Die Verkündigung des Reiches Gottes gehört zu den wesentlichen Kennzeichen des Wirkens Jesu – darin sind sich die ersten drei Evangelien des Neuen Testaments einig.1 Das außerkanonische Thomas-Evangelium erweckt den gleichen Eindruck;2 und indirekt wird dieser auch durch das Evangelium nach Johannes bestätigt.3
Dieser literarische Befund bedarf freilich einer historischen Prüfung – so gewiss der christliche Glaube darauf gründet, dass Gott in dem Menschen Jesus, also in einer geschichtlichen Gestalt offenbar geworden ist. Solch eine Prüfung sollte neueren Einsichten der Jesus-Forschung zufolge unter zwei einschränkenden, aber klärenden Bedingungen erfolgen:
1. Eine kritische Analyse der literarischen Zeugnisse über Jesus kann deren Entstehungsgeschichte nie weiter zurückverfolgen als bis zu dem Eindruck, den sein Wirken und sein Geschick bei deren ersten Zeugen hervorgerufen haben. Die Re-Konstruktion dieses Eindrucks, wie er sich in mündlichen Überlieferungen niedergeschlagen hat, ist daher das Ziel der historischen Rückfrage nach Jesus.4
2. Eine Gestalt der Geschichte unterscheidet sich von fiktiven Gestalten „dadurch, daß sie nur in einem bestimmten historischen Kontext vorstellbar ist […] und aus ihren historischen Wirkungen, nämlich den von ihr zeugenden Quellen, erkannt werden kann“. Demgemäß darf in den Quellen zu Jesus das als historisch plausibel gelten, „was sich als Auswirkung Jesu begreifen lässt und gleichzeitig nur in einem jüdischen Kontext entstanden sein kann“.5
Unter diesen Bedingungen ist nun festzustellen: Aller Wahrscheinlichkeit nach basiert der eingangs genannte Befund auf einer verlässlichen Erinnerung an das Auftreten Jesu.6 Denn als Prediger des Reiches Gottes entspricht Jesus allen Kriterien für die plausible Re-Konstruktion einer geschichtlichen Gestalt: Er lässt sich so zugleich im palästinischen Judentum seiner Zeit verorten und als Ausgangspunkt der vom Christusglauben geprägten Überlieferung verstehen – und behält dabei gegenüber zeitgenössisch-jüdischen Kontexten und frühchristlichen Folgetexten doch sein eigenes Profil. Die Konturen dieses Profils möchte ich im Folgenden nachzeichnen.
Unaufhaltsame Störung
(18)„Wem ist das Reich Gottes gleich, und womit soll ich es vergleichen? Es ist gleich einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und in seinen Garten warf; (19)und es wuchs und wurde zu einem Baum, und die Vögel des Himmels fanden Zuflucht in seinen Zweigen.“
Mit diesem Gleichnis (Lk 13,18f.), so erzählt Lukas, kommentiert Jesus die Heilung, die er einer seit 18 Jahren kranken Frau am Sabbat in der Synagoge gewährt hat; er reagiert damit auf das zwiespältige, Protest und Jubel einschließende Echo, das die Sabbatheilung bei den Anwesenden gefunden hat (Lk 13,10-17). Das Gleichnis dient also dazu, das ebenso Anstoß erregende wie Freude spendende Wirken Jesu öffentlich zu erläutern. Dieser Funktion7 entsprechen sowohl die formale Gestaltung als auch die inhaltliche Fokussierung des Textes:
- Wie der Satzbau zeigt, erzählt Jesus von der Aktion eines Menschen (V. 18b-c) und ihren – gewaltigen – Folgen (V. 19).
- Die auffällige Wortwahl gibt der Erzählung das Gepräge einer Parabel: Dass jemand ein Senfkorn in die Hand nimmt und in seinen Garten wirft, mutet geradezu komisch an; dass daraus ein Baum entsteht, der den Vögeln Zuflucht bietet, erscheint zumindest übertrieben.8
- Die Motivik in V. 19 lässt die Sprache anklingen, mit der im antiken Judentum die universale Dimension des für die Zukunft erwarteten Heilshandelns Gottes ausgedrückt wurde. So erinnert das Bild des großen, schützenden Baums an die Darstellung des messianischen Reiches als einer Zeder in Ez 17,22-24.9Umso mehr überrascht, dass Jesus das Heilsgeschehen in einer Senfstaude abbildet.
