Gott als Thema im Religionsunterricht
Darf man Gott als elementares Thema des Religionsunterrichts bezeichnen? Schaut man in die verschiedenen Grundlagenpläne, Länderlehrpläne und jüngst auch Kompetenzmodelle für den evangelischen wie katholischen Religionsunterricht, so gewinnt man den Eindruck, dass das Thema Gott zwar an verschiedenen Stellen der Schullaufbahn thematisiert und diskutiert wird, doch verschwindet es zwischen einer Fülle von anderen Themen, die den Religionsunterricht beschäftigen. Und dennoch darf man sicher sagen, dass die Gottesthematik das eigentliche Integrativum jeden Religionsunterrichts ist. Denn das Thema Gott taucht ja nicht nur als Längsschnittthema durch die Schuljahre in unterschiedlichen, altersgemäßen Zugängen immer wieder auf, sondern es zeigt sich vielmehr als Querschnittthema in unterschiedlichsten Kontexten des Religionsunterrichts immer dann, wenn Schülerinnen und Schüler die Theorie und Praxis von Religion kritisch im Rückgriff auf Gottesvorstellungen und Gottesbilder in Frage stellen und diskutieren. In diesem Sinne kann man sagen, dass alle Themen des Religionsunterrichts dazu dienen können, die Gottesfrage als die entscheidende Frage nach dem, was uns unbedingt angeht (Paul Tillich), in je unterschiedlichen Kontexten und vor verschiedensten Horizonten immer wieder neu zu stellen, zu diskutieren und zu reflektieren. Das Kerncurriculum für den evangelischen Religionsunterricht im gymnasialen Bildungsgang in Niedersachsen formuliert deshalb wie folgt: „Wie in keinem anderen Fach können die Schülerinnen und Schüler über die Frage nach Gott nachdenken und deren Bedeutung für die Grundfragen des menschlichen Lebens ausloten. In der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Evangelium von der Menschlichkeit Gottes werden Grundstrukturen des christlichen Menschen- und Weltverständnisses aufgezeigt“ (Kerncurriculum Evangelische Religion 2009, 9).
Analoges lässt sich für den Themenbereich des Interreligiösen Lernens im Kontext des schulischen Religionsunterrichts sagen. Auch hier ist es so, dass zwar der Monotheismus als gemeinsame Basis des Glaubens von Juden, Muslimen und Christen angesprochen und thematisiert wird, die Fülle der Themen in diesem Lernfeld sich aber eher aus den orthopraktischen Vollzügen der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften strukturiert, so z. B. aus der Erschließung der unterschiedlichen Gotteshäuser, einem Vergleich der verschiedenen Offenbarungsurkunden, einer Prüfung der Feste und Feiertage, einem Vergleich der Fasten- und Speiseregeln usw. Wer sich um Formate interreligiösen Lernens bemüht, weiß allerdings, dass auch hier im Sinne einer latenten An- und Rückfrage das Thema „Gott“ im Hintergrund steht und sich immer wieder in Fragen und Diskussionen mit Schülerinnen und Schülern Raum verschafft. In diesem Sinne ist es doppelt sinnvoll, dass sich dieses Themenheft der Frage nach den Gottesvorstellungen und Gottesbildern im Kontext des Religionsunterrichts stellt und zwar mit einem besonderen Fokus auf dem gemeinsamen Unterricht von jüdischen, christlichen und muslimischen Schülerinnen und Schülern. Um dieses elementare Thema nun in eine didaktische Struktur zu bringen, erscheint es höchst sinnvoll, fundamentale Anfragen zu formulieren, die aus Sicht von Kindern und Jugendlichen untrennbar mit der Gottesfrage verbunden sind.
Gott als Motiv in Kinderfragen
Auch wenn in unserer Gesellschaft die Gottesfrage inzwischen zu einem Tabu geworden ist, zeigen doch die vorliegenden empirischen Studien zu Weltanschauungen und Weltbildern von Kindern und Jugendlichen deutlich, dass die Gottesfrage in ihrer Entwicklung weiterhin durchaus ein relevantes Thema ist (vgl. Jugend 2006; Szagun/Fiedler 2008; Feige/Gennerich 2008; Jugend 2010). Allerdings ist es so, dass die Gottesthematik nicht mehr dominant das Leben von Kindern und Jugendlichen bestimmt, wie es in traditionell religiösen Gesellschaften, die einen geschlossenen religiösen Kontext für Bildung und Erziehung generiert haben, der Fall gewesen ist. Es „ist das Problem heutiger religiöser Erziehung und Bildung sicher nicht, dass – wie bis in die 1960er Jahre hinein – zu massiv und zu viel mit gefährlichen und bedrohlichen Gottesbildern gearbeitet wird […], sondern wie und mit welchen Bildern und Vorstellungen Kinder heute überhaupt im Grundschulreligionsunterricht Gott begegnen sollen und können“ (Ritter/Simojoki 2014, 171). Deshalb gilt: „Wer das Thema ‚Gottesbilder‘ für den Religionsunterricht fruchtbar machen will, muss sich folglich als erstes den Kindern zuwenden: Wie erschließt sich die Frage nach Gott aus ihrer Sicht“ (ebd.).
