Singen ist ein uraltes Grundbedürfnis und kulturelles Erbe der Menschen: Es bringt Lebenslust, macht Spaß, fördert das psychische sowie physische Wohlbefinden und ist Grundlage für jede Art von Musik. In heutiger Zeit erfährt jedoch das Singen in Familie und Gesellschaft eine Veränderung: Es wird immer weniger oder sogar kaum noch gemeinschaftlich gesungen. Um dieser Entwicklung zu begegnen und das Singen in Schule, Freizeit und Familie dauerhaft und nachhaltig zu fördern, habe ich mit einem Unterstützerkreis von Juristen, Finanzfachleuten und Musikern 2007 das Projekt „Klasse! Wir singen“ ins Leben gerufen. 439.000 Kinder und ihre Lehrkräfte haben bisher bundesweit an der Aktion teilgenommen. Bundespräsident Gauck, zahlreiche Ministerpräsidenten und Musiker wie Rudolf Schenker (Scorpions), Anne-Sophie Mutter oder die Wiese Guys haben durch Schirmherrschaften, Patenschaften oder Benefizkonzerte ihre Unterstützung gezeigt.
Das Konzept sieht vor, dass Schülerinnen und Schüler der Klassen 1-7 mindestens sechs Wochen lang zusammen mit ihren Lehrkräften im Unterricht einen vorgegebenen Liederkanon einstudieren und (möglichst) täglich gemeinsam singen. Dieser Liederkanon enthält Spaßlieder, Volksliedgut, Filmmusik, fremdsprachliche Lieder, Lieder zu Integration und Umwelt und vieles mehr, um die ganze Bandbreite unseres Kulturgutes darzustellen und so auch die in vielen Kerncurricula geforderte kulturhistorische Lerndimension mit einzubeziehen. Nach dieser Übephase, die mit unterschiedlichen methodischen Materialien und Hilfsangeboten unterstützt wird, feiern die Klassen mit vielen anderen Kindern der Region vor großem Publikum ein eindrucksvolles Abschlussliederfest in einer repräsentativen Veranstaltungshalle. Die Chöre zwischen 500 und 5000 Kindern werden von einer qualifizierten Band begleitet und durch professionelle Licht- und Tongestaltung unterstützt. So wird dieses Liederfest für die teilnehmenden Kinder zu einem prägenden Ereignis der Schulzeit.
Dem Projekt liegt ein durchdachtes pädagogisches Konzept zugrunde, das die individuellen Bedürfnisse, Kenntnisse und Fähigkeiten der Lehrkräfte und ihrer Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Es ist ein Merkmal unserer Konzeption, dass sie sich nicht nur an die Musikfachlehrer richtet, sondern versucht, alle Klassenlehrerinnen und -lehrer als Multiplikatoren für das gemeinsame Singen mit einzubeziehen.
Singen verbindet
In einer Zeit, in der Effizienz- und Konkurrenzdenken, Reizüberflutung, Stress und Verunsicherung die Lebenswelt der Kinder in besonderem Maße prägen, ist es außerordentlich wichtig, gemeinsam unbekümmert und fröhlich zu singen, ohne auf das Erreichen eines bestimmten Zieles ausgerichtet zu sein. Denn gemeinsames Singen verbindet und prägt den Lebensraum eines Kindes nachhaltig positiv. Durch das soziale Miteinander lernen Kinder Rücksichtnahme, Verständnis und Kooperation, wodurch sich ihre soziale Kompetenz entwickeln kann.
Ein besonderes Merkmal von „Klasse! Wir singen“ ist es, dass alle Kinder, völlig unabhängig von physischer oder psychischer Konstitution, von ethnischer oder sozialer Herkunft miteinander singen. Anders als bei diversen Fernsehformaten wird nicht ein Superstar gesucht, sondern alle Kinder singen gemeinsam – jeder ist gleich wichtig! Durch die sechswöchige Vorbereitungszeit und das Erlebnis des gemeinsamen Liederfestes werden die Klassengemeinschaft und das Selbstvertrauen der Schülerinnen und Schüler nachhaltig gestärkt. Dies erleichtert nicht nur die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund, sondern auch die Inklusion von Kindern mit erhöhtem Förderbedarf oder einer Behinderung. Bei den großen Abschlussliederfesten zeigt sich außerdem die generationenübergreifende Wirkung des Projektes, wenn Jung und Alt gemeinschaftlich singen. Gerade bei alten Kulturliedern wie „Kein schöner Land“ oder „Der Mond ist aufgegangen“ ergibt sich ein wahrlich ergreifender Moment für viele Eltern und Großeltern.