- In kulturgeschichtlicher Perspektive wirkt das Erzählte vollends grotesk. Senf galt seinerzeit in Palästina nicht als Garten-, sondern als Feldpflanze; Juden sollten sie deshalb von Gartenbeeten fernhalten.10 Zudem war Senf dafür bekannt, andere Pflanzen zu überwuchern und sich schon nach einmaliger Aussaat unausrottbar im Erdboden festzusetzen.11
Insgesamt stellt Jesus somit in diesem Gleichnis das Reich Gottes als ein Gewächs dar, das sich, einmal ausgesät, in der Welt unaufhaltsam durchsetzt – und am Ende alle Völker überspannt. Dabei wirkt es von Anfang an störend. Diese Störung ist gewiss heilvoll, läuft jedoch den gängigen Heilserwartungen zuwider.12
Als den Urheber dieser Störung aber präsentiert Jesus sich selbst; durch sein wunderbar-anstößiges Wirken drängt sich das Reich Gottes gleichsam in die Welt hinein. Dieser Zusammenhang bedarf freilich genauerer Betrachtung.
Überbordende Zukunft
„Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist das Reich Gottes zu euch gelangt.“ In diesem Satz (Lk 11,20) gipfelt Jesu Stellungnahme zu einer Diskussion über Ursprung und Bedeutung seines Heilens von Besessenen (Lk 11,14-23). Dabei wurde ihm sogar unterstellt, mit Beelzebul, dem Herrscher der Dämonen, im Bunde zu stehen. Jesus begegnet diesem Verdacht mit dem triftigen Argument, dass dann das Reich des Bösen sich selbst bekriegen und zerstören würde. Es ist vielmehr Gott, der durch Jesus Menschen von Dämonen befreit.13 Darin aber kommt nun seines Erachtens zum Ausdruck, dass der Satan grundsätzlich überwunden worden ist (vgl. Mk 3,27). „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel stürzen“, sagt Jesus andernorts (Lk 10,18). Und deshalb wird in seinen Exorzismen das Reich Gottes in nuce auf Erden präsent.14
Diese Präsenz ist partikular gedacht: Jesus zufolge wird Gottes Reich je und dann Ereignis, wenn er Menschen aus der Besatzung durch gottfeindliche Mächte herausführt. Seine Rede vom Reich Gottes ist daher von der Vorstellung, dass Gott als König sein Volk Israel regiert (Ps 99) oder durch alle Zeiten hindurch die Schöpfung fürsorglich durchwaltet (vgl. Ps 145,10-20), zu unterscheiden. Mit der Idee eines gegenwärtigen Gottesreiches, in dem Menschen mit Hilfe der Weisheit ein tugendhaftes Leben führen (vgl. Weish 10,10-12), hat sie ebenfalls wenig gemein. Andererseits ist jenes Ereignis nicht an bestimmte Zeiten oder Orte gebunden; was Jesus meint, lässt sich also auch nur bedingt mit der Anschauung vergleichen, man erhalte durch Kult und Gebet auf Erden Anteil am himmlischen Reich Gottes.15
Als Verständnishintergrund für die Verkündigung Jesu eignet sich am ehesten die prophetische Verheißung, Gott werde sich künftig gegen all seine Feinde durchsetzen, seine Heilszusagen an Israel erfüllen und auf diese Weise sein Reich auf Erden aufrichten (vgl. Jes 52,7; Sach 14,9 u. ö.). Diese Verheißung blieb im antiken Judentum durch Gebete weithin im Bewusstsein;16 und in apokalyptischen Schriften wurde sie in die Erwartung einer neuen Welt überführt17. Vor diesem Hintergrund ist Jesu Rede von der Präsenz des Reiches als Hinweis darauf zu verstehen, dass durch sein Wirken die Heilshoffnungen Israels Erfüllung finden und die beschädigte Schöpfung erneuert wird. Eben dies bringen im Blick auf seine Heilungen zum einen er selbst, zum andern deren Augenzeugen zur Sprache (vgl. Mt 11,5 und Mk 7,37).