Eine solche fragende Zuwendung zu Kindern und zu ihrer Sicht auf Mensch, Welt und Gott ist in den letzten Jahren in der Religionspädagogik im Kontext der sogenannten Kindertheologie bzw. des Theologisierens mit Kindern massiv gefördert und weiterentwickelt worden (vgl. im Besonderen Freudenberger-Lötz/Riegel 2011). Allerdings sind auch schon in den Jahren vor dem Boom dieser neuen Disziplin eine ganze Reihe von Studien vorgelegt worden, die sich mit der kindlichen Perspektive auf die Gottesfrage beschäftigen. Hier soll im Besonderen auf die Religionspädagogen Rainer Oberthür und John Martin Hull zurückgegriffen werden, die bereits Mitte der 1990er Jahre ihre Erfahrungen aus theologischen Gesprächen mit Kindern in verschiedene Publikationen gefasst haben. So hat Rainer Oberthür in Grundschulklassen jene Fragen gesammelt und geordnet, die das Zentrum einer genuinen kindlichen Perspektive auf Gott und Welt ausmachen, so z. B. Fragen nach der Existenz Gottes, Fragen nach dem Leid oder Fragen nach der Wirklichkeit von Sprache (Oberthür 1995, 13). John Hull dagegen unternimmt in seinem Buch „Wie Kinder über Gott reden“ (1997) eine wichtige, ergänzende Kategorisierung, die nicht die theologischen Inhalte zum Gegenstand hat, sondern die Genese der Fragen aus den Strukturen kindlichen Denkens zu erklären versucht. Gliedert Oberthür also seine Fragen nach philosophischen bzw. theologischen Inhaltskategorien, so unterscheidet Hull zwischen drei verschiedenen Klassen von Fragen, die sich im Zugang der Kinder auf Wirklich ursächlich bilden, nämlich das kindliche Denken in Bildern (z. B. „Wo wohnt Gott?“), Formen moralischen Urteilens (z. B. „Liebt Gott auch Einbrecher?“) und das Nachdenken und die Wirksamkeit von Gebet und Gottesrede (z. B. „Warum würfele ich nie eine Sechs, obwohl ich vorher immer bete?“).
Diese unterschiedlichen Kategorisierungen können zum einen zu einer stärkeren Systematisierung des theologisierenden Gesprächs mit Kindern beitragen, sie können aber zum anderen auch im Rahmen dieser Untersuchung einen Schlüssel liefern, Kategorien fundamentaler Fragen von Schülerinnen und Schülern zum Thema Gott zu bilden und zu bezeichnen. So lassen sich mit Blick auf die Gottesfrage vier Grundfragen identifizieren: Es sind die Fragen nach der Existenz Gottes, nach den Bildern, die wir uns als Menschen individuell wie kollektiv von Gott machen, es ist die Frage nach dem Leiden in der Welt im Angesicht eines verkündeten liebenden und allmächtigen Gottes und es ist schließlich die Frage nach der Wirksamkeit von Kommunikation zwischen Gott und Mensch, also die Frage nach Sinn und Zweck des menschlichen Gebets.
