Der Philosoph Jürgen Habermas bezeichnete sich bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (2001) bekanntlich als „religiös unmusikalisch“ und verwendete damit ein Bonmot, das von Max Weber stammt. Es erzeugt eine pointierte Verknüpfung von Musik und Religion. Religion bekommt dadurch etwas Spielerisches, die Musik dagegen etwas Spirituelles.
Sicherlich gibt es viele Menschen, die (wie Habermas) wenig Affinität zum Religiösen haben. Ebenso wenig strittig scheint es, dass Musikalität eine Gabe ist, die der eine weniger und die andere mehr in die Wiege gelegt bekommen hat. Dennoch richtet sich der folgende Beitrag nicht nur an besonders Gläubige oder besonders Musikalische, sondern an alle, die Freude daran haben, ungewöhnliche Bezüge zwischen verschiedenen Welten herzustellen, z. B. zwischen der Kunst und dem Wort. Was ist, wenn ein Gedanke plötzlich gemalt wird? Was passiert, wenn eine schöne Melodie unerwartet mit treffender Botschaft unterlegt wird?
Sagen wir es deutlicher: Es geht im Folgenden um das Verhältnis von Musik und Evangelium. Was ist das Evangelische an der Musik und was ist das Musikalische am Evangelium?1 Nota bene: Wir sprechen im Folgenden bewusst von Musik (im Allgemeinen) und nicht zwingend von Kirchenmusik und beziehen uns dabei auf biblische, reformatorische und zeitgenössische Texte.
Was ist das Evangelische an der Musik?
Gehen wir zunächst von der ursprünglichen Bedeutung dessen aus, was evangelisch meint. Evangelisch kommt aus dem Griechischen von eu-angelion, gute, schöne Kunde oder Botschaft. Das deutsche Wort Engel (Bote) stammt daher. Es geht also um Klänge, die nicht aus uns selbst, sondern als Botschaften von außen, ja vielleicht sogar aus einer anderen Sphäre entgegenkommen. Zugleich eignet dem Begriff eu-angelion etwas Ereignishaftes, heute würde man sagen: etwas Performatives, an. Unser Leben wird durch dadurch zum Positiven verändert, vom Schönen bezaubert, in Bewegung versetzt zum Guten hin.
Damit ist nicht gesagt, dass Musik per se göttlich sei. Dies würde christlichem Musikverständnis nicht entsprechen. Musik – und sei sie noch so schön gespielt oder gesungen – kann Staunen und Begeisterung wecken, aber soll nicht selbst zum Gegenstand der Anbetung oder Verehrung werden. Sie ist Gabe, nicht Idol.
Doch der Reihe nach. Beginnen wir phänomenologisch. Die Welt ist voll von Musik. Ein Blatt raschelt im Wind, Bienen summen und Vögel singen. Ja, sogar Fische und Wale im Meer können Töne und Gesänge von sich geben. Luther schreibt: „Ich wollte von Herzen gerne diese schöne und köstliche Gabe Gottes, die freie Kunst der Musica, hoch loben und preisen. […] Denn wenn man die Sache recht betrachtet, so befindet man, dass diese Kunst von Anfang der Welt allen […] Creaturen von Gott gegeben, und von Anfang mit allen geschaffen ist.“2
Dass die Welt klingt, ist ein Geschenk von höchster Stelle, eine Art „Schöpfungsevangelium“.
Vorsichtig interpretiert können wir sagen: Die Schöpfung ist einem aufgeschlagenen Buch vergleichbar. Musikalisch gesprochen ist sie eine zum Klingen gebrachte Partitur, die auf ihren Schöpfer, den göttlichen Komponisten, und seine Weisheit verweist.
Treffend heißt es deshalb in Psalm 19,2: Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes und seiner Hände Werk kündet das Firmament.
