Reich Gottes und Seele

von Christof Gestrich

 

I.

Das Neue Testament dokumentiert, dass Jesus von Nazareth als Zeuge und Repräsentant des Reiches Gottes aufgetreten ist. Aus der prophetischen Tradition Israels von Jesaja bis Daniel war die Größe ‚Reich Gottes’ längst bekannt. Unbekannt aber war in Israel, wann es kommen werde; ungeklärt war ferner, in welcher Weise es sich mit dem allgemein erwarteten ‚Messias’ verknüpfen würde.

Das Reich Gottes (bei Matthäus auch: ‚Himmelreich’) gilt sowohl Israel wie der Christenheit als der ‚eigentliche Wille Gottes bezüglich des Lebens auf der Erde’. Jesus hat im Vaterunsergebet die Aussage getroffen, das Leben auf der Erde sei dazu bestimmt, dem himmlischen Willen Gottes gleichgestaltet zu werden. Obwohl dies auf einen kosmischen Frieden hinausläuft, ist hier besonders die überaus unausgeglichene Gesamtlage der Menschen in ihrer ‚exzentrischen’ Stellung auf der Erde bzw. im ganzen Weltall (Formulierung nach Helmut Plessner, 19281) im Blick.2 Das Reich Gottes soll also insbesondere die Unausgeglichenheit des menschlichen Wesens, die sich auch in den Einzelschicksalen manifestiert, befrieden und versöhnen. Es soll die Menschen erlösen von den ‚Übeln’ – dem über sie trotz ihres relativen freien Willens verhängten ‚Joch’ –, die sie schuldig werden lassen, in Leiden stoßen und erniedrigen. Als Johannes der Täufer, im Gefängnis sitzend, bei Jesus anfragen ließ, ob Jesus wirklich derjenige sei, „der da kommen soll“, erhielt er durch die Mittelsleute die indirekte, aber doch klare Antwort: Wenn man Jesus ein Stück weit begleitet, so hört und sieht man: „Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein, und Taube hören; Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet.“3 Die Antwort lautete also: Ja! So ist es, wenn der Messias da ist.

Doch nicht zufällig wurde hier die verschlüsselte, indirekte Rede gewählt. Was hier gesehen und gehört wurde, sind Einzelfälle oder Einzelbeispiele. Sie sind bestenfalls ‚Sämlinge’ oder ‚Vorreiter’ einer veränderten Welt und Menschheit. Die Gesamtlage aber ist bis jetzt noch so, dass nach wie vor Schuld, Leiden, Krankheiten, ungerechte Gesellschaftsstrukturen (z.B. Herr-Knecht-Verhältnisse) und vor allem Sterben und Tod stattfinden. Daran hat sich bis heute nichts geändert, und das wird auch morgen noch so sein. Die ganze Palette der Übel bzw. des Bösen4 ist noch vorhanden. Nur dort, wo Jesus ist und Glauben findet, zeigen sich ‚Erstlinge einer erneuerten Schöpfung’. Im Lukasevangelium wird das unterstrichen durch die Weihnachtsgeschichte, die davon erzählt, dass der Heiland geboren worden ist. Wer ‚ihn’ hat und ‚dem Kinde glaubt’, erfährt sich schon jetzt in die neue Lebensordnung des Reiches Gottes hineingenommen.5

 

II.

Wir kommen zur Seele. Die heutigen Naturwissenschaften haben Recht: Eine Seele lässt sich weder im Gehirn noch sonst wo im Körper nachweisen. Diese Nicht-Nachweisbarkeit gilt freilich auch für vieles andere uns Wichtige. Sie gilt z.B. auch für die Existenz des Glaubens an Gott, für die Existenz der Liebe zum Ehegatten (und dessen festen ‚Platz’ im eigenen Herzen) oder für die Existenz von ‚Wahrheitserkenntnis’, die etwa Platon und Sokrates, aber auch Aristoteles speziell der Seele zuschrieben. Die Naturwissenschaften können das alles an uns nicht nachweisen. Sie teilen es uns spätestens seit dem 19. Jh. sinnvoller Weise mit, dass sie sich von ihrer eigenen früheren Vermischtheit mit metaphysischen Betrachtungsweisen des Menschen6 mittlerweile sauber gelöst haben. Die heutige Welt kann froh darüber sein.

Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich nun auch die westeuropäische evangelische Theologie von der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen und philosophischen Abkehr vom Seelenbegriff mitreißen lassen. Sie vergaß oder missachtete dabei die Kernaussage des Kirchenvaters Augustinus (und vieler anderer), dass Gott und Seele eng zusammengehören, so dass man vom einen gar nicht reden könnte, wenn man nicht zugleich auch vom anderen redete. Die voreilige und sachlich problematische Verfahrensweise der evangelischen Theologie, die sich nur nicht – inkonsequenterweise – gleichzeitig auch noch vom, naturwissenschaftlich gesehen, ebenfalls dunklen Begriff des Geistes abzuwenden wagte, muss heute auf den Prüfstand. Die Zahl der dem wissenschaftlichen Denken verpflichteten Theologen (und Philosophen!), die es für unerlässlich halten, auf die Seele wieder zurückzukommen, wächst. In dieser Zahl finden sich auch solche, die ein gewisses Verständnis für ihre theologischen und philosophischen Lehrer, die nicht mehr von der Seele reden konnten oder wollten, aufbringen, und die auch nicht fordern, wir sollten das frühere metaphysische Reden von der unsterblichen Seele des Menschen einfach wieder aufnehmen. Sie gehen vielmehr mit Denkmitteln von heute erneut auf die Seele zu.

Warum sich die evangelische Theologie im 20. Jh. in großen Teilen von der Seele abkehrte, ist durchsichtig: Es gab einen theologischen Mehrheitswillen, das menschliche Leben jetzt nur noch als ‚endlich’ und mit dem Tod ‚für ganz beendet’ anzusehen. Die evangelische Kirche wollte sich abkehren vom Glauben, der auf ein ‚besseres Jenseits’ vertröstet. Sie wollte künftig den Glauben ausschließlich ‚diesseitig’ auslegen und damit zugleich auch dem genügen, was sie für die neuzeitlichen Denkvoraussetzungen hielt. – Dass sie damit aber nach wie vor auch dem österlichen Kern des Christentums genügte, das ist zu bezweifeln.

Zwar ist auch die Meinung Karl Barths theologisch ganz richtig, dass der Mensch als ein Wesen der Natur kein (besseres) Jenseits in sich trägt, dass vielmehr allein Gott sein Jenseits ist. (Vgl. KD III/2, 770.) Auf diesen Satz haben sich seither evangelische Theologinnen und Theologen oft und gern berufen – aber nicht umfassend genug. Sie haben aus dem Satz des Basler Lehrers herausgezogen, dass es nach dem Tod ‚nicht mehr weitergehe’, dass keine unendliche Verlängerung des individuellen Lebens via ‚Seele’ stattfinde, dass vielmehr Gott unser Leben, wie es war, bei sich aufnehme und ‚verkläre’ (was immer Letzteres bedeutet). Aber sie haben jenen Satz nicht auch nach der Seite hin genau bedacht, dass der Mensch über den Tod hinaus eben doch noch mit der Erfahrung eines Jenseits zu rechnen hat. Weil sie die Seele gar nicht mehr denken konnten, war es ihnen nun auch nicht mehr ‚sagbar’, womit man denn da – wenn doch alles ‚ganz vorüber’ ist – zu rechnen habe.

 

III.

Theologinnen und Theologen, die von der Seele des Menschen nicht mehr zu reden wissen (oder nicht mehr von ihr reden wollen), werden wohl auch das Reich Gottes in ihrer Theologie nicht zum Leuchten bringen. Vielleicht verkümmert es ihnen zu einem Symbol für ‚hoffnungsvolle innerweltliche Veränderungen’ auf der philosophischen Linie einer säkularisierten Eschatologie. Vielleicht gelangen sie auch zu der Auffassung Rudolf Bultmanns, das Reich Gottes falle mit dem Glauben eines Christenmenschen in eins. Auf der Strecke geblieben ist dann aber der kosmische, der universale, der über Glauben und Unglauben und über alle Religionsgrenzen weit hinausweisende Charakter des Gottesreichs. Ferner ist außer Acht geblieben die ‚Unabgegoltenheit’ des Gottesreichs in den heutigen Erscheinungen des Lebens.

Was das Reich Gottes mit der Seele verbindet, ist die Intention auf ein ‚Mehr’ als schon da ist, der Vorblick und sogar der gelegentliche Vorgriff auf ein ‚Ganzes’, das noch aussteht und als heilend empfunden wird.

