Zwei neue Liederbücher sind im vergangenen Jahr für die Arbeit in Schule und Gemeinde herausgegeben worden: „Kommt und singt. Liederbuch für die Jugend“ und „Popkantor Songbook“ (inkl. Doppel-CD). Die Liederbücher sind in der Liedauswahl durchaus unterschiedlich. Wir haben für den Loccumer Pelikan bei den Herausgebern Thomas Ebinger und Til von Dombois insbesondere nach der Rolle der Tradition gefragt.
Thomas Ebinger:
Früher gab es im Religionsunterricht – sicher nicht nur in Baden-Württemberg – verpflichtende Lernlieder. Jedes Kind musste diese auswendig lernen. Ich selbst habe noch als Vikar brav „Jesu geh voran“ mit meinen Grundschülern gesungen und bin dabei wie vom Ausbildungspfarrer gelernt über Tische und Bänke gestiegen. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass dieses Lied gut ankommt und die Kinder es auch bei Beerdigungsfeiern mitsingen können. Lebendige Tradition, auf der Gitarre gepflegt.
Irgendwann wurden die Lernlieder abgeschafft, jeder greift heute zu seinen Lieblingsliedern und legt sie auf den Kopierer. Kallauch und Co. lassen grüßen mit sympathischen und gut produzierten Liedern. Die große pädagogische Freiheit begann und sie hat tatsächlich viele Vorzüge. Nur gibt es beim Singen ein immer größer werdendes Problem: Die Schnittmengen von vertrauten Liedern werden kleiner, schon zwischen verschiedenen Klassen und Konfi- oder Jugend-Gruppen, erst recht zwischen den Generationen. Bibel und Gesangbuch galten einmal als die zwei wichtigsten Bücher eines evangelischen Christenmenschen. Tempi passati. Die gefühlte Halbwertszeit vieler Lieder, die heute gesungen werden, ist dreieinhalb Jahre.
Zumindest in Württemberg wollten wir diesem Trend etwas entgegensetzen. Ausgehend vom Arbeitsbereich Gemeindepädagogik im PTZ Stuttgart entstand die Idee, eine Liste mit Kernliedern zu definieren. Diese 33 Kernlieder wurden 2006 beschlossen, die Idee hat Nachahmer in ganz Deutschland gefunden bis in die Schweiz hinein. Und tatsächlich hat sie orientierend gewirkt: „Das Liederbuch“ (Hg. Gottfried Heinzmann, Hans-Joachim Eißler) bietet genauso fast alle Kernlieder wie das 2015 erschienene Liederbuch für Kinder „Kommt und singt“.
Für die Überarbeitung des Kinder-Liederbuch-Klassikers „Liederbuch für die Jugend“, der noch aus einer Zeit stammt, als die Jugend mit der Konfirmation endete, haben wir uns viele Liederbücher angeschaut und gemerkt, dass die Tradition in ihnen keine besonders große Rolle spielt. Am Ende haben wir uns immer mehr am großen, evangelischen Liederbuch orientiert. Noch enger als bisher ist der Aufbau an das große Vorbild angelehnt. Zu jedem Thema sind klassische Choräle enthalten. Tradition braucht Pflege und Konservation. Das schließt neue Lieder gar nicht aus, aber es beinhaltet die Pflicht, alles aus früheren Zeiten zu prüfen und das jeweils Beste zu erhalten.
Natürlich muss das Alte jeweils neu erschlossen werden. Dafür gibt es in unserem Liederbuch kleine erklärende Texte. Und zu den Kernliedern ist schon 2009 ein umfangreiches Werkbuch zu allen Kernliedern erschienen mit Ideen, wie diese eingeführt und fruchtbar gemacht werden können. Wie die Denkmalpflege hat auch die Liedgutpflege ihren Preis. Ein Buch ist teurer als Kopien. Aber ein Buch kann ein Lebensbegleiter werden, Kopien können das nicht. Ausgebildete Kantoren, die mit Kindern singen, kosten mehr als Ehrenamtliche, die nur CDs vorspielen können. Fortbildungen haben ihren Preis. Sie kosten Zeit und Geld. Aber die evangelischen Kern-Lieder, die Generationen überdauert haben, sind es wert, dass man in sie investiert.