Der Dirigent und Musikwissenschaftler Nikolaus Harnoncourt formuliert dazu: „Musik ist ein Rätsel, ein unerklärbares Geschenk aus einer anderen Welt, eine Sprache des Unsagbaren, die aber manchen letzten Wahrheiten und geheimnisvollen Erlebnissen näher kommt als die Sprache der Worte.“3 Die geheimnisvolle Schönheit der Weltenmusik ist also auf Musik im Allgemeinen übertragbar. Jede Art menschlicher Musik lässt etwas von der Phantasie und Weisheit des göttlichen Komponisten erahnen – die kunstvolle Reihe der klingenden Obertöne etwa, aber auch das Zusammenklingen von Tönen in einer Harmonie usw. Die Ordnung und Schönheit solcher Klänge zielt darauf, Menschen zu erfreuen und ihnen die Weisheit des göttlichen Logos (vgl. Joh 1; Weish 7,25-29) sinnlich erfahrbar zu machen. Der Dirigent Bruno Walter sagte einmal: „Ich glaube sogar, dass dem Menschen kein unmittelbarerer Zugang zum Erahnen des Logos und seines Wirkens gegeben ist als durch Musik, die von seinem göttlich schöpferischen und ordnenden Wesen tönende Kunde gibt.“4
Das Evangelische an der Musik ist demnach, dass sie vom Göttlichen Kunde gibt und damit menschliche Wirklichkeit bereichert. Das tut sie nicht zuletzt dadurch, dass Menschen beim Musizieren zu sich und zu anderen finden. Yehudi Menuhin (1916-1999), einer der größten Geiger des 20. Jahrhunderts, schreibt im Vorwort zu „il canto del mondo“, einer von ihm initiierten Initiative zur Förderung des Singens:
„Das Singen ist die eigentliche Muttersprache aller Menschen: Denn sie ist die natürlichste und einfachste Weise, in der wir ungeteilt da sind und uns ganz mitteilen können – mit all unseren Erfahrungen, Empfindungen und Hoffnungen.“5
Singen hilft uns, in der Gegenwart anzukommen und authentisch Gefühle zu erleben und weiterzugeben. Indem wir aufeinander hören, wird die Achtsamkeit aufeinander gestärkt und die soziale Kompetenz, vor allem bei Kindern, gefördert. Studien zeigen auch, dass aktives Musizieren und Singen die Sprachkompetenz stärkt. Musik tut also gut und bildet die Person. Ja, mehr noch, sie macht glücklich. Schon das rezeptive Hören von Musik und noch mehr aktives Singen und Musizieren können enorme Glücksgefühle auslösen. Bei einer einzigen Stunde Singen werden ungefähr dreimal so viele Glückshormone (z. B. Oxytocin und Serotonin) ausgeschüttet wie sonst.6 In kaum vergleichbarer Weise kann so unser vegetatives Nervensystem harmonisiert werden. Über das sog. limbische System, den Hypothalamus und den Hirnstamm, wird dies realisiert.
Eine besondere Chance besteht darin, dass durch Musik Erfahrungen aus der Tiefe des Gedächtnisses wiederkommen. Wenn ein Musikstück an Schnittstellen unseres Lebens eine Bedeutung gewonnen hat, weil es z. B. Freude oder Trauer, Liebe oder Hoffnung auszudrücken vermochte, bleibt es oft untrennbar mit unserer Lebensgeschichte verbunden. Man denke nur an den Film Casablanca und die berühmte Szene, in der Ingrid Bergman sagt: „Spiel unser Lied, Sam!“. Etwas später sagt sie sogar: „Sing es, Sam“. Es ist dieses Lied, das die beiden Liebenden (Ilsa und Rick) verbindet. Man nennt dies in der Forschung auch das „Darling, they are playing our tune“-Phänomen. Wer mit alten Menschen singt, wird diese Erfahrung vielfach bestätigt bekommen. Selbst demente Personen finden durch das Singen eines Volkslieds oder Chorals zu lange zurückliegenden Erfahrungen zurück, sie erleben altes Glück aufs Neue.