Das Reich Gottes ist, so sagten wir in kurzer Definition, Gottes neue Schöpfung – die aus den Übeln auferstandene Welt. Was aber ist die Seele? Meint sie vielleicht, wie öfters gesagt wird, gar nichts anderes als ‚Leben’ bzw. ‚Form, die lebend sich vollendet’ (Aristoteles/Goethe), gar nichts anderes als ‚Ich’, gar nichts anderes als ‚Person’, gar nichts anderes als ‚Sitz der Gefühle’, gar nichts anderes als ‚Schau der Wahrheit’, gar nichts anderes als eine ‚Repräsentation der Polis mit ihren verschiedenen Ständen im Innenleben des Menschen’ (Platon) – oder wie die vielen versuchten Annäherungen an sie sonst noch lauten? Diese Annäherungen, die immer wieder auf derartige Begriffe hinauslaufen, zeigen an, dass jeder der hier erwähnten Begriffe für sich genommen noch unzureichend ist, um die Seele zu kennzeichnen. Keiner zeigt den eschatischen Charakter der Seele an. Seele ist eben nicht nur = Ich usw. Sie ist auch nicht allein = Person (was zwar ein noch besserer Begriff als Ich wäre, jedoch unzulässigerweise es ausschlösse, dass auch Tiere und Pflanzen eine Seele haben). Somit ist schon einmal klar: Die genannten Begriffe sind alle keine präziseren und moderneren Ersetzungen dessen, was ‚früher’ Seele genannt wurde. Es legt sich die Vermutung sehr nahe, dass ‚Seele’ ein unersetzbarer Begriff ist und bleibt.

Wie aber können wir in dieser Lage vorgehen, ohne in mutwillige Neo-Spekulationen über die Seele zu verfallen? Müssen wir denn nicht mindestens an die soeben erwähnten und immer wieder sprachlich verwendeten ‚Bruchstücke’ des Bildes von der Seele, die in der ganzen Menschheit vorkommen, anknüpfen? Dass dies für jede seriöse neue Bemühung um die Seele erforderlich ist, scheint klar. Jeder seriöse Seelenbegriff muss auch kulturwissenschaftlich ‚vermittelt’ sein. Der Durchbruch zu einem Neuverständnis der Seele, das Chancen auf breite Anerkennung hat, setzt voraus, dass jene längst vorhandenen ‚Bruchstücke’, die zunächst den Eindruck eines ‚semantischen Chaos’ erwecken, in einem schlüssigen Gesamtkonzept miteinander verbunden werden können. Die Frage ist also: Wie können wir den Sinn einer Seele verstehen, die sowohl ‚Leben’, wie auch ‚Ich’, wie auch ‚Wahrheit’, wie auch ‚Gefühl’ usw. – und überhaupt Subjektives und Objektives, Individuelles und Kollektives in sich miteinander vereinigt? Wie lösen wir die Aufgabe es auszusagen: Das, und nur das, was dieses alles sinnvoll miteinander verbindet, ist jenes Wirkliche, das wir in der deutschen Sprache mit ‚Seele’ bezeichnen? Wie können wir es zeigen, dass Seele ein unersetzbarer Begriff ist und welche Wirklichkeit sui generis sie bedeutet?

 

IV.

Nähern wir uns nun – im Kontakt mit den Kulturwissenschaften und mit weltweiten Denktraditionen – dem Sinn von ‚Seele’ an! Gemeint ist, wenn wir von Seele reden: ein Individuum sofern es über seinen direkten naturalen und genetischen Bestand hinaus in seinen weiterreichenden Bezügen (‚Beziehungen’) wahrgenommen wird. ‚Seele’ ist demnach von da aus zu verstehen, dass es eine Wahrheit des Seins bzw. des Lebendigen gibt. Diese aber ist maßgeblich dadurch konstituiert, dass die Individuen, außer in ihrem naturgegebenen So-Sein, auch in der Verknüpfung und Verästelung mit anderen individuellen Wesen und deren Sinn- oder Zielrichtung leben und darin ihre Zukunft haben. Wo der Begriff der Seele in heutigen philosophischen Systemen (nach Jahrzehnten der philosophischen Enthaltsamkeit während der Vorherrschaft phänomenologischer und existenzialphilosophischer Philosophierichtungen) wieder aufgenommen wird, da findet man oft das Wort Identität in Gebrauch genommen. Es soll offenbar den Strukturrahmen abgeben, in dem ‚Seele’ sich abspielt. Tiefenpsychologisch ausgedrückt, wäre beim Menschen die intendierte ‚Selbstwerdung’ dieser Strukturrahmen. Beim Menschen ist die Seele dann auch das, was dieser ‚Selbstwerdung’, die auch eine das Ego übersteigende Öffnung für das ‚ganz Andere’ impliziert, bedarf. Geist jedoch ist das, was ihr dabei hilft (oder ihr dabei auch als ‚Ungeist’ in die Quere kommt).

