leben, entgegenbringen.
Vitrine 1. Unterstes Fach. Von den drei Schwestern
Der Textauszug M 4 erzählt die Geschichte, die Nicholas einige Jahre zuvor zu der Schneekugel, die Phil bei der Begegnung auf dem Marktplatz verloren hatte, geschrieben hat. Nicholas gibt Phil seine Schneekugel zurück und schenkt ihm die Geschichte dazu. Das Märchen erzählt von einem nicht realisierten Aufbruch und einem ungelebten Leben. Es kann hier mit den drei Schwestern, die so verschieden, aber „doch auch eins“ waren, für die Zerrissenheit eines (jungen) Menschen angesichts des Umgangs mit der eigenen sexuellen Identität stehen.16
„Nun kam es, dass es die mittlere Schwester drängte, die Welt zu sehen.“ Getrieben von der Sehnsucht nach einem Leben außerhalb der zwar schützenden, aber zugleich einengenden Mauern und des hohen Zaunes hofft sie auf ein „Leben jenseits des Krieges“, ein Leben ohne permanente Bedrohung. Dabei sind ihr „Wünschen und Wollen“ so stark, dass der Teppich, den sie webt, statt in die Welt hinauszugehen, am Ende „heller als die Sonne, glänzender als der Mond und funkelnder als die Sterne“ sein wird. Alles das, was hätte sein können, bleibt als Abbild in diesem Teppich, ohne gelebt worden zu sein.
Die jüngste Schwester drängt zum Aufbruch „Geh hinaus, nimm dir, wonach du dich sehnst! Was wirkst du diesen Teppich, wenn doch alles, wonach du begehrst, dort draußen vor der Tür und hinter dem Zaun auf dich wartet?“ Sie erkennt die Sehnsucht der Schwester, ist angesteckt von der Neugierde und Hoffnung auf das, was in der Welt warten könnte – ohne allerdings den Mut zu haben, mitzugehen.
Die älteste Schwester drängt zum Bleiben und warnt vor den Schrecken der Welt draußen: „Dort draußen erwartet dich der Tod. Siehst du nicht den Morast, der den Garten überschwemmt, die tödlichen Speere und Lanzen, die hinter dem Zaun auf dich warten?“ Der Krieg und die Bedrohung der anderen machen es ihr unmöglich und unverantwortlich, die mittlere Schwester ziehen zu lassen. Die Angst vor dem, was Furchtbares geschehen könnte, siegt über jeden Gedanken von Aufbruch und Leben.
Das ungelebte Leben, zu dem die Uneinigkeit der drei Schwestern führt, bleibt nicht folgenlos. Die Stagnation, die eintritt, weil zwei Schwestern bei ihren Positionen bleiben und die dritte sich in das Weben flieht, statt ihrem Herzen zu folgen und ihr wahres Ich zu sein, lässt alle drei an Lebenskraft verlieren. Und steht am Ende die Idee eines wunderschönen und gelungenen Lebens mit der Schönheit des gewebten Teppichs vor Augen, so zerstört die Träne, die die mittlere Schwester endlich weint, als sie erkennt, dass es nun für das eigentliche Leben zu spät ist, nicht nur den Teppich, sondern auch das ganze Haus und schließlich sogar die drei Schwestern. Der letzte Satz des Märchens formuliert einen pessimistischen Blick auf den Aufbruchswillen und den Mut des Menschen: „Und draußen schneite es, denn der Winter hatte Einzug gehalten im Land.“
M 4 bietet somit eine Auseinandersetzung mit den Beweggründen der drei Schwestern sowie den Konsequenzen ihrer Auffassung von „wahrem Leben und wahrer Identität“ an. Nachvollziehbar sind sie alle drei. Lebensförderlich offensichtlich nicht.
Für Phil siegt die Zuversicht der jüngsten Schwester. Am Ende des Romans entscheidet er sich zum Aufbruch – fort von Nicholas, fort von Kat, seiner Familie und Visible und hin zu sich selbst: „Noch immer glaube ich, den Boden unter meinen Füßen schwanken zu spüren, aber ich habe keine Angst mehr davor, zu stürzen. Es ist ein schönes Gefühl. Es ist das Gefühl von Leben in Bewegung.“17
Anmerkungen:
- www.zeit.de/kultur/film/2016-11/die-mitte-der-welt-film-louis-hofmann
- www.spiegel.de/kultur/kino/die-mitte-der-welt-nach-andreas-steinhoefel-besondere-bilder-a-1120561.html
- www.taz.de/!5353205
- www.ndr.de/kultur/film/Drama-Die-Mitte-der-Welt,mitteder welt106.html
- Andreas Steinhöfel: Die Mitte der Welt, Taschenbuch Carlsen-Verlag 2004, 480 Seiten, ISBN 978-3-551-35315-3, 9,99 Euro. Die Mitte der Welt, Filmausgabe: Carlsen-Verlag 2016, 480 Seiten, ISBN 978-3-551-31597-7, 9,99 Euro.
- So Steinhöfel in seinem Nachwort der 2004 im Carlsen Verlag erschienenen Ausgabe, 473.
- A.a.O. 471.
- A.a.O. 464.
- Die Mitte der Welt (2004), 56.
- „Visibles Mauern erheben sich ganz bewusst im Irgendwann und Irgendwo. Die Mitte der Welt sollte, soweit das überhaupt möglich war, eine allgemein gültige und, damit gerade zwangsläufig, zeitlose und ortlose Geschichte erzählen.“ (Nachwort, 471)
- Steinhöfel spielt mit „Visible“ mit Motiven der griechischen Mythologie. Zeus und Latona, eine Titanentochter, sind die Eltern des Zwillingspaares Apollon und Artemis. Latona muss vor der eifersüchtigen Gattin des Zeus fliehen und kann schließlich ihre Kinder auf der Insel Delos zur Welt bringen. „Nun ist delos das griechische Wort für sichtbar, zu Englisch also visible. Einer der griechischen Beinamen des Apollon (der die Toten übrigens die ‚winzigen Leute‘ nennt) ist Philippus und das römische Pendant zu Artemis ist die Jagdgöttin Diana.“ (Vgl. ausführlicher im Nachwort 469-472.)
- M 5 bietet hier das Kinoplakat mit entsprechenden Aufgaben an.
- Die „Sittenwächter in weißen Kapuzen“, von denen Phil spricht, spielen auf den Ku-Klux-Klan an, von dem es auch in Deutschland Splittergruppen gibt. Die Mitglieder dieser sich selbst als konservativ-protestantisch verstehenden Gemeinschaft sind der Überzeugung, die Verfolgung Homosexueller sei Teil von Gottes Plan.
- Bewusst fordert keine der Aufgabenstellungen zu M 1 bis M 5 eine dezidiert persönliche Antwort der einzelnen Schülerin, des einzelnen Schülers ein. Distanz und Nähe zum Protagonisten und zum Thema entscheiden die Jugendlichen damit selbst.
- Sie finden alle Materialien zu diesem Artikel auf der Website des RPI im Download-Bereich unter www.rpi-loccum.de/pelikan. Bitte beachten Sie, dass die Textauszüge aus urheberrechtlichen Gründen nur bis zum 31. Dezember 2017 zur Verfügung stehen.
- Die Schülerinnen und Schüler werden schnell erkennen, dass diese Situation der Zerrissenheit sich auf zahlreiche weitere Entscheidungssituationen eines Menschen übertragen ließe; hier sei der Fokus auf die Frage nach dem (Nicht-)Leben der eigenen sexuellen Identität gelegt.
- Die Mitte der Welt (2004), 451.