Freilich ist damit die Zukunftserwartung nicht erledigt – im Gegenteil. Jesus kündigt an, nach seinem Tod aufs Neue an einem Festmahl teilzunehmen – im Reich Gottes (Mk 14,25); er prophezeit den Zustrom der Völkerwelt zu diesem Festmahl, das in der Gemeinschaft mit Abraham, Isaak und Jakob gefeiert werde (Mt 8,11); er lehrt seine Jünger, um das Kommen des Reiches zu beten (Lk 11,2), und weist auf die Gefahr hin, den Eingang in dieses Reich zu verpassen (Mk 9,47 u. ö.). Möglicherweise sprach er auch davon, dass es in Kürze kommen werde (vgl. Mk 9,1).18
Andererseits geht es nicht an, angesichts solcher Zukunftserwartung die Heilungen und Exorzismen Jesu zu bloßen „Zeichen“ des nahe bevorstehenden Reiches zu erklären;19 in diesen Taten erfahren Menschen das Reich als gegenwärtige Wirklichkeit.20 Auch die Anschauung, das Reich sei „angebrochen“21, passt nicht recht; sie steht ihrerseits in der Gefahr, die Qualität jener Erfahrungen einzuschränken.22 Am besten erklärt man das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes wohl in Analogie zu antiken Herrschaftsvollzügen. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass der Herrscher oder ein Bevollmächtigter erschien und seine Macht ausübte. Das Reich Gottes ist demnach insofern auf Erden präsent, als der Bevollmächtigte Gottes, Jesus, zu „Besuch“ kommt und Gottes Herrschaft zur Geltung bringt. Zukünftig aber wird Gott selbst mit der Welt bleibend zusammenkommen.23 Man kann deshalb sagen, dass Gottes Reich „sich von der Zukunft bis in die Gegenwart herein erstreckt“24. In diesem Sinne ist, wie es in Mk 1,15 heißt, „die Zeit erfüllt und das Reich Gottes nahe gekommen“: Im Wirken Jesu drängt dieses Reich die Zeit so zusammen, dass Gottes Zukunft die Gegenwart in Beschlag nimmt.
Dies geschieht freilich noch nicht universal, sondern zunächst einmal bei „euch“ (Lk 10,9; 11,20; 17,21). Wie ist diese personale Zuordnung zu verstehen?
Wahrzunehmende Befreiung
Der Verkündigung Jesu zufolge kommt das Reich Gottes in erster Linie den Bedrängten und Benachteiligten zugute: den Kranken und Besessenen (s. o.); denen, die arm sind, hungern oder weinen (Lk 6,20 f.); den Kindern (Mk 10,14). Ihrer nimmt sich Jesus an, wendet ihre Not25 und spricht ihnen – für Zukunft und Gegenwart – die Teilhabe am Reich Gottes zu. Das Gleiche gilt für Zöllner und andere Sünder, denen er sich besonders nachdrücklich zuwendet und ihnen dabei Vergebung und Gemeinschaft gewährt (vgl. Mk 2,17 und Mt 11,19; 18,23-27).26
Die verheißungsvoll-gegenwärtige Teilhabe bestimmter Menschen am Reich Gottes ist allerdings auf dreifache Weise qualifiziert:
- Sie hat fragmentarischen Charakter, insofern sie an die Begegnung mit Jesus – oder zumindest mit den von ihm entsandten Jüngern (Lk 10,3-9) – gebunden ist.
- Sie gibt dem Leben jener Menschen eine neue Basis und eine neue Richtung. Fortan gilt es, das eigene Leben dem Reich Gottes gemäß zu gestalten: die geschenkte Freiheit vom Dämon zu bewahren (vgl. Lk 11,24-26), umzukehren von der Sünde (Joh 8,11) und auch selbst anderen zu vergeben (vgl. Mt 6,12; 18,33).
- Sie fordert volle Aufmerksamkeit bei allen, die sie miterleben. „Das Reich Gottes ist zu euch gelangt“: Mit dieser Ansage in Lk 11,20 (vgl. 10,9; 17,21) wendet sich Jesus gar nicht zuerst an die von ihm Geheilten, sondern an deren Nachbarn und Zeitgenossen – nicht zuletzt an die, die seine Heilungen skeptisch beäugen. Sie ruft er dann auch auf umzukehren, d. h., das durch ihn vergegenwärtigte Reich Gottes willkommen zu heißen und entsprechend zu leben (vgl. Lk 10,13; 11,32). Ähnliches gilt für diejenigen, die Zeugen seiner Hinwendung zu Kindern oder Sündern werden: „Lasst sie zu mir kommen, hindert sie nicht!“ (Mk 10,14), sagt Jesus, und: „Freut euch mit mir, denn ich habe […] gefunden, was verloren war!“ (Lk 15,6.9). Ja, mit dem „Evangelium vom Reich“ (Mt 4,23 u. ö.) richtet er seinen Ruf zur Umkehr an alle Menschen, denen er in Israel begegnet (Mk 1,15).27
Die Befreiung, die Gottes Reich durch Jesu Wirken bringt, drängt also darauf, von den Menschen wahr–, an- und ernst genommen zu werden. Dieser Drang hat eine ungeheure Intensität: Unentschiedenheit lässt er nicht zu (vgl. Lk 11,23). „Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr zugrunde gehen“, sagt Jesus seinen Zeitgenossen (Lk 13,3.5);28 denn in Gottes Reich einzugehen, das heißt, ins Leben einzugehen, gerettet zu werden (vgl. Mk 9,43-47 und 10,25f.). Jenem Drang zu folgen, ist demnach das Gebot der Stunde. Doch damit hat es seine eigene Bewandtnis.