Im therapeutischen Bereich geschieht Ähnliches: Das Hören „emotional heller“ Musik kann dazu helfen, dass Resilienzen gestärkt und Traumata verarbeitet werden. Durch aktives Trommeln im einen Fall, durch das passive Sich-Fallen-Lassen in eine meditative Musik (z. B. Air von Bach o.ä.) im anderen Fall. In vielen Kulturen gibt es auch (heilsame) Klagelieder und Klagegesänge, um aktuelle Trauer zu verarbeiten; man denke an die herzzerreißende Klage des Orpheus oder an die Totenklage in manchen afrikanischen Ländern, wo oft eine ganze Woche lang von einer Frau im Totenhaus gesungen wird. Ähnliches wissen wir aus dem iro-schottischen Raum: Die sog. „Keening-Woman“ ist eine Leiterin von Trauer- und Bestattungsritualen, die den Abschied von der verstorbenen Person wesentlich erleichtert. Es ist bewegend, dass gerade die großen Passionen Bachs Menschen bis heute in ihren Bann ziehen. Sie rühren zu Tränen und geben Raum für eigene Schmerzerfahrungen, deuten aber auch neu den Sinn, den ein Leiden und Sterben – in diesem Fall das Sterben Jesu – bekommen kann, wenn es für Andere geschieht. Viele Menschen finden darin Trost und Hoffnung.7
All diese heilenden oder zumindest heilsamen Wirkungen lassen sich in einem weiten Sinne als „evangelisch“, d.h. heißt als wohltuend, lebensdienlich, vielleicht sogar als Zeichen göttlicher Zuwendung interpretieren. In meinen Augen ist die Musik vielfach dazu geeignet zu beruhigen und zu trösten, aber auch zu beleben und neue Freude zu wecken.
Doch damit nicht genug: Musik schult, gerade im Blick auf aktuelle Bildungsprozesse. Zuhören, Mithören und Aufeinander-Hören sind Kardinaltugenden gelingenden Musizierens. Weltanschauliche und persönliche Differenzen rücken durch gemeinsames Musizieren oft in einen veränderten Horizont. In Tausenden von Chören und Ensembles finden Menschen innerhalb und außerhalb von Kirche beim Musizieren zueinander, die sonst nichts oder wenig gemeinsam haben. Hier wird Gemeinschaft gelebt, ja immer wieder zum Ereignis. Damit sind musikalische Ensembles ein Ort, an dem das Wunder „Friede auf Erden“ pars pro toto erfahren werden kann. Hier wird Lebenskunst eingeübt, die Kunst des ungeteilten Daseins im Spiel, das nie nur ein Dasein für sich selbst, sondern ein Dasein füreinander ist und zum Frieden anstiftet.
Peter Bubmann schreibt: „Wenn Menschen Musik schaffen oder hören, kann dies als Ausdruck von Frieden erfahren werden: als Frieden mit sich selbst, in der Gesellschaft, in der Natur oder mit Gott. Musikalische Erfahrungen werden so zum Gleichnis des inneren, gesellschaftlichen oder himmlischen Friedens.“8
Fragen wir zuletzt: Gibt es spezifische musikalische Mittel, die das alles belegen oder gar beweisen? Ja und nein. Komponisten arbeiten zu allen Zeiten mit einem schier unermesslichen „Arsenal“ von Ausdrucksmitteln. Die Parameter sind Tempo und Takt, Rhythmus und Harmonie, Dynamik und Artikulation usw. Viele sind, z. B. durch Volkslieder und Kirchenlieder, auch in einem „kollektiven Langzeitspeicher“. Die Melodie eines Liedes etwa kann zahlreiche dieser Parameter (Tonhöhen, Takt, Tempo, Rhythmus, evtl. Textbezug) in sich vereinigen. Je nach Kontext und Person wirkt sie auf die Hörenden oder Singenden/Musizierenden beruhigend oder belebend, tröstend oder stimulierend. Freude wird z. B. durch ein schnelles Tempo, vielleicht einen tänzerischen Dreiertakt, große Sprünge in der Melodie, (helle) strahlende Stimmen oder Instrumente, evtl. auch eine Dur-Tonalität hervorgerufen. Trost und Beruhigung werden durch ein ruhiges Tempo und eine lineare, gesangliche Melodie bzw. durch eine dunklere Instrumentierung vermittelt usw.
Musik ist aufs Ganze gesehen eine performative Kunst, sie bringt etwas in Bewegung, was so noch nicht da war. Ihre lebensdienlichen Wirkungen für den Menschen lassen sich bestenfalls voraussehen, aber kaum planen. Doch fragen wir nun umgekehrt:
Was ist das Musikalische am Evangelium?