Ein Beispiel für diesen ‚Seelenbegriff’ aus der belebten Natur: Ein schöner See – zufällig ist das deutsche Wort Seele etymologisch sogar von ‚See’ abgeleitet – ist, was er ist, nicht allein durch seine individuelle (und individuell wechselnde) naturale Wasserbeschaffenheit. Vielmehr ist er das, was er wirklich ist, auch durch seine Ufer, durch seine Zuflüsse, durch seine Interaktion mit Wolken, Licht und Himmel, mit Menschen und Tieren, überhaupt durch seine ganze geographische Lage. ‚Wahrgenommen’ in diesem Gesamtgefüge, ist er erst in Wahrheit dieser See mit einem ihm von der Umwelt verliehenen einmaligen Namen, einem Namen, der ihn von jedem anderen See unterscheidbar macht. In diesem Gesamtgefüge, das alle naturwissenschaftlich erfassbare ‚Gegenständlichkeit’ übersteigt, zeigt sich die lebendige und einmalige Seele dieses ‚Gewässers’, und entscheidet sich auch seine Zukunft (d.h. seine künftige Entwicklung kann nicht aus der Beschaffenheit seiner eignen ‚Chemie’ heraus vorberechnet werden).

Merkwürdigerweise ist es heute unter evangelischen Theologinnen und Theologen viel leichter bzw. unstrittiger, den Tieren und den Pflanzen eine Seele zuzuerkennen, als den Menschen. Dass eine Katze eine Seele hat, gilt als selbstverständlich. Beim Menschen aber tut sich heutige Theologie an diesem Punkt – aus oben bereits genannten Gründen – schwer, und es ist allerdings beim Menschen auch ‚denkschwieriger’, von seiner Seele zu reden! Das liegt an seiner ebenfalls bereits erwähnten „exzentrischen Position“ im Kosmos. Ein See offenbart uns seine Seele, wenn wir uns auf ihn einlassen, in seiner gegenwärtigen Erscheinung. Zwar hat auch er Vergangenheit und Zukunft, die zu seiner Essenz, zu seinem Wesen hinzugehören. Aber der ihn bis auf die ‚Seeseele’ hin betrachtende Mensch erfasst in phänomenaler Begegnung seine Gegenwart. Ein Mensch jedoch offenbart uns, wenn wir ihn zu erfassen versuchen, seine Seele vielleicht gar nicht. Sie ist noch viel ‚kryptischer’ als die des Sees oder der Katze. Denn immer steht zwischen Mensch und Mensch, dass überhaupt noch nicht erschienen ist, was wir sein werden (1Joh 3, 2). Dieses Was unseres Wesens ist noch niemals erschienen. Des Menschen ‚wahres Wesen’ hängt an seiner Zukunft, und genau die kennen wir nicht (und sie ist auch noch nicht). Beim See aber könnte man sagen, dass uns die intensive Begegnung mit seiner in sich selbst ruhenden Gegenwart seine ‚Seele’ erschließen kann.

Über ‚den’ Menschen wissen wir (weil wir das von uns selbst her wissen), dass Menschen sich selbst suchen und manchmal geradezu als ‚ein noch offenes Problem’ empfinden oder fühlen. Menschen streben nach ihrer eigenen Ganzheit, die sie häufig ‚Heil’ nennen, aber im Leben nie erreichen. Es ist ihre Seele, die hier mehr will als das, was ‚die Welt’ (sprich: das eigene Leben in der kurzen Zeitspanne bis zum Tod) ihr bieten kann. Weil sie aber dieses ‚Mehr’ wie ihre eigentliche Heimat sucht, ist sie Gottes bedürftig. Die in dieser Weise bedürftige Seele ist es, die Menschen auch zu einem religiösen Verhalten anstiftet (z.B. zu Gebetshaltungen und -praktiken), das von Tieren und Pflanzen nicht benötigt wird. Das erklärt sehr gut, warum nicht – wie es die neuere wissenschaftliche Gen- und Verhaltensforschung allerdings oft meint – unterschiedliche intellektuelle Fähigkeiten (‚des Gehirns’) den qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Tier letztlich begründen. Auch die mentale Fähigkeit, ein Selbstbewusstsein zu haben, genügt nicht, um das Besondere des Menschlichen zu erklären (was gerade in unserer Gegenwart zaghaft eingeräumt zu werden beginnt). Der qualitative Unterschied liegt vielmehr in des Menschen – bei sehr weitreichender auch seelischer Verwandtschaft mit Tieren und Pflanzen – dennoch qualitativ verschiedener Seele, wie dies z.B. schon Platon und Aristoteles in unterschiedlichen Denkmodellen richtig ausgesagt haben.