Anspruchsvolle Leichtigkeit
Gottes Reich willkommen heißen – im Grunde versteht sich das von selbst. Wenn schon die Königin von Saba nach Jerusalem „kam, um die Weisheit Salomos zu hören“ und die Männer von Ninive „auf die Predigt des Jona hin umkehrten“, um wie viel mehr muss die Verkündigung Jesu bei seinen Mitmenschen Gehör finden; durch ihn geschieht ja weit „Größeres“ als durch Salomo oder Jona (vgl. Lk 11,31f.)! Und angesichts der „Machttaten“, die Jesus in bestimmten Dörfern Galiläas vollbracht hat, hätten wohl sogar die gottlosen Städte Tyrus und Sidon „in Sack und Asche Buße getan“ (Mt 11,21). Was zu tun ist, ist zudem kinderleicht; es geht zunächst allein darum, das Reich Gottes zu „empfangen wie ein Kind“ (Mk 10,15), d. h., Gottes heilvolle Zuwendung vertrauensvoll und rückhaltlos anzunehmen.29 Wer dann aus dieser Zuwendung heraus lebt und sich ganz darauf ausrichtet (vgl. Mt 13,45f.), gewinnt eine wunderbare Leichtigkeit des Seins: Er oder sie lernt, im Heute zu leben, auf die großzügige Fürsorge des Schöpfers zu vertrauen30 und die eigene Sorge um das Morgen im Gebet an Gott abzutreten (vgl. Mt 6,33f. und 6,11).
Und doch ist das Echo auf Jesus und seine Mission geteilt (vgl. Lk 10,8-11). Seinem Ruf folgen solche, die man für „unmündig“ hält (Mt 11,25), „Zöllner und Sünder“ (Mk 2,15), Leute von „den Straßen und Gassen“ (Lk 14,21). Andere aber schlagen die Einladung ins Reich Gottes aus und weigern sich umzukehren (vgl. Lk 14,15-20 und 10,13; 11,32). Gerade „Weisen und Verständigen“ bleibt offenbar „verborgen“, worum es Jesus geht (vgl. Mt 11,25). Bei manchen stößt er gar auf Widerstand (vgl. Mt 11,12), und viele nehmen „Anstoß“ an seiner Botschaft (Mk 6,3, vgl. Mt 11,6).
Dazu besteht durchaus Anlass. Denn diese Botschaft wirkt – wie ja bereits das Gleichnis vom Senfkorn zeigt (s. o.) – in mehrfacher Hinsicht anstößig:
- „Gottes Reich ist zu euch gelangt!“, das ist ein vollmundiger Anspruch. Wird er durch das Wirken Jesu gedeckt? Ist das Gute, was da geschieht, nicht allzu fragmentarisch; müssten nicht etwa auch die Gefangenen freikommen?31 Wie passt sein Auftreten zu seiner allseits bekannten Herkunft (vgl. Mk 6,2f.)? Und ließen sich seine Machttaten nicht auch ganz anders erklären (vgl. Lk 11,15)?
- Die vorbehaltlose Güte, mit der Jesus noch den Menschen an den Rändern der Gesellschaft begegnet (vgl. Lk 19,5 u. ö.), provoziert Protest (vgl. Mk 2,16). Jesus geht in Bildworten (Mk 2,17a) und Gleichnissen (Mt 20,10-15; Lk 15,25-32) darauf ein, doch die Frage bleibt: Ist diese Güte im Namen Gottes gerecht(fertigt)?
- Die Erwartungen an diejenigen, die ins Reich Gottes eintreten wollen, sind hoch: Sie müssen die Zuschauerperspektive aufgeben und im eigenen Leben umsetzen, was Jesus verkündet (vgl. Lk 11,27f.; 13,24-27). Dabei gilt es, sich von selbstsüchtigen Begierden zu befreien (vgl. Mk 9,43-47) und Bindungen, wie sie zumal vom Reichtum ausgehen, zu lösen (vgl. Mk 10,25; Mt 6,24). Radikale Forderungen erhebt Jesus dann an jene, die ihn bei seiner Mission unterstützen: Ohne Heimat und fern der Familie (vgl. Mk 10,29; Lk 9,57-60), weitgehend schutz- und besitzlos (vgl. Mk 6,8f.; Lk 10,3f.), sind sie ganz auf die Gastfreundschaft derer verwiesen, denen sie im Auftrag Jesu das Reich Gottes verkündigen (Mk 6,10f.; Lk 10,5-9).