1. Gottes Existenz: Gibt es Gott?
Nicht nur Jugendliche, die in der entwicklungspsychologischen Phase des sogenannten Deismus eine natürliche Distanz und Skepsis zu Glaube und Religion ausbilden, sondern auch Kinder im Grundschulalter stellen bereits die Frage nach der Existenz Gottes: Gibt es diesen Gott wirklich, von dem die Menschen sprechen und der angeblich gütig und allmächtig diese Welt regiert? Dabei speist sich diese kindliche Skepsis sicherlich auch aus der zunehmenden agnostischen bzw. religionskritischen Haltung, die den weltanschaulichen Mainstream unserer Gesellschaft inzwischen prägt. Zum anderen aber zeigt sich in dieser kritischen Auseinandersetzung mit den bisher vermittelten Gottesbildern die Überwindung von ersten kindlichen Stufen des Gottesglaubens, wie sie im Kontext des kognitiven Strukturalismus angeregt und begleitet werden soll. Kinder erleben während ihrer Grundschulzeit, dass die bisher gepflegten anthropomorphen, animistischen und artifizialistischen Gottesbilder der frühen Kindheit nicht mehr taugen bzw. nun doch erhebliche Widersprüche aufweisen. Entsprechend ist die Frage nach der Existenz Gottes nicht nur ein Thema für die Mittelstufe und die gymnasiale Oberstufe, sondern durchaus auch für die Jahre der Grundschule, gerade weil Kinder in diesem Alter auf eine kritische Auseinandersetzung mit den frühkindlichen Stufen ihres Gottesbildes angewiesen sind.
Judentum, Christentum und Islam kennen die Auffassung, dass eine natürliche Erkenntnis Gottes aus der Ordnung und Struktur der Welt möglich ist. Vor allem in der katholischen Tradition hat dieses Theologoumenon Gewicht und wird in Anknüpfung an eine einschlägige Passage im Brief des Apostels Paulus an die Römer (Röm 1,20) als sogenannte natürliche Theologie bezeichnet. Natürlich ist diese Form der Gotteserkenntnis deshalb, weil sie jeden Menschen dazu befähigt, „Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit […] an den Werken, nämlich der Schöpfung der Welt“ zu erkennen. Ähnliche Passagen finden sich in der hebräischen Bibel im Buch der Weisheit (Weish 13,5) und auch im Koran, der Offenbarungsurkunde des Islam (vgl. exemplarisch Sure 16,65-69, 78f.). Auch wenn diese Argumentation angesichts des Leidens in der Welt (vgl. 3.2.) immer auch in Frage gestellt wird, gibt es in allen drei monotheistischen Religionen die Auffassung, dass der eine Gott eine Welt geschaffen und in Ordnung gebracht hat, die in sich selbst vernünftig und sinnvoll ist und deren Struktur mit Hilfe der menschlichen Vernunft als ein Zeichen und Hinweis für die Existenz eines allmächtigen Schöpfergottes gelesen werden kann.
Eine solche philosophisch-theologische Auseinandersetzung mit dem Für und Wider der Existenz Gottes ist sicherlich dem Unterricht in der Oberstufe bzw. den höheren Jahrgängen der Mittelstufe überlassen. Nichtsdestotrotz gibt es auch in der Grundschule wie auch in den unteren Jahrgängen der Sekundarstufe I religionsdidaktische Verfahren, die Kinder anleiten, über das Betrachten und das Staunen angesichts der Schönheit und Sinnhaftigkeit von Schöpfung auf das Wirken eines Schöpfergottes zurückzuschließen. In besonders eindrücklicher und anrührender Art und Weise hat dies Rainer Oberthür in „Neles Buch und die großen Fragen“ für den Bereich der Grundschule aufgezeigt (vgl. Oberthür 2002, 23-25).
2. Gottesbilder: Wie kann ich mir Gott vorstellen?
Zu kaum einem Thema ist in der Religionspädagogik mehr geforscht worden als zur Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen. Zum einen konnte hier die religionspädagogische Forschung auf eine ganze Reihe von entwicklungspsychologischen bzw. lernpsychologischen Klassikern zurückgreifen, die auch im Bereich der Psychologie und Pädagogik erforscht und fortgeschrieben worden sind. Zum anderen hat die Entwicklung der Gottesvorstellung vom Kleinkind bis hin zum Erwachsenen eine hohe Relevanz für den Erfolg religiöser Bildungsprozesse. Insofern ist es seit Jahrzehnten ein zentrales Anliegen der christlichen Religionspädagogik, religiöse Bildungsangebote so zu gestalten, dass es Kindern und Jugendlichen möglich wird, ein gesundes und heilsames Gottesbild zu entwickeln, das ihnen Hilfe und Unterstützung für die Gestaltung ihres Lebens sein soll. Nicht vergessen werden sollte allerdings, dass die Entwicklung individueller Gottesbilder in einem Zusammenhang steht mit kollektiven Gottesvorstellungen, wie sie in einer Religionsgemeinschaft gepflegt werden. Dies ist in der Religionspädagogik nicht immer im Blick, weil die Entwicklung z. B. des christlichen Gottesbildes in der Regel in der Systematischen Theologie, vor allem in der Dogmatik und Dogmengeschichte abgehandelt wird.