Singen macht schlau
Aber Singen gehört nicht nur zu unserem kulturellen Erbe, sondern bietet gleichzeitig auch die wunderbare Möglichkeit, einen wichtigen Beitrag zu einer ganzheitlichen Ausbildung unserer Kinder zu leisten. Karl Adamek, Deutscher Musiksoziologe, sagt über singende Menschen: „Sie sind durchschnittlich lebenszufriedener und glücklicher, sind ausgeglichener und zuversichtlicher, haben ein größeres Selbstvertrauen, sind häufiger guter Laune und verhalten sich im Durchschnitt sozial verantwortlicher und hilfsbereiter“.1 Singen sei zudem zukunftsweisend, da es die Konzentrationsfähigkeit stärke; damit könne es zu optimalen Randbedingungen für das Lernen in der Schule beitragen.2
Spracherwerb durch Singen
Da sich das Projekt „Klasse! Wir singen“ auch als kulturübergreifendes Singprojekt versteht, wurden als Reaktion auf die gesellschaftlichen Herausforderungen einige Lieder in 16 weitere Sprachen, darunter ins Syrische, Arabische und Albanische, übersetzt. Zudem ist das komplette Elternmaterial in den Migrantensprachen verfügbar. Die Erfahrungen in Sprachlernklassen sind hervorragend. Singen ist ein einzigartiges Mittel zur Völkerverständigung!
Singbewegung in Schule und Familie
„Klasse! Wir singen“ ist in besonderem Maße dafür geeignet, allen Kindern – auch aus Elternhäusern, in denen nicht gesungen wird – das Singen in positiver Weise nahe zu bringen. Dies zeigt sich daran, dass nach der Teilnahme an dem Projekt bereits bestehende Schulchöre großen Zulauf erhielten oder neue Chöre gegründet wurden und in vielen Schulen das Singen zu einem festen Bestandteil des Schulalltages geworden ist. Einschränkend muss man allerdings gestehen, dass dies nur dort langfristig gefruchtet hat, wo kompetente Personen für die Chorleitung/Singleitung zur Verfügung standen. Oft nehmen ganze Schulen teil, die anschließend ein großes auswendig verfügbares Liedrepertoire durch alle Klassen beherrschen. In Verbindung mit den Karaoketracks setzen daher viele Schulen die Lieder auch Jahre später für Einschulungen, Schulfeste oder gemeinsames Singen ein. So bereichert das Projekt den Schulalltag nachhaltig.
„Klasse! Wir singen“ wirkt aber auch in die einzelnen Familien hinein: zum einen über die Mitsing-CD, die jedes Kind erhält, denn so sind die Lieder fast täglich in den Wohnungen präsent und auch Geschwisterkinder und Eltern werden mit einbezogen. Zum anderen wird durch die gemeinsame Teilnahme von Eltern, Großeltern und Kindern am Liederfest eine Art Singbewegung in den Familien ausgelöst, die motiviert, auch weiterhin gemeinsam zu singen. Hier bekommen die CDs in den Autos der Eltern, die ihre Kinder von Termin zu Termin fahren, eine vorher nicht beabsichtigte Wirkmächtigkeit.
Initialzündung für Instrumentalunterricht
Eine weitere Wirkung des Projektes war auch zunächst nicht im Blick. Teilnehmende Kinder haben sich nicht nur für das Singen interessiert (noch nach Jahren werde ich von Jugendlichen oder deren Eltern auf die Teilnahme an den Liederfesten begeistert angesprochen), sondern auch für das Spielen von Instrumenten. Die Band, die nicht nur aus klassischen Popinstrumenten, sondern auch aus Flöte, Oboe, Streichern oder Saxophon besteht, hat Kinder nachweislich so beeindruckt, dass sie anschließend Instrumentalunterricht bei den Musikschulen nachgefragt haben. Dies untermauert die immer wieder zu hörende These, dass das Singen der Ursprung allen instrumentalen Musizierens sei.
Kulturelle Teilhabe
Der vielleicht wichtigste Aspekt dieser basisorientierten Aktion ist, dass es mit ihr gelingt, kulturelle Bildung an bildungsferne Schichten heranzutragen. Zwischen 18 und 40 Prozent der Teilnehmer gehören dazu. Begeistert von den Castingshows im Fernsehen sind bildungsferne Kinder, die gerne singen, oft besonders motiviert und fiebern auf „ihr“ Konzert hin. Diese Motivation ermöglicht auch Fleiß und Ausdauer in der Vorbereitung, die durch das Glücksgefühl des eigenen Konzertes zu Selbstvertrauen wachsen kann. Diese Kinder erleben, wozu sie fähig sind, wenn sie ihre Stimme als Instrument einsetzen können, und singen gerne weiter, wenn es gelingt, ein auf ihre musikalische Sozialisation abgestimmtes Chorangebot anzubieten. Mit ihrer Stimme haben diese Kinder ein Instrument, das unabhängig von den finanziellen Ressourcen des Elternhauses kulturelle Teilhabe ermöglicht. Da sich das Projekt mit Hilfe von Sponsoren nahezu selbst trägt, kann es in allen Bundesländern angeboten werden und in Kooperation mit Projekten vor Ort viel Gutes bewirken.
Anmerkungen:
- Adamek, Karl: Singen ist ein Menschenrecht, in: Verband Deutscher Konzertchöre (Hg.), Chor und Konzert 136 (Jahresausgabe 2014), 02/2015.
- Adamek, Karl: Singen ist zukunftsweisend, in: Il canto del mondo, 3/2009.