- Nicht zuletzt: Die Festfreude, die das Leben Jesu und seiner Nachfolger bestimmt, weckt Skepsis – zumal dort, wo sie zum Bruch mit religiösen Konventionen führt (vgl. Mk 2,18f.). Hat solche Freude nicht jedes vernünftige Maß verloren?
Jesu Botschaft vom Reich Gottes drängt, so lässt sich festhalten, bei aller Ernsthaftigkeit zu einer überaus fröhlichen und zuversichtlichen Sicht auf die Wirklichkeit: „Selig die Augen, die sehen, was ihr seht!“, sagt er (Lk 10,23), und: „Alles ist möglich bei Gott!“ (Mk 10,27). Bei solch einer Sicht entdeckt man, dass Gott hier und jetzt handelt: heilend, befreiend, neu-schöpferisch – und dass eben dadurch Gottes Reich, dem die Zukunft gehört, Welt und Gegenwart durchdringt. Man entdeckt, mit anderen Worten, „das Geheimnis des Reiches Gottes“ (Mk 4,11). Doch sich auf dieses Geheimnis einzulassen, ihm das eigene Leben zu widmen – das ist angesichts all dessen, was dagegen spricht, eine große Herausforderung.
Ferne Vergangenheit?
Die Annahme der Verkündigung des Reiches Gottes hing von Anfang an daran, dass Menschen einen „lebendigen“ Eindruck von Jesus gewannen – und sei es vermittelt durch die von ihm ausgesandten Boten (vgl. Lk 10,16). Wie aber soll dann diese Verkündigung wirken, nachdem Jesus am Kreuz gestorben ist? Und wie, wenn es keine Augenzeugen mehr gibt? Verliert sich die Botschaft, verliert sich die Präsenz des Reiches Gottes dann in der Vergangenheit?
Die letztgenannte Frage ist im Sinne des frühchristlichen Bekenntnisses entschieden zu verneinen. Denn Gott hat Jesus von den Toten auferweckt (vgl. Mk 16,6) – und damit dreierlei getan: erstens Jesus mit seinem Wirken gegen alle kritischen Anfragen ins Recht gesetzt; zweitens die Macht des Todes gebrochen und insofern Gottes Reich aufs Neue gegenwärtig werden lassen; drittens Jesus zu sich in die Ewigkeit genommen und ihm auf diese Weise neue, unvergängliche Möglichkeiten gegeben, Menschen anzusprechen und ihnen nahe zu kommen. So schafft der Auferstandene neu und bleibend, was der Irdische zu seinen Lebzeiten punktuell gestiftet hat: heilvolle Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch.
Die frühchristlichen Evangelien erschließen deshalb ihren Lesern und Leserinnen die aktuelle Bedeutung der Reich-Gottes-Botschaft Jesu, indem sie Jesus selbst als den Lebendigen in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen rücken.32 Sie beschreiten dabei allerdings verschiedene Wege. Grob kann man zunächst zwei Denkmodelle unterscheiden: Das Evangelium nach Markus und das Evangelium des Thomas sehen die Christusgläubigen primär durch das Wort der Zeugen Jesu mit ihm selbst verbunden; die Evangelien nach Matthäus und nach Lukas sprechen dem Auferstandenen ein eigenes Reich zu, das er in göttlicher Vollmacht regiert. Genau besehen fallen aber alle vier Konzeptionen – aufgrund je anderer Entstehungssituationen und traditionsgeschichtlicher Prägungen – recht unterschiedlich aus:33
- Markus stellt Gottes Reich als den Bereich der künftigen Heilsvollendung dar (vgl. Mk 9,1; 14,25). Dieser erwächst aus der Predigt des Wortes (vgl. 4,26f.; 14), die Jesus als Ruf zu Umkehr und Glaube begonnen hat (1,14f.). Infolge der Auferweckung des Gekreuzigten tragen seine Jünger sie als „Evangelium von Jesus Christus“ (1,1) in die Völkerwelt (vgl. 13,10; 14,9) – und lassen Jesus so gleichsam selbst mit seinem Ruf in die Nachfolge zu Wort kommen (vgl. 8,35; 10,29).