In seiner Vorrede zum Septembertestament (1522) schreibt Martin Luther: „Euangelion ist ein griechisch Wort, und heißt auf deutsch gute Botschaft, gute Mär, gute Neuzeitung, gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist.“9
Damit ist ein (rezeptions-)ästhetisches Kommunikationsprogramm beschrieben: Der frohen, schönen und guten Botschaft von der Gnade Gottes in Christus entspricht eine gute und schöne Form der Mitteilung. Inhalt und Form entwickeln dabei eine so innige Beziehung, dass sie schlechterdings nicht voneinander ablösbar sind. Das Ziel ist es, Menschen glücklich und froh zu machen, weil Gott in Christus für sie da ist. Diese Nachricht ist so wichtig und aktuell, so weltbewegend und ergreifend, dass sie erklingen und hinausgesungen werden muss. Zu Luthers Zeit waren es die Auftritte des Spielmanns, die das „Leitbild“ für die Kommunikation des Evangeliums im Alltag waren. Mit seinen Bänkelliedern zog er singend und sagend durch die Lande und brachte Neuigkeiten und Geschichten auf Plätze und Märkte. Aufmerksam lauschten die Leute und staunten über das Un-erhörte.
Im übertragenen Sinne heißt das: Wer das Evangelium aufnehmen will, muss hören, vielleicht sogar sehen, fühlen und begreifen. Denn Gott schenkt sich sinnlich. Die geprägte Wendung von der „viva vox evangelii“ zielt jedenfalls genau darauf: Der Glaube kommt aus dem Hören des Wortes (vgl. Röm 10,17). Dieses Wort erklingt in einer lebendigen (persönlich vermittelten) Performance, deren Grundstimmung die Freude ist. Sie zielt auf Hoffnung und neue Zuversicht, auf Trost und Versöhnung.
Betrachten wir dazu ein Beispiel aus dem Bereich des Neuen Geistlichen Liedes. Wichtig ist es, dass wir zunächst nur auf den Text sehen. Lothar Teckemeyer dichtete:
1. Vorbei sind die Tränen, das Weinen der Schmerz.
Vorbei sind das Elend, der Hass und der Streit …
Das Neue wird sein, gibt uns neue Kraft,
es ist da im Hier und im Jetzt.
Refrain: Himmel und Erde werden neu,
nichts bleibt, wie es ist.
Himmel und Erde bekommen ein neues Gesicht.
Aufregend ist, wie hier das Ende der Trauer bei den Menschen und das Neuwerden von Himmel und Erde zum Ereignis wird, ja förmlich in die Gegenwart hineinkommt. Zunächst ist von Gott nicht die Rede. Es passiert einfach. In der dritten Strophe heißt es dann deutlicher:
Gott wohnt bei den Menschen,
die Zeit ist erfüllt,
Gott wischt ab die Tränen
er tröstet, er lacht,
Gott macht alles neu,
gibt uns neue Kraft,
er ist da im Hier und im Jetzt.
Refr.: Himmel und Erde werden neu …
Dieses wunderbare Gedicht ist für mich Evangelium pur. Es „inszeniert“ im Hier und Jetzt Gottes Zuwendung als Lachen und Trösten, als Abwischen aller Tränen. Die neue Schöpfung beginnt im Hier und Jetzt. Nun könnte man fragen: Braucht es zu einem so treffenden Text auch noch Rhythmus und Klang? Nicht zwingend. Und doch: Wenn dann auch noch die pulsierenden Rhythmen (Latin) und „nach oben ziehenden“ Klänge von W. Teichmann das Gedicht zum Lied der Freiheit und der Erlösung machen, zeigt sich, was passiert, wenn das Evangelium von einer Melodie getragen wird, ja einem Text geradezu Flügel gibt: Wer singt, verkündigt doppelt.10
Damit kommen wir an die Begründungsfrage religiöser oder – sagen wir vielleicht besser: geistlicher – Musik. Suchen wir dazu sowohl Spuren im Alten als auch im Neuen Testament:
Was ist das Evangelische an geistlicher Musik?