Til von Dombois:
1992 hatte ich ein Aha-Erlebnis. Ich hörte den Song „X“ von Künstler „Y“ und sprang in meinem Kinderzimmer auf und ab, tanzte cool dazu und feierte den Song als etwas wirklich Neues, Aktuelles. Irgendwann hörte ihn ein älterer Verwandter von mir und sagte: „Das ist doch der Song von 1971, in der Tradition der gesamten Seventies-Musikbewegung ist er nicht wegzudenken. Deine neue Version ist ja nur ein Abklatsch des Songs von damals, der war wirklich großes Kino.“ Puh, das sah ich aber damals ganz anders. Die Version von 1971 klang für mich wie eingeschlafene Füße verglichen mit meiner hippen neuen Version.
Zwanzig Jahre reichen, um eine Tradition als Meilenstein mit unumstößlichen Aussagen, überhöhten Inhalten und Alleingültigkeitsmerkmalen zu versehen. Solange es Menschen gibt, die dieser Tradition anhängen oder sie aktiv bis aggressiv vertreten, wird sie weiterleben und ich meine das erst einmal gar nicht negativ.
Traditionalisten verbinden ja sehr positive Erlebnisse mit den von ihnen vertretenen Positionen, so auch mein Verwandter mit seinem Lebensgefühl Anfang der Siebziger.
In der Kirche haben wir ganz unterschiedliche musikalische Traditionen, sie reichen teilweise Hunderte von Jahren zurück, aber auch im 20. Jahrhundert haben sich kirchenmusikalische Traditionen entwickelt.
Die immer noch überraschend munteren Vertreter des Neuen Geistlichen Lieds zum Beispiel, die sich der EKD-Unterstützung stets gewiss sein können und auch nach wie vor alle Kirchentage (wie auch die 500-Jahrfeier mit Angie Merkel & Friends 2017) musikalisch entscheidend prägen, wollen ja nur das Beste für alle: Tolle mitsingbare Lieder, auch mal zum Ü50-Mitgrooven und dem über alles thronenden theologischen Anspruch in Liedtexten.
Nun habe ich mit vielen jungen Songschreibern und -schreiberinnen, Künstlerinnen und Künstlern dieses Jahr ein „Popkantor Songbook” herausgebracht, mit 37 brandneuen, modernen, nachdenklichen und dabei christlichen Liedern zum Selbstsingen und auch einfach Anhören. Und was denken Sie, wie die Reaktion von unseren Musik-Traditionalisten ist? Ich erlebe in Gesprächen darüber eine Mischung aus Unverständnis, interessiertem Nachfragen, Ärger über so etwas in unserer Kirche und stiller Bewunderung. Über allem schwebt hier aber natürlich noch etwas ganz anderes: Angst.
Was, wenn dieser junge freche Typ einen Weg geht, der eigentlich dran ist? Was, wenn er uns diskreditiert in allem, was wir tun? Was, wenn bald die Orgel schweigt und nur noch dieser Einheits-Radio-Bullshit in unseren Kirchen zu hören ist?
Ich gebe hier gern Entwarnung: Die Abschaffung all unserer unglaublich wertvollen musikalischen Traditionen wird nicht geschehen. Was aber sehr wohl geschehen muss, ist eine Hinwendung zu inzwischen mehreren (!) jüngeren Generationen, die musikalisch in der Kirche kein Zuhause finden. Und wir reden hier nicht über die höheren Bach-Töchter, wir reden hier über Menschen aller Bildungsschichten mit ihren Wünschen, ihren Sehnsüchten, ihrem Glauben und dem Wunsch, ihn dort zu leben, wo es am Logischsten wäre: in ihrer Kirche. Niemand von uns kann verantworten, dass wir ihnen den Zugang durch irrwitziges Festhalten an Traditionen erschwert oder sogar in der Konsequenz verwehrt hätten.
So, und jetzt höre ich mir den Song von 1992 gleich noch einmal an und schwelge in der wunderbaren Tradition der Neunziger. Die aktuellen immer gleich klingenden Vier-Chord-Songs auf Spotify kann ja keiner lange ertragen.