- Nach Thomas hingegen ist das Reich als „zeitlose Größe“ (vgl. EvThom 113) „ins Herz jedes Glaubenden gesenkt“.34 Dort aber muss man es suchen (vgl. 107) – und kann es nur durch ein besonderes Wissen auffinden: dadurch, dass man sich selbst als Kind des lebendigen Vaters erkennt (3). Zugänglich ist dieses Wissen allein durch „die Interpretation“ (1) der „geheimen Worte, die Jesus der Lebendige sagte und die […] Thomas aufgeschrieben hat“ (Prolog).
- Matthäus wiederum spricht auf dreifache Weise vom Reich: Im Himmelreich wird Gott als Vater einst – nach dem Endgericht – den Menschen, die Gottes Willen der Lehre Jesu gemäß getan haben (vgl. Mt 5,20; 7,21), die Fülle des Heils zukommen lassen (13,49f.; 25,34). Ins Gottesreich, das Jesus mit seinem Wirken vergegenwärtigt hat (12,28), konnten Israeliten aber schon zu seinen Lebzeiten eingehen, indem sie Jesus nachfolgten (19,24) und jenes Reich zur Norm ihres Lebens machten (6,33). Sofern die Jünger Jesu dies weiterhin tun (vgl. 21,43), wirken sie im Reich des Menschensohns (13,41; 16,28; 20,21) als Licht für die Welt (vgl. 5,14-16). Dieses Reich erstreckt sich seit der Auferweckung über den Kosmos (vgl. 28,18; 13,24.38) und ist dadurch bestimmt, dass der Auferstandene bis zur Vollendung der Welt denen gegenwärtig bleibt, die seine Weisungen unter den Völkern zur Geltung bringen (vgl. 28,19f.).
- Lukas schließlich präsentiert die universale Durchsetzung des Reiches Gottes als Prozess (Lk 13,18-21). Dieser wurde durch Jesu Predigen und Heilen eingeleitet (vgl. 4,43; 11,20) und wird mit dem endzeitlichen Festmahl am Tisch der Erzväter Israels vollendet (vgl. 13,28f.; 22,16.18). Die Einladung dazu ergeht an alle Menschen (vgl. 14,16-24) – zuerst durch Jesus in Israel, sodann durch die Jünger auch unter den Völkern (vgl. 24,47f.). Indem aber die Jünger in der Nachfolge Jesu Gottes Reich verkündigen (9,60) und ihr Dasein – nicht zuletzt durch Fürsorge für die Armen (vgl. 12,33; 16,16. 19-31; 18,22) – daran ausrichten (12,31; 18,29f.), leben sie unter der Herrschaft Jesu (1,32f.). Diese übt er nach Ostern als der zu Gott Erhöhte aus (vgl. 19,12), wobei er denen, die sich zu ihm bekennen, Vergebung der Sünden (1,77; 24,47) vermittelt – und damit eine auch durch den Tod nicht zerstörbare Gottesbeziehung (vgl. 23,42f.). Eben deshalb ist den Jüngern Jesu die Teilhabe an Gottes endzeitlichem Reich zugesagt (12,32).
Jeder Evangelist hat also auf seine Weise versucht, die Botschaft Jesu für die eigene Situation fortzuschreiben. Dabei haben sich die Autoren unterschiedlich weit vom Kern dieser Botschaft entfernt; ihre Schriften müssen daher kritisch an diesem Kern – wie er sich durch historische Rückfrage erfassen lässt – gemessen werden. Das Nebeneinander der Konzeptionen aber macht deutlich, dass Menschen jeder Zeit aufgegeben ist, die Reich-Gottes-Botschaft Jesu für die eigene Situation neu auszulegen. Das gilt heute ebenso wie im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. Die frühchristlichen und insonderheit die neutestamentlichen Zeugnisse geben dafür unverzichtbare Anregungen. Von entscheidender Bedeutung dabei wird sein, das Drängen des Reiches Gottes in all seinen Dimensionen wahrzunehmen: als Störung der Welt und Fülle der Zeit, als Befreiung zum Leben und Quelle der Zuversicht – ganz im Sinne des Wortes Jesu: „Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben …“ (Mk 4,11).
Anmerkungen
- Vgl. nur die summarischen Angaben Mk 1,14f.; Mt 4,17.23; 9,35; Lk 4,43f.; 8,1; 9,11.
- Vgl. vor allem die programmatischen Aussagen über das „Königreich“ im Eingangs- und Schlussteil dieser Schrift (EvThom 3; 113), ferner die Logien 20-22.27. 46. 49. 54. 57. 76. 82. 96-99. 107. 109.