Der explizite Auftrag, Gottes Handeln zu besingen, wurzelt in den Hymnen des Psalters. Hier finden sich zahlreiche Aufforderungen zum Singen und Spielen. Die klassische lautet: Singt dem Herrn ein neues Lied! (vgl. Ps 96/98). Sie wird mit dem Hinweis auf Gottes rettendes und helfendes Handeln begründet: Singt dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder … Diese Stilfigur geht wahrscheinlich auf das uralte Lied der Miriam am Roten Meer zurück, vgl. Ex 15,21: Singet dem Herrn, denn er hat eine große Tat getan. Es bleibt nicht bei der Erzählung der Rettung Israels aus der Hand der Ägypter, es kommt auch zu einer musikalischen Resonanz, ja zu einer „ganzheitlichen Performance“. Die Prophetin Miriam singt mit Pauken und Tanz: Ein spontanes, ganzheitliches, sinnliches Musizieren beginnt, das Andere zum Mitmachen und zur Freude animiert.
Eine neutestamentliche Begründung für das Singen und Spielen des Evangeliums findet sich in Kol 3,16. Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt folgendermaßen:
Das Wort Christi wohne reichlich unter euch. In aller Weisheit lehrt und lenkt einander mit Psalmen, Hymnen und geistgewirkten Liedern, singt in euren Herzen anmütig vor Gott.11
Die Kommunikation des Wortes Christi soll demnach nicht nur in gesprochener, sondern in poetisch-musikalischer Weise geschehen. In dreierlei Formen, nämlich in Psalmen, Hymnen und vom Geist inspirierten Liedern, bekommt das Evangelium eine facettenreiche Klanggestalt. Sie künden von Gottes Gnade in Christus, ja mehr noch: Christus selbst ist es, der sich durch sie der Gemeinde mitteilt. Eduard Schweizer kommentiert: „Subjekt solchen Gottesdienstes ist nicht eigentlich die Gemeinde, […] sondern das Wort Christi selbst. Es ist das, was Paulus das ‚Evangelium‘ nennt.“12
Zugleich ereignet sich aber auch etwas im Inneren der Menschen, im Herzen. Glaube wird geweckt, Trost und Gewissheit gestärkt.13 Musik beim Evangelium hat demnach eine sinnliche und eine spirituelle Dimension.
In unübertrefflicher Weise kommen Inhalt und Wirkung der Kommunikation des Evangeliums in Luthers letzter großer Gesangbuchvorrede von 1545 zum Ausdruck:
„Singet dem Herrn ein neues Lied. Singet dem HERRN alle Welt. Denn Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünden, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubt, der kann’s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es Andere auch hören und herzukommen."14
Das neue Lied erzählt eine ganze große Geschichte, die Himmel und Erde umfasst und auf den Kopf stellt. Es jubelt über eine universale und endgültige Befreiung: Das „Dreierpack“ von Sünde, Tod und Teufel ist am Boden. Es kann uns nichts mehr anhaben (vgl. Röm 8,38f). Für diese Botschaft braucht es eine „große Glocke“. Christen verstecken sich deshalb zum Singen nicht im Keller, sondern „posaunen“ die Botschaft so kräftig hinaus, dass viele dazukommen. Sie richten sich damit an alle. Keiner ist ausgeschlossen.
Negativ gewendet: Wer mit der musikalischen Kommunikation dieser Freiheitsbotschaft hinter dem Berg hält, vergibt eine riesige Chance. Besonders im emotionalen Bereich fehlt dann eine komplette Dimension: die Lebendigkeit von Rhythmus und Artikulation, die kontrastreiche Dynamik von piano und forte, die signifikante Mehrstimmigkeit, die klanglich differenzierten Stimmlagen von Hohem und Tiefem, die darauf zielen, Körper und Herzen zu bewegen und Seelen zum Schwingen zu bringen.
Kein Wunder, dass (für etliche Reformatoren und die lutherische Kirche) das Evangelium unbedingt auch gesungen werden muss; dann steht der Chor bzw. die Gemeinde, die sich das Evangelium zusingt, im Gottesdienst gleichwertig neben der Predigt.15
Kirchenmusik ist daher für eine evangelische, d.h. durch das Evangelium konstituierte, Kirche kein Adiaphoron (Mittel- oder Zwischending), das grundsätzlich verzichtbar oder auch beliebig wäre: Sie gehört substanziell zum Gottesdienst der Gemeinde, die sich durch das Evangelium gegründet und getragen weiß. Johann Walter, der Kantor der Reformation, dichtete:
„Die Music braucht Gott stetz also
beim heilgen Evangelio.