Was aber soll denn an ‚des’ Menschen Seele qualitativ ganz anders sein als an derjenigen von Tieren und Pflanzen, aus denen heraus sich die Menschheit ja entwickelt hat? Zu dem ganz Anderen der Menschenseele kommt es – und das ist bisher nicht genügend erkannt worden – wegen der besonderen, ‚mittelpunktlosen’ Stellung der Menschen im Weltall. ‚Seele’ spiegelt also nicht bloß eine jeweilige individuelle Beschaffenheit mit ihren spezifischen (z.B. biologischen) Qualitäten wieder, sondern auch die Stelle, an der dieses Individuum im Gesamtprozess des Lebens steht. ‚Seele’ spiegelt somit auch wieder, wie es für die anderen da ist, wofür sie es ‚nehmen’. (Dazu gehört auch, wie andere auf dieses Individuum hinleben, bevor es überhaupt geboren worden ist, und wie sie weiter von ihm noch leben und ihm noch eine indirekte Gegenwart geben, nachdem es schon längst nicht mehr da ist). Beim Menschen führt dies aber wegen seines Anspruchs, sich selbst haben und verwalten zu dürfen, in eine Art seelischer Zerreißprobe hinein. Teils bedrängt ‚er’ die anderen in ungewöhnlicher und destruktiven Weise aus seinem Selbstinteresse heraus. Teils erfährt ‚er’ sich von den anderen, wie es etwa der Philosoph Emanuel Lévinas eindrücklich beschreibt, als sich selbst entzogen, als unerträglich in Besitz genommen. Hierin also liegt der qualitative Unterschied der Menschenseele. Sie spiegelt die ‚Sonderstellung’, nicht die ‚Sonderbiologie’ des Menschen im Universum wider – eine Stellung, in der ‚der’ Mensch nicht auf einen Mittelpunkt, an dem er hängt, zurückgreifen kann, folglich ‚bindungsoffen’ lebt. Letzteres begründet auch ein Verlorenheitsgefühl ‚des’ Menschen im Weltall, das z.B. in den biblischen Religionen große Aufmerksamkeit gefunden hat. Dass gerade die Bibel über diese seelische Not nicht ‚hinwegsieht’, begründet u.a. ihren bleibenden Wert.

 

V.

Das soeben Mitgeteilte enthält drei schwerwiegende Implikationen, die alle wichtig sind für das Wiedergewinnen des Begriffs der Seele in unserer Kultur. Diese Implikationen künden auch davon, inwiefern nicht zum ‚alten Volksglauben’ von der Existenz einer unsterblichen und unkörperlichen Menschenseele einfach direkt wieder zurückgekehrt werden kann.

Erstens haben wir mit ‚Seele’ den ganzen Menschen einschließlich seiner Körperlichkeit gemeint, und nicht nur einen vom Körperlichen bzw. von seinem eigenen Körper abgetrennten Menschen. Die dualistische Weltsicht ist nicht (oder: nicht mehr) ‚unbedingt nötig’, um von der Seele zu sprechen. Zwar haben wir an die Sprechweisen von der Seele in den Kulturen in weit ausgreifender Weise angeknüpft; wir konnten sie sogar aus ihrer (vermeintlichen) semantischen Divergenz befreien. Mit einem neutestamentlichen Bild können wir nun aber kurz verdeutlichen, wie hier ‚Seele’ verstanden ist. In ihrer Bedeutung voll freigelegt wird sie immer erst durch die Voraussetzung des Sterbens und des Todes. Unser Bild aber bezieht sich auf das Lazarus-Gleichnis: Wenn der gestorbene Lazarus nach seinem Tod in Abrahams Schoß sitzt (Lk 16,19-31), dann sitzt dort nicht eine unkörperliche oder körperlose Seele, sondern der ganze Mensch Lazarus, dessen Wunden sich dort schließen und dessen Herz dort getröstet wird. Der Dualismus zwischen höherwertiger unsterblicher Seele und minderwertigem sterblichen Körper ist hier also vermieden, ja, ausgeschlossen. Er ist bekanntlich der Bibel auch ziemlich fremd. Schon Martin Luther hat das Leben des Lazarus nach dem Tod genau in der hier geschilderten Weise verstanden, so dass wir in diesem Fall sogar auch an seine frühe theologische Durchdringung dieses ‚Problemknäuels’ anknüpfen können.