- Nach Johannes steht zwar von Anfang (vgl. Joh 1,50f.) bis Ende (vgl. Joh 20,24-29) Jesu eigene Identität als „Sohn Gottes“ im Zentrum seines Redens. Dies dürfte durch das Selbstverständnis der Verfasser dieser Jesus-Erzählung (vgl. Joh 1,14.16) und deren Intention (vgl. Joh 20,31) bedingt sein. Umso bemerkenswerter aber ist, dass Jesus die Frage nach seiner Identität in dem ersten ausführlichen Lehrgespräch, von dem das Evangelium erzählt – dem nächtlichen Gespräch mit Nikodemus (Joh 2,23-3,21) –, von der Erwartung des Reiches Gottes her angeht (vgl. Joh 3,3.5).
- Das Konzept des „erinnerten Jesus“ wurde maßgeblich von James D. G. Dunn entwickelt; vgl. ders., Jesus Remembered, Christianity in the Making Bd. 1, Grand Rapids / Cambridge 2003. Einen guten Einblick in das Konzept (und seine Variationen) eröffnet das Themenheft „Der erinnerte Jesus“: Zeitschrift für Neues Testament [ZNT] Heft 20, Tübingen 2007.
- Vgl. G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 117. Das dort kurz vorgestellte, von D. Winter und G. Theißen entwickelte „historische Plausibilitätskriterium“ konkretisiert sich in folgenden Teilkriterien: „Historische Wirkungsplausibilität haben Jesusüberlieferungen, wenn sie als Auswirkungen des Lebens Jesu verständlich gemacht werden können – teils durch die Übereinstimmung unabhängiger Quellen, teils durch tendenzwidrige Elemente in diesen Quellen.“ (118) „Historische Kontextplausibilität haben Jesusüberlieferungen, wenn sie in den jüdischen Kontext des Wirkens Jesu passen und innerhalb dieses Kontextes als individuelle Erscheinungen erkennbar sind.“ (119) Allerdings werden diese Kriterien m. E. nur dann praktikabel, wenn man sie – statt auf isolierte Überlieferungsstücke – auf in mehreren Texten bezeugte Sachaussagen bezieht.
- Dass die Botschaft vom Reich Gottes im Zentrum der Verkündigung Jesu stand, ist freilich in der Jesus-Forschung seit jeher weithin anerkannt worden (vgl. die Forschungsüberblicke bei Theißen/Merz, Jesus, 22-29 und 223-226). Voten wie das von F. Vouga: „Die Interpretation der mit Jesus verbundenen Lehrtradition, die vom Konzept des Gottesreiches ausgeht, stammt aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Jesus selbst, sondern aus der nachösterlichen Interpretation des Jesus-Ereignisses durch die Tradition einer prophetischen und charismatischen Bewegung“ (ders., Jesus als Erzähler. Überlegungen zu den Gleichnissen, WuD 19, 1987, 63-85, hier 75), sind rare Ausnahmen.
- Auch nach Markus (vgl. Mk 4,30-34) und Matthäus (vgl. Mt 13,31-35) richtet sich das Gleichnis vom Senfkorn primär, im Rahmen der öffentlichen Verkündigung Jesu, an eine Volksmenge, die nur z. T. Verständnis für ihn aufbringt. Zur Jüngerbelehrung dient es erst (wohl sekundär) in EvThom 20.
- Die ausgewachsene Staude wurde höchstens drei Meter hoch und hatte lange, dünne Zweige; auf ihnen konnten sich nur kleinere Vögel für kurze Zeit aufhalten.
- Vgl. ferner 1Henoch 90,30 (zu den „Vögeln des Himmels“ als Bild für die Weltvölker) sowie Joseph und Aseneth 15,7 (zum Motiv der „Zuflucht“, die die Völker bei Gott finden).
- Vgl. die Regelung im Mischna-Traktat Kilajim 3,2.
- Vgl. Plinius, Naturalis historia 19,54[170].
- C. Kähler, Jesu Gleichnisse als Poesie und Therapie. Versuch eines integrativen Zugangs zum kommunikativen Aspekt von Gleichnissen Jesu, WUNT 78, Tübingen 1995, 81, stellt seine Auslegung des Gleichnisses demgemäß unter die Überschrift „Unkraut setzt sich durch“.
- Der Ausdruck „Finger Gottes“ in Lk 11,20 erinnert dabei an Ex 8,12-15: Die Mückenplage wurde von den ägyptischen Magiern als Erweis der Bevollmächtigung Aarons durch Gott anerkannt – doch das verhärtete Herz des Pharao hat selbst dieser Erweis nicht erreicht.
