Menschenwürde und digitale Kommunikation

von Roland Rosenstock

 

Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen hat sich durch digitale Innovationen nachhaltig verändert. Ihre Welt ist von medialen Erfahrungen durchdrungen. In Anlehnung an den Bremer Kommunikations- und Medienwissenschaftler Friedrich Krotz wird bereits von einer „Mediatisierung der Alltagskultur“ gesprochen.

Auch wenn bis vor kurzem soziale Vernetzung noch nicht auf digitale Medien angewiesen war, bieten technische Möglichkeiten heute den Ausgleich für die Ausrichtung der Städte auf die Massenmotorisierung einer hochentwickelten Industriegesellschaft, die nur noch enge Grenzen einer abenteuerarmen Spielplatzkultur zulässt und die weiter schreitende Unterjüngung einer Gesellschaft, in der Kinder und Jugendliche ihresgleichen zuverlässiger auf online-basierenden Spieleplattformen finden können als in der eigenen Nachbarschaft. Galten früher der Brief und später das Telefon als zentrales Medium, um Freundschaften zu schließen und soziale Gruppen aufzubauen, nutzen Kinder und Jugendliche heute alle Möglichkeiten der digitalen Kommunikation, um miteinander verbunden zu sein. So eröffnet ihnen nicht mehr der klassische Sportverein oder die Kirchengemeinde die Möglichkeit von Kommunikation und Gemeinschaft außerhalb der Familie, sondern das digitale Netz.

Im Blick auf das Hineinwachsen von Heranwachsenden in unsere Gesellschaft hat sich das Internet nach dem Erlanger Erziehungswissenschaftler Benjamin Jörissen zu einem erweiterten sozialen Raum entwickelt, in dem zusammen gespielt, gelernt, recherchiert, eingekauft und neue Gruppen gebildet werden. Da sich das Social Web zu einem Inklusionsraum entwickelt hat, der Möglichkeiten der Partizipation bietet, ist es für Heranwachsende weit interessanter als das Fernsehen. Die Religionspädagogik muss Bildungspotentiale und Kompetenzen noch stärker in den Blick nehmen, die sich durch digitale Kommunikation eröffnen, da nach Jörissen die Verschränkung von Medialität und Bildung auf eine aktive Gestaltung medialer Bildungsräume zielt.

Auch in Zeiten der digitalen Kommunikation gilt: Die Würde wird einem Menschen zugesprochen. Die Sprache schafft einen Raum, in dem der Mensch seine Würde verliehen bekommt und – noch bevor er ein Bewusstsein von sich selbst hat – zu einer Person wird. So spricht die Verfassung von einer „vorgängigen Anerkennung des Menschen als Menschen“ (Wolfgang Maser), wenn das Grundgesetz die Würde als „unantastbar“ bezeichnet und daraus unveräußerliche Grundrechte ableitet, die den Anspruch erheben, für alle Menschen zu gelten.

Darin knüpft die Verfassung an die jüdisch-christliche Erzählung von der Schöpfung an, in der dem Menschen die Würde als Geschöpf und Ebenbild Gottes verliehen wird (Genesis 1,26f.). Doch sollte ebenso hervorgehoben werden, dass aus einem christlichen Wirklichkeitsverständnis heraus das Beziehungsgeschehen des Glaubens einen Menschen zur Person macht (Hartmut Kreß).

Auch in Zeiten der digitalen Kommunikation werden Person und Tat voneinander unterschieden: Die Würde der Person gilt ohne Vorbehalt, auch wenn das Handeln einer Person dazu führen kann, dass ihre Freiheitsrechte eingeschränkt werden. Damit wird der Mensch auch in Beziehung gesetzt zu allen anderen Menschen und es werden ihm Freiheitsrechte verliehen, die in der Relation zu den Freiheitsrechten anderer stehen. Auch hier gilt: Die Würde wird selbst dann geschützt, wenn ein Mord geschieht. Deshalb wendet sich das Grundgesetz gegen die Todesstrafe. Auch hier kann es auf eine zentrale biblische Erzählung zurückgreifen: Eine Tätowierung schützt Kain und macht ihn „unantastbar“ für andere.