Ist nicht die Music itzt noch stet
Bei Gottes wort und seim Gebet?“16
Musik beim Evangelium gehört aber auch in einen zeitgenössischen Religionsunterricht, der Herz und Kopf ansprechen will und damit kognitive und emotionale Lernprozesse befördert. Performative Elemente wie Ritual und Gebet sind dazu adäquate Mittel. Ein wichtiger Schlüssel ist m. E. das Singen schon in den ersten Lebensjahren: Wie kaum ein anderes Medium ist es dazu geeignet, das Evangelium ins Leben der Kinder hinein zu tragen: Gottes Nähe wird affektiv vergewissert, Kinder erleben Freude, lernen biblische Geschichten und christliche Inhalte und bewahren sie oft bis ins hohe Alter als Schatz für das Leben. So entstehen Ohrwürmer und Herzwärmer des Glaubens.
Betrachten wir dazu mit Jörg Zinks Wir stehen im Morgen nochmals ein neueres Lied, das der Musiker H. J. Hufeisen vertont hat. Poetisch setzt Zink ganz auf die Dreizahl: Zum einen drei gleich endende Reime in den fünf Strophen (AA’A’’), eine äußerst eingängige, aber selten praktizierte poetische Form. Dies wird durch das Versmaß des Daktylus (vgl. Bachs Jauchzet, frohlocket!) rhythmisch unterstrichen, die Melodie folgt dem Sprach-Rhythmus im Dreiermetrum des 6/8-Takts. Der Text lautet:
Wir stehen im Morgen. Aus Gott ein Schein
durchblitzt alle Gräber. Es bricht ein Stein.
Erstanden ist Christus. Ein Tanz setzt ein.
Halleluja…
In Strophe 2 werden wir gar mit Himmel und Erde in einen kosmischen Tanz hineingezogen:
Ein Tanz, der um Erde und Sonne kreist,
der Reigen des Christus voll Kraft und Geist.
Ein Tanz, der uns alle dem Tod entreißt.
Damit ist das österliche Evangelium ausgerufen: Wir sind dem Tod entrissen. Christus nimmt uns an die Hand und führt uns als „Freudenmeister“ (vgl. EG 396) hinaus zum Reigen. Man fühlt sich an mittelalterliche Altarbilder erinnert, in der Christus (zwischen Karfreitag und Ostern) durch die Hölle zieht und die Toten herausholt. In neuerer Zeit hat Sydney Carter mit seinem Gedicht The Lord of the dance Ähnliches versucht.17
Die zentrale Strophe 3 kann daher gegen die Angst ansingen, ja den Tod sogar „verspotten“ (vgl. 1 Kor 15,55):
An Ostern, o Tod, war das Weltgericht.
Wir lachen dir frei in dein Angstgesicht.
Wir lachen dich an, du bedrohst uns nicht.
Was wir heute an tödlichen Schrecken noch erleben, sind Rückzugsgefechte mit einer Macht, die schon gerichtet und besiegt ist. Von hier her bekommt das Osterlachen eine letzte Begründung: „Wir lachen dir frei in dein Angstgesicht.“ Str. 4 und 5 lassen uns mitziehen im Reigen des Auferstandenen (vgl. Psalm 30: Du hast meine Klage verwandelt in einen Reigen.) Sie ermutigen aber auch zum aktiven Widerstand gegen die Mächte der Hoffnungslosigkeit und der Resignation. Ein Widerstandslied, das stark macht im Alltag und seinen Krisen.18 Strophe 4 lautet:
Wir folgen dem Christus, der mit uns zieht.
Stehn auf, wo der Tod und sein Werk geschieht.
Im Aufstand erklingt unser Osterlied.
Der Komponist lässt uns dabei nicht nur singen, sondern auch innerlich (oder sogar äußerlich!) tanzen. Passend notiert er als Ausführungshinweis Gigue – sie war der schnellste Tanz in der Barockzeit.