Die religionspädagogische Arbeit an den eigenen Gottesbildern ist nicht nur für christliche Kinder eine wichtige Perspektive mit Blick auf die Entwicklung einer lebensdienlichen Spiritualität. Auch jüdische und muslimische Kinder müssen angeregt werden, ihre Gottesvorstellungen im Rahmen von Unterrichtsprozessen zu artikulieren und zu reflektieren. Dabei sollte allerdings beachtet werden, dass aufgrund des strikten Bilderverbotes in Judentum und Islam die Thematisierung anthropomorpher Gottesbilder im Bereich der kindlichen Religiosität ein Tabu darstellt und deshalb nicht problemlos mit jüdischen und muslimischen Schülerinnen und Schülern diskutiert werden kann. Wohl aber lässt sich mit Kindern und Jugendlichen aller drei Religionen die Bildhaftigkeit biblischer bzw. koranischer Sprache thematisieren: Allen drei monotheistischen Religionen ist es zu eigen, dass in ihren Offenbarungsurkunden, also dem TeNaK, der Bibel und dem Koran, in Analogien und Bildern von Gott gesprochen wird, weil er für alle drei Religionen – dies ist ja das revolutionär Neue des Monotheismus – Gott weder sichtbar noch auf einen bestimmten Ort beschränkt erfahrbar ist. Dabei wird die christliche Lehre von einem Gott in drei Personen bei jüdischen und muslimischen Schülerinnen und Schülern sicherlich Widerspruch hervorrufen. Nicht nur, dass im Islam die Trinität häufig als die göttliche Familie von Gottvater, Gottmutter Maria und Gottsohn Jesus von Nazareth verstanden wird, sie konterkariert jene strenge Verehrung des einen Gottes, die von Abraham, Isaak und Jakob, aber eben auch von Muhammad und seinen Gefolgen als Grundregel allen Kultes verkündet worden ist. Entsprechend wird es immer eine Aufgabe des interreligiösen Religionsunterrichts sein, die Lehre von der Dreieinigkeit Gottes zu erklären und zu erläutern, ohne auf der anderen Seite das religiöse Empfinden von Juden und Muslimen in der Lerngruppe zu stören oder gar zu verletzen.
3. Gottes Gerechtigkeit: Warum kann Gott das Böse zulassen?
Für das theologische Problem, einen Schöpfergott, der allmächtig, gütig und vernünftig sein soll, mit dem faktisch erlebten Leiden und dem oft unfassbar Bösen in dieser Wirklichkeit zusammen denken zu müssen, hat der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) den Begriff der „Theodizee“, also der „Rechtfertigung Gottes“ (angesichts des Leidens in seiner Schöpfung) geprägt. Nicht nur in der Systematischen Theologie, sondern auch in der religionspädagogischen Forschung ist eine ganze Reihe von Arbeiten entstanden, die sich der Frage widmet, inwieweit die Erfahrung des Leidens und des Bösen in der Welt Menschen in ihrem Gottesglauben beeinflusst oder sogar erschüttert. Lange Zeit galt die These von der Theodizee-Frage als erste und zentrale „Einbruchstelle für den Verlust des Glaubens an Gott“, die Karl Ernst Nipkow auf eine empirische Studie aufbauend mehrfach in seinen Schriften formuliert hat (vgl. Nipkow 1987). Inzwischen haben aber weitere Untersuchungen gezeigt, dass vor allem für Jugendliche die Theodizee-Frage heute nicht mehr diese Brisanz besitzt (vgl. Ritter et. al. 2006 und Stögbauer 2011). Nichtsdestotrotz hat die Theodizee-Frage für Kinder und Jugendliche vor allem immer dann Relevanz, wenn Leidenserfahrungen den eigenen Glauben und das Vertrauen auf einen guten und fürsorglichen Gott erschüttern. In welch anrührender Weise Kinder sich mit der Frage nach dem guten Gott angesichts einer oft bösen Wirklichkeit auseinandersetzen und mit welchen religionsdidaktischen Angeboten Religionslehrerinnen und Religionslehrer in dieser Situation helfend zur Seite stehen können, hat auch hier Rainer Oberthür gezeigt (1998).