Doch was hat sich durch die Entwicklung der digitalen Kommunikation im Blick auf die Würde des Menschen verändert?

Der Wandel von medialen Kulturen erfährt auch eine kulturkritische Bewertung: So prognostiziert der Hirnforschern Manfred Spitzer eine „digitale Demenz“, da mit der Technisierung unseres Lebens auch eine Zunahme an Stress und Gesundheitsschäden verbunden sei. Und die Daten- und Verbraucherschützer verweisen auf die negativen Entwicklungen im Netz, die mit den Gewinninteressen weltweit agierender Unternehmen in Verbindung ständen. Auch verstärken sich die negativen Begleitumstände von Belästigungen und das Risiko der Selbstpräsentation durch eine erweiterte soziale Öffentlichkeit. Dabei geht es auch um die Veränderung von Personalität bzw. Intimität und Öffentlichkeit und um die Einschränkung von Freiheitsrechten.

Anderseits gilt es neue Kompetenzen zu entwickeln: Die eigene Darstellung im Netz lebt von der Kreativität ihres Gestalters, die Fähigkeit outside-the-box zu denken und die schnelle Anpassung an neue Kommunikationswege sind die Schlüsselkompetenzen der digitalen Kommunikation. Das Risiko des Vertrauens entscheidet dabei darüber, ob eine Verbindung eingegangen wird und auch in Zukunft besteht.

Die erweiterten sozialen Räume und die Internetüberwachung durch Unternehmen und Geheimdienste, die das neue Netz produzieren, führen zu der Frage, wie sich das Menschenbild verändert und welche Trends sich durch digitale Kommunikationsplayer wie das börsennotierte Unternehmen „Facebook“ abzeichnen, die in ihrer Unternehmensstrategie eher eine utilitaristische Perspektive verfolgen und in dem explizit Pflichten des eingeloggten Mitglieds gegenüber dem Unternehmen formuliert werden. Facebook erlangt dabei zentrale Profilinformationen (Name, Adresse, Geburtsdatum, Fotos, Freunde, IP-Adresse etc.), analysiert die Aktivitäten, erhält demographiebezogene Nutzungsstatistiken und verkauft diese zielgruppenpräzise an Werbekunden. Dabei werden auch Daten erhoben, die zu Nutzern gehören, die selbst nicht Mitglieder bei Facebook sind.

Vielleicht sollte das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung (BVerfGE Volkszählungsurteil von 1983) künftig auch als Menschenrecht verstanden werden, wie dies in Anlehnung an die Europäische Menschenrechtskonvention vom Europäischen Parlament gefordert wird. Aufgrund des Wissens um diese Geschäftspraktiken wird es jedenfalls immer wichtiger – im Sinne einer Mediennutzerethik – die eigene Haltung im Blick auf die digitalen Kommunikationsmedien zu überprüfen: Wie wird mit meiner Person, meinen persönlichen Rechten und meiner Privatsphäre umgegangen? Findet ein respekt- und verantwortungsvoller Umgang mit meiner Person und meinen Rechten statt? Welche Einschränkungen werden in den „Allgemeinen Nutzerinformationen“ gegeben? Ist es ethisch verantwortlich, dass ich bei der Anmeldung wahrheitsgetreu meine sämtlichen privaten Daten mitteilen soll? Weitere Fragen ergeben sich in der Verantwortung eines Unternehmens wie amazon gegenüber den eigenen Mitarbeitern: Handelt das Unternehmen sozial verantwortlich (Corporate Social Responsibility)? Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Daten. Aber er droht immer mehr darauf reduziert zu werden (Gesundheitskarte, Biometrische Datenbanken, IP-Erfassungssysteme etc.).