Summa: Musik und Evangelium – unzertrennliche Geschwister
Fassen wir zusammen: Musik berührt. Vielfach lässt sie auch „die religiös Unmusikalischen“ etwas vom Geheimnis der Transzendenz, ja von der Gegenwart Gottes ahnen. Martin Schulz, Präsident des EU-Parlaments, hat jüngst bekannt: „Es gibt eine Ausnahme, die für mich beweisen könnte, dass es doch einen Gott gibt: die Musik. Sie entsteht aus Materiellem, ist aber weder sichtbar noch greifbar. Aber sie existiert. Wenn es etwas Göttliches gibt, dann ist es für mich die Musik.“19
Musik und Kirchenmusik sind gleichermaßen dazu fähig, Gefühle auszurücken oder zu wecken, Trauer und Freude, Wut und Liebe, Angst und Hoffnung. Musik beim Evangelium kann zur Trägerin einer Trost- und Freudenbotschaft (eu-angelion) werden und die entsprechende Resonanz der Dankbarkeit (eu-charistia) auslösen. In dieser umfassenden Dimension von Wort und Antwort steht sie als „Schwester“ neben der Theologie. Paul Gerhardt hat dies in einer Liedstrophe (EG 324) treffend gebündelt und dabei den theologischen mit dem anthropologischen Aspekt genial verbunden:
- Ich singe dir mir Herz und Mund (Singen als Lob Gottes),
- Herr, meines Herzens Lust (Ausdruck der Freude, Emotion).
- Ich sing und mach auf Erden kund, (Singen als Verkündigung),
- was mir von dir bewusst (Bildungsgeschehen, Vergewisserung des Glaubens).
Anmerkungen
- Vorab sei bemerkt, dass der Begriff „evangelisch“ im Folgenden nie konfessionell enggeführt ist, sondern immer das zum Evangelium gehörige Adjektiv meint.
- Martin Luther, Vorrede zu den Symphoniae iucundae von Georg Rhau (1538), WA 50, 371, Übersetzung Johann Walter.
- Vgl. Harnoncourt, Die Macht der Musik, 7f.
- Vgl. Walter, Von der Musik und vom Musizieren, 18f.
- Menuhin, Zur Bedeutung des Singens.
- Vgl. Grape, Does singing promote well-being?
- Rilling, Gedanken zur Musik, schreibt: „Bachs Musik „sagt etwas zu Themen, die heute aktuell sind, etwa in den Passionen zu Hass, Liebe und Furcht, zu Macht und Intrigen, zu Leiden und Sterben – aber auch zu Hoffnung und Sehnsucht auf Erlösung. Und wir heutigen Menschen erfahren Bachs musikalische Sprache als eine gewaltige Rede, die uns erreicht, bewegt und bereichert und zum Nachdenken zwingt“ (13f).
- Bubmann, Musikalische Friedenserziehung, 90.
- WA NT 6,2.
- Das Original „Wer singt, betet doppelt“ (qui cantat bis orat) wird Augustin zugeschrieben.
- Die Interpunktion zwischen den beiden (partizipialen) Nebensätzen ist grammatikalisch offen. Man lehnt sich hier an die Parallele in Eph 5,19 an und versteht das Singen als Ereignis, das sowohl Verkündigungs- (16b) als auch Lobcharakter (16c) hat. Ähnlich übersetzt Luther 1534: „Lasset das wort Christi vnter euch reichlich wonen / Inn aller weisheit / leret vnd vermanet euch selbs / mit Psalmen und lobsengen und geistlichen lieblichen (das ist trostlichen / holdseligen / gnadenreichen) liedern / und singet dem Herrn inn ewrem Herzen.“
- Vgl. Schweizer, Brief an die Kolosser, 156f. Der Ausdruck logos tou Christou (Kol 3,16 und Eph 5,19) ist also im Sinne eines doppelten Genitivs zu deuten: als ein „Wort, das von Christus zeugt“ (gen. obj.), aber mehr noch als ein „Wort das Christus selbst redet (gen. subj.) und austeilt“. Vgl. dazu auch Mayer, Das Volk Gottes als singende Gemeinde, 218.