Zweitens ist dennoch eine klare Hoffnung über den Tod hinaus formuliert worden, die darin liegt, dass ein Mensch selbst (‚er selbst und kein anderer’) das noch schauen und erfahren wird, was zu seinem Seelenheil (Integrität, Ganzheit, Identität usw.) hinzugehört, es jedoch in seinem Leben nicht erreicht hat und wahrscheinlich auch niemals zureichend zu denken vermochte.7Dass ihm dies seelisch doch noch zuteil wird, das bedeutet Auferstehung des Leibes. Sie bedeutet aber nicht, wie es so oft missverstanden wurde, dass ein Mensch dabei alle seine früheren körperlichen Merkmale ‚rekonstruiert’ erhält, sondern dass er jenen Fortschritt über sich selbst hinaus und zugleich zu sich selbst hin machen darf. Die Auferstehung aus den Gräbern und die Rettung der Seele konkurrieren also nicht als zwei vermeintlich verschiedene Modelle der Erlösung, sondern sie koinzidieren. Bei der Auferstehung werden durch Gott jene ‚Verkrümmungen’ vom Menschen genommen, die ihn ins Leere oder im Kreis haben laufen lassen. Auch das ‚Jüngste Gericht’ fällt damit in eins. Es ‚kommt’ nicht erst nach der Auferstehung, wenn vermeintlich zunächst erst einmal der Mensch, wie er war, wieder ‚aufgestellt’ worden ist. Auferstehung und Gericht erfolgen bei näherem theologischen Durchdenken nicht ‚hintereinander’, sondern: Auferweckt werdend, empfängt ‚der’ Mensch den Gottesspruch, kraft dessen er nicht mehr weiterhin von der göttlichen Licht- und Liebesquelle subjektiv abgewandt (und darum verkrümmt) leben bzw. nicht mehr leben kann. Er muss und kann sich in seinem ‚Leben nach dem Tod’ ganz und ausschließlich aus der göttlichen Licht- und Liebesquelle heraus nähren – also auferstehen aus der Nichtigkeit seines verkrümmten Lebens. In dieser Weise koinzidieren, wie es die Kirche immer schon gesagt hat, ‚Leben nach dem Tod’ und ‚wahres Leben’. Die göttliche Licht- und Liebesquelle entwickelt den Menschen noch weiter zu seiner eigenen seelischen (= menschlichen) Ganzheit. Das ist es, was manche Theologen, unter ihnen Karl Barth, die von uns noch zu erwartende persönliche Verklärung durch Gott genannt haben. Zwischen unserem ‚alten’ Leben und ihr liegt eine Zäsur. Das Erste ist dann wirklich vergangen (Offb 21,4). Was dann ist, ist das Reich Gottes.

Die dritte Konsequenz des hier vorgetragenen Seelenbegriffs liegt schließlich darin, dass die Seele eines Individuums oder Lebewesens nicht einfach in seinem einmaligen und individuellen genetischen Material gesucht werden darf. Wenn noch nicht klar ist, wer wir sind, weil noch nicht erschienen ist, wer wir sein werden, dann bedeutet dies, dass unsere Seele in ‚Wahrheit’ etwas ist, was – mit dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte zu reden – ‚Ich’ und ‚Nicht-Ich’ dialektisch übergreift. Mit Jesus zu reden: Ich muss mein individuelles Leben verlieren, um mein individuelles Leben in seiner zur Ganzheit gebrachten Form zu gewinnen. Genau das ist die Form menschlichen Lebens, die – man denke an die Bergpredigt Jesu – dem Reich Gottes entspricht.