Mit Blick auf einen Religionsunterricht, der Juden, Christen und Muslime verbindet, ist unbedingt darauf hinzuweisen, dass das Theodizee-Problem sich in ganz besonderer Weise im Judentum und Christentum stellt und von muslimischen Schülerinnen und Schülern nur bedingt akzeptiert und anerkannt werden wird. Schließlich provoziert Leiden nicht notwendigerweise die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes. Wenn es nämlich dem Menschen gar nicht zusteht, Gott anzuklagen, sondern hinter dem Leiden des Geschöpfes in der Schöpfung ein unbekannter Heilsplan Gottes vermutet wird, der dem Menschen aber aufgrund der großen Distanz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht offenbart werden soll, stellt sich auch nicht die Frage nach der Allmacht oder der Güte Gottes (vgl. Koran Sure 21,23; 2,155-157).
4. Gottesbeziehung: Wann hört Gott auf mein Gebet?
Das Gebet ist sowohl im Judentum als auch in Christentum und Islam elementarer Ausdruck des Gott-Mensch-Verhältnisses. Juden, Christen und Muslime verstehen das Gebet als Gespräch zwischen dem Menschen und Gott, in dem in einem kommunikativen Prozess des Sprechens und Hörens der Betende auf besondere Weise die Nähe und Anwesenheit Gottes erspürt. Die abrahamischen Religionen haben dem Sprechen-mit-Gott in ihrer je eigenen Gebetspraxis besondere Form gegeben. Im Gebet bringen Juden, Christen und Muslime vor Gott ihr Leben auf vielfältige Weise zur Sprache, verbal im Sinne der in Worte gefassten Gedanken, Bitten, Dankesworte, Klagen und Lobpreisungen, wie auch körperlich in Form einer leiblichen Gebetssprache, besonders im muslimischen Ritualgebet (vgl. Herborn 2015). Bis Kinder und Jugendliche eine eigene reflektierte Gebetspraxis pflegen, bedarf es allerdings langer Phasen religiöser Erziehung, die in der Regel vom angeleiteten Ritualgebet mit den Eltern (bei Tisch, vor dem Verlassen des Hauses, am Bett vor dem Schlafengehen) und den Gebetserfahrungen im Gottesdienst über Phasen der Skepsis und Kritik im Jugendalter hin zu einem Gebetsverständnis führen, in dem Gott nicht mehr als willkürlicher Deus ex machina, aber auch nicht als eine Art metaphysischer, durch Anruf und Opfer korrumpierbarer Dienstleister verstanden wird. Vielmehr erscheint Gott nun als Ermöglichungsgrund einer freiheitlichen Praxis von Kult und Gebet, der darum gebeten werden kann, in anderen Menschen durch seinen guten Geist – und damit durch die Einsicht in das rechte Handeln im Horizont personaler Freiheit – zu wirken. Ein solches Reifen bezeichnet Fritz Oser in seinem inzwischen zum Klassiker avancierten Modell religiöser Urteilsfähigkeit als Entwicklung von der kindlichen Phase der Heteronomie hin zu einer erwachsenen Zielstufe der Autonomie (vgl. Oser/Gmünder 1984). Die kindliche Frage, ob Gott Gebete erhöre und warum sich dann keine vernehmlichen Antworten und keine sichtbaren Ergebnisse einstellten, markiert den Übergang vom kindlichen Do ut des zu jugendlichen Deismus-Vorstellungen. Dass jüdische, christliche und muslimische Kinder ihre eigene Spiritualität zu einer Gottesbeziehung weiterentwickeln können, in der die menschliche Autonomie und der göttliche Heilsplan zusammengedacht werden, ist eine bedeutende Aufgabe des Religionsunterrichts.
„Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott“ – „Im Namen des Vaters, des Sohnes, und des Heiligen Geistes“ – „Im Namen Gottes, des Allerbarmenden und Barmherzigen“. Die Ansprache an Gott im Gebet von Juden, Christen und Muslimen markiert aber auch die Unterschiede in den Gottesvorstellungen. Zwar sprechen alle Gläubigen in den drei monotheistischen Religionen zu dem einen Gott Abrahams, doch beten sie auf je verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Gottesvorstellungen. So wenden sich Juden und Muslime im Gebet streng monotheistisch dem einen Gott zu, während das christliche Gebet immer an den trinitarischen Gott gerichtet wird: Christen beten im Heiligen Geist zu Gott, durch, mit und in Jesus Christus. Dies gilt es im Blick zu behalten, wenn in gemeinsamen Lerngruppen von jüdischen, christlichen und muslimischen Schülerinnen und Schülern über das Gebet gesprochen oder sogar Gebete vollzogen werden (vgl. Herborn 2015).