- Vgl. Heymel, In der Nacht ist sein Lied bei mir: „Singen und Musizieren gehören unabdingbar zur Vermittlung der Botschaft von Jesus Christus, weil das Evangelium selbst auf Musik, genauer: auf den Klang der lebendigen Stimme hin angelegt ist. Wo Gottes Wort als sermo und vox wirksam wird, wo es im Gottesdienst zu Gehör kommt, weckt es im Herzen als Personmitte eine überfließende Freude an Gottes Güte und Vergebung, die sich durch Singen und Sagen verlautbaren muss“ (107).
- Vorrede zum Babstschen Gesangbuch, WA 35, 477.
- Vgl. dazu Bubmann, Das Amt der Kirchenmusik im Kuratorium der Lebenskunst, 270 bzw. Arnold, Das kirchenmusikalische Amt als prophetischer Dienst.
- Walter, Lob und Preis der löblichen Kunst Musica, Blatt C.
- Vgl. Loccumer Brevier, o.J. Rehburg-Loccum, 258f.
- Ein besonders leuchtendes Beispiel erzählt Lukas in Apg 16: Paulus und Silas fangen im Gefängnis trotz Folter an, Gott zu loben. Die Mitgefangenen hören gebannt zu. Ein kosmisches Beben folgt und sprengt Ketten und Türen. Darauf geschieht das eigentliche Wunder: Der Kerkermeister lässt sich mit seiner ganzen Familie taufen.
- Aus: Martin Schulz im Gespräch mit Dirk von Nayhauß: „Ich muss noch mal mit meiner Frau telefonieren“, 22.
Literatur
- Arnold, Jochen: Das kirchenmusikalische Amt als prophetischer Dienst im Konzert der Ämter bei der Kommunikation des Evangeliums, in: Pastoraltheologie 104 (2015), 431-446
- Bubmann, Peter: Musikalische Friedenserziehung, in ders.: Musik – Religion – Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive, Leipzig 2009, 89-96
- Bubmann, Peter: Das Amt der Kirchenmusik im Kuratorium der Lebenskunst. Eine pastoraltheologische Zukunftsvision, in: Bönig, Winfried u.a. (Hg.): Musik im Raum der Kirche. Fragen und Perspektiven. Ein ökumenisches Handbuch zur Kirchenmusik, Stuttgart / Ostfildern, 268-278
- Grape, Christina u.a.: Does singing promote well-being? An empirical study of professional and amateur singers during a singing lesson, in: Integrative Physiological and Behavioral Science 2003, Heft 1, 65-74
- Harnoncourt, Nikolaus: Die Macht der Musik. Zwei Reden. Salzburg/Wien 1993
- Heymel, Michael: In der Nacht ist sein Lied bei mir, Waltrop 2004
- Leonhardmair, Teresa: Bewegung in der Musik. Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen, Bielefeld 2014
- Luther, Martin: Vorrede zum Babstschen Gesangbuch. WA 35, 477
- Luther, Martin: Vorrede zu den Symphoniae iucundae von Georg Rhau (1538), WA 50, 371, Übersetzung Johann Walter
- Mayer, Joseph Ernst: Das Volk Gottes als singende Gemeinde, in: Die Kirchenmusik und das II. Vatikanische Konzil, Graz 1965
- Menuhin, Yehudi: Zur Bedeutung des Singens, http://www.il-canto-del-mondo.de/fileadmin/docs/Yehudi_ Menuhin-Zur_Bedeutung_Des_Singens.pdf. (abgerufen am 10.11.2015)
- Rilling, Helmuth: Gedanken zur Musik, Bach-Akademie Stuttgart 1998
- Schulz, Martin im Gespräch mit Dirk von Nayhauß: „Ich muss noch mal mit meiner Frau telefonieren“, in: „Chrismon“ 1/2014, Frankfurt am Main, 22
- Schweizer, Eduard: Brief an die Kolosser. Evangelisch-Katholischer Kommentar XII, Neukirchen/Zürich 1976
- Walter, Bruno: Von der Musik und vom Musizieren, Frankfurt/M 1957
- Walter, Johann: Lob und Preis der löblichen Kunst Musica. Faksimile-Neudruck mit einem Geleitwort von Wilibald Gurlitt, Kassel 1938