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist heute Teil der Würde des Menschen und Datenschutz wird zu einer zentralen Bildungsaufgabe. Als Nutzer kann ich mich aus Sozialen Netzwerken zurückziehen, die die Freiheitsrechte und den Datenschutz missachten, kann die eigenen privaten Profileinstellungen verändern, den Chat deaktivieren und so verhindern, dass alle sehen, dass ich online bin, ich kann auch einen gefälschten Namen benutzen, um so den Anspruch auf den totalen Zugriff auf die eigenen Daten ethisch zu de-legitimieren. Jedenfalls besteht in der evangelischen Ethik auch ein Recht darauf die Unwahrheit zu sagen. „Was heißt es die Wahrheit zu sagen?“ kann im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer auch bedeuten, dass es legitim ist, in einer erweiterten Öffentlichkeit zu lügen, wenn die Legitimität des Fragenden ethisch fraglich bleibt. Allerdings wird auch dafür eine mediale Kompetenz benötigt, die erst erworben werden muss.

Kinder und Jugendliche suchen soziale Räume auf, um aneinander zu reifen, sich kennen zu lernen, ihre Kreativität in der Selbstdarstellung in einem erweiterten sozialen Raum auszutesten. Betrachtet man sich unter diesen Aspekten Profilbilder von Jugendlichen auf sozialen Netzwerken, so wird auffällig, dass weniger eine besondere ästhetisierende Darstellung im Vordergrund steht, sondern Fotos gewählt werden, die zweierlei Dinge tun: Erstens verhüllen sie und zweitens erzählen sie eine bestimmte Geschichte. Anders als Erwachsene oft denken, wissen Jugendliche in der Regel um die Schwierigkeiten, die mit der Veröffentlichung eigener Bilder und Namen im Netz einhergehen. Dass diese Kompetenz sich in solchen Ausdrucksformen niederschlägt, muss gegenüber den Pädagogen geltend gemacht werden, die ihre Kritik allein von außen formulieren, ohne sich die Mühe zu machen, sich von Jugendlichen die digitalen Welten und ethischen Herausforderungen von Innen heraus erklären zu lassen. Dass häufig Bilder gewählt werden, die den Ausschnitt einer Situation zeigen und Bilder, die klassischen Bewerbungsfotos und Passbildern gleichkommen, zunehmend seltener werden, verrät zudem etwas vom modernen Verständnis dessen, was ein Bildnis eigentlich ist: Es vergegenwärtigt etwas Abwesendes stellvertretend. Die Profile auf Facebook sind zu vergleichen mit Masken. Und der eigene Avatar wird zum Stellvertreter einer digitalen Spielkultur. Somit tritt in der digitalen Kommunikation wieder die ursprüngliche Bedeutung des Wortes personare hervor.

Soziale Netzwerke übernehmen heute eine lebensbegleitende Funktion von Menschen. Hierbei übernehmen sie auch Funktionen, die bislang religiöse Systeme wahrgenommen haben. Dabei stehen nicht nur die Lebensübergänge im Mittelpunkt: Es besteht heute für jeden Nutzer die Möglichkeit, eine eigene mediale Autobiographie oder Familiengeschichte zu erstellen. Im Form eines öffentlichen Tagebuchs kann ich meinem digitalen Leben einen roten Faden geben, wie es einst Augustinus mit seinen öffentlichen Bekenntnissen tat, bislang aber nur Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vorbehalten blieb. Dabei bleibe ich selbst der Hüter von dem, was ich veröffentliche und was die Netzöffentlichkeit nicht erfahren soll. Wenn den Nutzern sozialer Netzwerke wie Facebook die Möglichkeit weitestgehend entzogen wird, Daten zu löschen, die sie während ihrer Bewegung durch das Netz hinterlassen, dann gibt es auch ein Menschenrecht auf das Verschweigen: Was ich nicht aus meinen Händen geben kann, sollte ich auch nicht im Netz veröffentlichen. Denn auf das, was mit meinen Daten geschieht und wo sie einmal auftauchen werden, habe ich selbst keinen Einfluss mehr.