Die Eschatologie der heutigen Kirchen wird sich tiefgreifend erneuern müssen.
Mehr als an allem anderen dürfte daran auch eine Erneuerung der Kirchen hängen. Das Reich Gottes ist eine Größe, die das Diesseits und das Jenseits miteinander verbindet. Eine theologisch erneuerte Eschatologie wird genau so vom Diesseits zu reden haben, wie sie auch vom Jenseits redet. Auch fallen ihr Ewigkeit und Zeit nicht auseinander. Beide sind im Reich Gottes miteinander vermittelt. Gott kann mitten in der Zeit Ewigkeit sich ereignen lassen, aber auch mitten in der Ewigkeit Zeit und sogar Körperlichkeit. Der Tod ist, theologisch, nicht einfach das Ende unseres Lebens, sondern auch unseres Lebens Anfang. Gott kann sowohl mitten im Leben Tod, wie auch mitten im Tod Leben ‚stattfinden’ lassen, dem geendeten individuellen Leben wieder eine ‚Stelle’ geben. Gott hält auf jeden Fall gerade so an den menschlichen Individuen fest, dass er sie auch über sich selbst hinausgehen lässt – diesem Gang und seinen Schmerzen können sie sich nicht entziehen – , sie aber hiermit auf die Erlösungsstufe führt, in der sie Christus, den Engeln, Gott gleichen werden. Das Ziel ist: vollkommene Freude.

Die Eschatologie der Kirche ist von ihrer Glaubenslehre – ihrem Verständnis Gottes, des Menschen und der Welt – nicht ablösbar. Sie ist auch von ihrer Ethik nicht ablösbar, sondern gibt dieser erst die spezifische christliche Signatur. Darum ist die anstehende Eschatologie-Erneuerung nicht durch ‚Schnellschüsse’ ehrgeiziger theologischer ‚Innovatoren’ zu erhalten. Sie bedarf in der Kirche und ihrer Geschichte, aber auch in Philosophie und Wissenschaft fest verankerter ‚kundiger Thebaner’. Die neue Beachtung der Seele des Menschen ist jedoch ein erster Schritt auf dem Weg der Erneuerung der westlichen Christenheit.

 

Anmerkungen

  1. Sie wurde später auch in der soziologischen Anthropologie von Arnold Gehlen benutzt.
  2. Die Not der aus ihrem Zentrum herausgefallenen Menschheit wird von ihrem göttlichen Schöpfer mit der Geburt und Sendung des Heilands Jesus Christus beantwortet, die Folgendes mit sich gebracht hat: „Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2,14 in der ‚Einheitsübersetzung’).
  3. Mt 11, 2-5 (Einheitsübersetzung). Die kursiv gesetzten Formulierungen sind Zitate aus Prophezeiungen der messianischen Zeit bei Jesaja (Jes 26,19; 29,18; 35,5f; 61,1)
  4. Im Lateinischen wird beides mit dem einen Wort malum ausgedrückt. S. o. bei Anmerkung 2.
  5. René Descartes, der einerseits mit seiner Trennung von Subjekt und Objekt und mit seiner Forderung einer klaren und distinkten Naturerkenntnis einer der großen Väter der neuzeitlichen Naturwissenschaften genannt zu werden verdient, meinte bei seiner neuen wissenschaftlichen Methodenlehre andererseits, sie impliziere notwendigerweise die unsterbliche Seele des Menschen als der Mittlerin zwischen den ethischen und der Wahrheitserkenntnis zugewandten Strebungen des Menschen und seinem ‚maschinellen Funktionieren’ im Naturkörper. Descartes vermutete, der ‚Sitz’ der Seele (die er übrigens nur Menschen zubilligte) sei die Epiphyse, die ‚Zirbeldrüse’.
  6. Der psychologisch-psychotherapeutischen Mehrheitsauffassung, dass jeder Mensch im Grunde selber weiß, was er ‚brauchte’, was ihn ‚glücklich machen’ würde, welches die heilsame ‚Ganzheitserfahrung’ wäre, stehe ich mit theologischer Skepsis gegenüber. Denn es ist zu fragen, ob nicht die (Glaubende sagen: durch den fremden ‚Willen Gottes’) oft stattfindende Nichterfüllung solcher Lebensvorstellungen auch ihren guten Sinn hat. Glaubende erkennen das immer wieder an – und bleiben gerade so in der Hoffnung, dass ihnen durch Gottes Liebe ‚das Beste’ zuteil wird.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2012

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