Schaffe ihr Recht!“ (vgl. Lk 18,3), baten sie für ihre Schwester – wieder und wieder. Zu kompliziert, dachte ich, zu schwierig, zu weit weg. – Warum wir? In Hamburg nahm Brot & Rosen (www.brot-und-rosen.de) sie auf. Ich schämte mich, weil ich nicht hatte hören wollen – all die Briefe und Anrufe. Als ich sie das erste Mal sah, schaute sie kaum hoch und sprach sehr leise. Schon einen Tag später traf ich sie wieder. Sie strahlte und umarmte mich: das erste Mal in ihrem Leben ein eigenes Zimmer, ein eigenes Bett, eine eigene Tür, die man schließen konnte.
Sie war zwölf Jahre alt, als sie verheiratet wurde – ein Kind. Sie lebte als Arbeitssklavin mitten in unserem Europa, mitten unter uns. Niemand nahm es wahr. Geflohen aus der Ehe, beschädigt an Leib und Seele, auf der Flucht seit Jahren. Der Kirchenkreis nahm sie ins Kirchenasyl. Und seit Kurzem ist es Wirklichkeit: Ein Richter erbarmte sich angesichts der Gutachten, der Glaubwürdigkeitszeugnisse, die wir lieferten. Sie darf bleiben. „Muss ich nie wieder Angst haben?“, fragte sie, als sie es verstanden hatte. Nie wieder, Schwester!
„Schaffe ihnen Recht!“ Sie waren geflohen aus Syrien über die Türkei und dann mit einem klapprigen Holzschiff bis an die Küste Italiens. Mitten in der Nacht wurden sie am Strand ausgesetzt. Die italienische Polizei nahm ihre Fingerprints und brachte sie zunächst einmal unter. Die Eltern, die in Deutschland leben, kamen, um die Familie abzuholen. Sie wurden in Bayern gefasst. Einen Monat saßen die beiden alten Leute in Haft wegen Schlepperei.
Die Rückschiebung der Familie nach Italien war beschlossene Sache, das Erstaufnahmeland in Europa ist zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens. Doch die Familie hatte nur Angehörige in Deutschland. Nach mehreren Abschiebeversuchen floh die Familie ins Kirchenasyl. Ein Jahr dauerte es, bis die Zuständigkeit für das Asylverfahren auf Deutschland überging. Währenddessen zahlte die Kirchengemeinde den Unterhalt für alle, medizinische Versorgung, Gutachten, Therapie. Die Kinder gingen zur Schule, denn wenigstens das ist gewährleistet: Kinder – egal welchen Aufenthaltsstatus sie haben – dürfen zur Schule gehen. Alle konnten gut Deutsch nach diesem Jahr, denn auch die Eltern hatten Hilfe für den Spracherwerb bekommen. Inzwischen haben sie ihren Asylbescheid erhalten. Sie dürfen bleiben.
Den Unsinn dieser europäischen Asylpolitik kritisieren viele. Doch trotz all der Toten an den EU-Außengrenzen, trotz all der verzweifelten, entwurzelten Menschen, die durch ganz Europa geschoben werden, statt ein Mitspracherecht bei der Frage ihres Aufenthaltes zu erhalten, wird diese Abschottungspolitik weiter zementiert.
Gerade besonders vulnerable Personengruppen (Menschen mit Behinderung, schwangere Frauen, alleinstehende Frauen mit Kindern, schwerst traumatisierte Personen, unbegleitete Minderjährige) fallen im deutschen Asylrecht durch alle Maschen: keine Hilfe, die vorab über das Asylverfahren aufklärt, kein Schutzmechanismus, der vorab greift. Sondern ein Asylverfahren, das erst mit der letzten Frage auf die Gründe für die Flucht zu sprechen kommt. Die Glaubwürdigkeit der Personen wird in diesem Verfahren oftmals zerstört, weil es zuerst um die Herkunft und den Fluchtweg geht, den viele nicht preisgeben mögen, weil sie kaum Vertrauen in Behörden haben, die sie aus ihrem Heimatland oftmals fürchten. So geht schief, was schief gehen muss.
Genau deshalb entstehen Kirchenasyle. Sowohl, wenn es um die Abschiebung ins Herkunftsland geht, als auch um die Rückschiebung innerhalb Europas. Menschen hören die Geschichten der Geflüchteten – sie hören zu, sie hören hin. Sie heilen den Glaubwürdigkeitsverlust der Betroffenen durch ihr Zeugnis. In über 70 Prozent der Kirchenasylfälle in Deutschland durften die Menschen bleiben. Kirchenasyl ist ein zutiefst demokratisches Instrument, das weltweit von Kirchen praktiziert wird und den Menschenrechten aufhilft. Selbst wenn es mancher Staatsanwaltschaft gelingt, Anzeigen zu formulieren, die die „Unterstützung im illegalen Aufenthalt“ bestrafen wollen. Spätestens, wenn die Verwaltungsgerichte positiv über die geschützten Personen und ihre Asylanträge entscheiden, ist klar, wie sehr diese kirchliche und aus christlich-biblischen Motiven gespeiste Haltung Artikel 1 unseres Grundgesetzes aufhilft.
„Ich war fremd, ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25) – die Bibel ist ein Buch der Migrantinnen und Flüchtlinge, der Menschen auf der Wanderung, der Verfolgten und Asylsuchenden, der Entwurzelten und Heimatsuchenden. Wie gut, wenn dies nicht vergessen wird.