Gott als der immer Unsichtbare
Wenn im schulischen Religionsunterricht die Fragen nach der Existenz Gottes, nach den Gottesbildern, nach dem Leiden in der Welt im Angesicht Gottes und die Frage nach der Wirksamkeit des menschlichen Gebets gestellt und diskutiert werden, kann Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gegeben werden, die Gottesfrage als eine wichtige „Baustelle“ (Freudenberger-Lötz/Riegel 2011) ihrer Biografie im Blick zu behalten und zu bearbeiten. Lothar Kuld hat diese ständige Lebensaufgabe die Unsichtbarkeitsproblematik genannt, weil es die in jeder Biografie zentrale Aufgabe ist, die Unsichtbarkeit Gottes zu akzeptieren und produktiv zu bearbeiten: „Aus der konkreten Gestalt über den Wolken wird ein ‚Geist‘, dann ‚eine Erzählung‘, schließlich ‚ein Gefühl‘. Alle Begriffe bezeichnen Unsichtbares. In jedem Fall geht es darum, das Unsichtbare zu benennen. Aus der scheinbar anthropomorphen Vorstellung wird eine literarische, dann im Jugendalter eine psychologische“ (Kuld 2011, 54). Zentrale Aufgabe religiöser Bildung ist es nun, in diesem lebenslangen Prozess Impulse zu geben, Anregungen zu liefern und Material bereit zu halten, an dem Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihre religiösen Vorstellungen reflektieren, bearbeiten und weiterentwickeln können, um so zu einer reifen und erwachsenen Religiosität und Spiritualität zu finden. Dazu kann das gemeinsame Nachdenken von Juden, Christen und Muslimen über die großen Fragen zur Gottesthematik gewiss einen wichtigen Beitrag leisten.
Literatur
- Feige, Andreas/Gennerich, Carsten: Lebensorientierung Jugendlicher. Alltagsethik, Moral und Religion in der Wahrnehmung von Berufsschülerinnen und -schülern in Deutschland, Münster 2008
- Freudenberger-Lötz, Petra/Riegel, Ulrich (Hg.): „Mir würde das auch gefallen, wenn er mir helfen würde“. Baustelle Gottesbild im Kindes- und Jugendalter (JaBuKi-Sonderband), Stuttgart 2011
- Herborn, Dorothee: „Und alle sprechen doch mit Gott, oder?“ – Spirituelles Lernen am Beispiel der Gebetspraxis von Juden, Christen und Muslimen (5/6), in: RelliS Nr. 16 (2015) H. 2 im Druck
- Hull, John M.: Wie Kinder über Gott reden. Ein Ratgeber für Eltern und Erziehende, Gütersloh 1997
- Jugend 2006. Eine pragmatische Generation unter Druck, hg. v. der Shell Deutschland Holding, Frankfurt/Hamburg
- Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich, hg. v. der Shell Deutschland Holding, Frankfurt a. M./Hamburg
- Kerncurriculum für das Gymnasium Schuljahrgänge 5-10. Evangelische Religion, hg. vom Niedersächsischen Kultusministerium, Hannover 2009
- Kuld, Lothar: Wie Kinder und Jugendliche Religion verstehen, Das Entscheidende ist unsichtbar, Augsburg 2011
- Nipkow, Karl Ernst: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, München 4. Auflage 1987
- Oberthür, Rainer: Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München 1995
- Oberthür, Rainer: Kinder fragen nach Leid und Gott. Lernen mit der Bibel im Religionsunterricht, München 1998
- Oberthür, Rainer: Neles Buch der großen Fragen. Eine Entdeckungsreise zu den Geheimnissen des Lebens, München 2002
- Oser, Fritz/Gmünder, Paul: Der Mensch – Stufen seiner religiösen Entwicklung. Ein strukturgenetischer Ansatz, Gütersloh 1994
- Ritter, Werner H./Gramzow, Christoph/Hanisch, Helmut/Nestler, Erich: Leid und Gott. Aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2006
- Ritter, Werner H./Simojoki, Henrik: Gott, Gottesbilder und Kirche, in: Hilger, Georg/Ritter, Werner H./Lindner, Konstantin/Simojoki, Henrik/Stögbauer, Eva: Religionsdidaktik Grundschule. Handbuch für die Praxis des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts, München 2014
- Stögbauer, Eva: Die Frage nach Gott und dem Leid bei Jugendlichen wahrnehmen: Eine qualitativ-empirische Spurensuche, Bad Heilbrunn 2011
- Szagun, Anna K./Fiedler, Michael: Religiöse Heimaten. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachsen, Jena 2008