Die lebensbegleitende Funktion sozialer Netzwerke führt auch zu positiven Veränderungen innerhalb einer Gedächtniskultur und neuen Ritualen: Ein Freund, der plötzlich stirbt, erfährt auf seiner Netzwerkseite einen Trauer- und Gedächtnisort. Dort schreiben Menschen ein letztes Geleit, eine digitale Stätte der Trauer wird errichtet. Die Würde geht über den Tod hinaus und ein öffentliches Gedächtnis ist ortsunabhängig möglich. Doch wem gehören meine Bilder, meine Texte, meine Musik, meine Filme und meine medialen Gedanken, wenn ich einmal gestorben bin? Wer darf meine Chatkommunikation auswerten? Es gibt bereits Agenturen, die sich mit Rechtsentwürfen und Hinterbliebenenerklärungen beschäftigen. Glaubt man den Worten von Eric Schmidt, dem Chef des Aufsichtsrates von Google, generieren wir zur Zeit mehr Informationen als in der gesamten restlichen Geschichte der Menschheit. Damit wird unser Jahrhundert für künftige Historiker zur bestdokumentiertesten Zeit der Alltags- und Kommunikationskultur.

Doch führt die erweiterte Öffentlichkeit auch zu Phänomenen, die den Schutz der Menschenwürde vor neue Herausforderungen stellt. „Cybermobbing“ wird gemeinhin die Belästigung, Diffamierung oder Erniedrigung in einer digitalen Kommunikationswelt bezeichnet. Als wesentliche Unterschiede zum klassischen Mobbingverhalten gilt die Anonymität der Täter und die größere Öffentlichkeit. Doch nicht eine restriktive Medienerziehung, sondern eine präventive Arbeit mit Jugendlichen kann als wirksamstes Mittel gegen das Mobbing im erweiterten sozialen Raum empfohlen werden. Dazu dürfte in der evangelischen Ethik auch das Gebot der Feindesliebe gehören (Matthäus 5, 43ff.), das gerade im Zeitalter der digitalen Kommunikation nichts von seiner Provokation eingebüßt hat.

Im Sinne des Grundgesetzes gilt es, die Person zu schützen. Aufgrund der Entwicklung der digitalen Kommunikation kann dieser Schutz aber nicht allein durch staatliche Gewalt geschehen. Denn schützen kann sich die Person nur selbstverantwortlich als Subjekt: Der Begriff „Würde“ fordert nicht weniger als die Herausbildung der notwendigen Kompetenzen zum fähigen Umgang mit der mediatisierten Welt.


Literatur

  • Bonhoeffer, Dietrich: Konspiration und Haft 1940-1945, Gütersloh 2001 (DBW 16).
  • Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (Hrsg.): BfDI-Info 1. Bundesdatenschutzgesetz. Text und Erläuterung, 15. Auflage Bonn 2011.
  • Jörissen, Benjamin: „Medienbildung“. Begriffsverständnisse und -reichweiten, in: Medienbildung und Medienkompetenz. Beiträge zu Schlüsselbegriffen der Medienpädagogik, hrsg. v. Moder, Heinz / Grell, Petra / Niesyto, Horst, München 2011, S. 211-235.
  • Klicksafe Redaktion: Facebook für Minderjährige – Leitfaden zum Schutz der Privatsphäre in Sozialen Netzwerken – Facebook, Düsseldorf 2011.
  • Kreß, Hartmut: Art. Person, Persönlichkeit, Personrecht, Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart/ Berlin/Köln 2001, Sp. 1222-1226.
  • Krotz, Friedrich / Hepp, Andreas (Hg.): Mediatisierte Welten. Beschreibungsansätze und Forschungsfelder, Wiesbaden 2012.
  • Maser, Wolfgang: Art. Würde, Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart/ Berlin/ Köln 2001, Sp.1836-1838.
  • Spitzer, Manfred: Digitale Demenz, München 2012.
  • Stapf, Ingrid / Lauber, Achim / Fuhs, Burkhard / Rosenstock, Roland (Hgg.): Kinder im Social Web. Qualität in der Kinder–MedienKultur, Baden-Baden 2012.