- H. Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, BThSt 20, Neukirchen-Vluyn 1993, spricht diesbezüglich vom „Aufblitzen der Gottesherrschaft im Jetzt“ (29).
- Vgl. dazu z. B. die Sabbatlieder aus Qumran [4Q400-407].
- Vgl. die entsprechenden Bitten im Achtzehnbitten- und im Kaddisch-Gebet.
- Vgl. etwa Testament Dan 5,10-13; Kriegsrolle [1QM] 6,5f.; Assumptio Mosis 10.
- Ob dieses „Terminwort“ und ähnliche Aussagen von Jesus stammen, ist umstritten.
- So z. B. H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments, München 1967, 130f.
- Vgl. Lk 10,9 (im Bezug auf die von Jesus ausgesandten Jünger) sowie Lk 17,20f.; dort weist Jesus Pharisäer (im Rückblick auf die vorangegangene Heilung) explizit darauf hin, dass das Reich Gottes „mitten unter [ihnen]“ sei und sein Kommen nicht anhand von Zeichen berechnet werden könne (vgl. zur Auslegung F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas, Band III: Lk 15,1-19,27, EKK III/3, Düsseldorf u. a. 2001, 165-168).
- Vgl. etwa J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie, Teil I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 99-110: „Die anbrechende königliche Herrschaft Gottes“.
- Wenn ein Tag anbricht, herrscht jedenfalls noch nicht das Sonnenlicht, sondern die Dämmerung.
- Vgl. zu dieser Erklärung C. Burchard, Jesus für die Welt. Über das Verhältnis von Reich Gottes und Mission, in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments, hg. von D. Sänger, WUNT 107, Tübingen 1998, 51-64, hier 56.
- Weder, Gegenwart, 54.
- Das gilt trotz der Zukunftsorientierung in den Seligpreisungen Lk 6,20f. wohl auch für die Armen und Hungernden – wie die Überlieferung von den Speisungswundern (Mk 6,34-44 u. ö.) nahe legt.
- Die Zusammenstellung der Zielgruppen Jesu entspricht damit in etwa der Abfolge von Reichs-, Brot- und Vergebungsbitte im Vaterunser (Lk 11,2-4).
- Dieser Umkehrruf ist daher nicht wie bei Johannes dem Täufer (vgl. Lk 3,7-9) durch das drohende Gericht motiviert.
- Vgl. dazu J. Becker, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth, Neukirchen-Vluyn 1972, 87f.
- Vgl. W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 1998, 261, der zur Deutung von Mk 10,15 mit Recht auf V. 16 verweist: Die Kinder „lassen sich, annahme- und hingabebereit, von ihm [sc. Jesus] umarmen und segnen“.
- Vgl. F. Vouga, Bergpredigt – Politik des Evangeliums? ZNT 24, 2009, 42-47, hier 45.
- Wohl auch deshalb schließt die Antwort, die Jesus dem inhaftierten Täufer auf seine Frage: „Bist du der Kommende, oder sollen wir einen anderen erwarten?“, zukommen lässt, mit dem Aufruf: „Selig ist, wer keinen Anstoß an mir nimmt“ (Mt 11,2-6). Vgl. dagegen die Mt 11,5 nahe stehende, jedoch die Befreiung der Gefangenen einschließende Aufnahme jesajanischer Heilszusagen in der „messianischen Apokalypse“ aus Qumran [4Q521], Frg. 2 Kol. II.
- Zur Legitimität und Notwendigkeit des Vorgangs, „daß nach Ostern an die Stelle von Jesu Verkündigung die Verkündigung Jesu als des Christus, Kyrios und Gottessohnes tritt“, vgl. N. Walter, „Historischer Jesus“ und Osterglaube. Ein Diskussionsbeitrag zur Christologie, in: ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hg. von W. Kraus und F. Wilk, WUNT 98, Tübingen 1997, 56-77, hier 72(f.).
- Zum Folgenden vgl. für die neutestamentlichen Evangelien F. Wilk, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin / New York 2002, 259-261.
- Vgl. H.-J. Klauck, Apokryphe Evangelien. Eine Einführung, Stuttgart 32008, 147f.
Literaturempfehlungen
- Dunn, J. D. G.: Jesus Remembered (s. Anm. 4), § 12: The Kingdom of God (S. 383-487).
- Theißen, G. / Merz, A.: Der historische Jesus (s. Anm. 5), § 9: Jesus als Prophet. Die Eschatologie Jesu (S.221-255).