Wer nach der Besonderheit Jesu fragt, lässt sich auf das „Abenteuer“ Christologie ein. Hier geht es um die Entdeckung eines Geheimnisses, genauer um die Beschäftigung mit einem Geheimnisträger. Jesus als der Christus ist das „Geheimnis Gottes“ (Manfred Haller) und die Auseinandersetzung mit diesem Geheimnis ist eine Reise in ein weites, offenes Land. In der christologischen Reise in das Land des Glaubens, der Erschließung von Wirklichkeit als Deutung von Lebenszusammen- hängen geht es weniger um die Übernahme von Glaubens- bzw. Bekenntnissätzen in geprägter Sprache, als um die Frage „Wer ist Jesus für mich? Welche Bedeutung hat er für uns heute?“
Die Frage „Wer ist Jesus für mich?“ unterscheidet sich von der Frage „Wer war Jesus von Nazareth?“ Auch diese Frage hat ihre Berechtigung. Die Auseinandersetzung mit Jesus, sein Wirken spricht bis heute viele Menschen an. Sie sehen in Jesus einen herausragenden Menschen, dessen ethisches Handeln und die Konsequenz seines Lebensweges mit Respekt und Wertschätzung betrachtet werden. Wer in Jesus vorrangig ein Vorbild der Liebe und Gewaltlosigkeit sieht, vertritt eine „Jesulogie“. Mit diesem Begriff wird der Unterschied zur „Christologie“ markiert. Eine „Jesulogie“ betont den „ethischen“ Jesus, die „Christologie“ sieht in Jesus das „Geheimnis Gottes“. Die „Jesulogie“ sieht Jesus als Menschen, die „Christologie“ fragt nach der Zusammengehörigkeit von Jesus und Gott.
Die folgende Unterrichtssequenz – beschrieben werden zwei Unterrichtstunden – stellt christologische Fragestellungen in den Mittelpunkt. Es geht daher weniger um die Frage „Wer ist dieser Mann aus Nazareth?“, als vielmehr um die Frage „Welche Bedeutung hat sein Wirken?“ Wer nach der Relevanz der Botschaft Jesu fragt, denkt die eigene Person als Adressat dieser Botschaft mit. Schülerinnen und Schüler einer vierten Klasse können zwar sehr wohl Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden, dennoch ist ihnen die Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem auferstandenen Christus fremd. Ihr christologisches Bild von Jesus zielt auf Vergegenwärtigung. Die Leitfrage der Unterrichtssequenz steht unter der Überschrift „Was ist das Besondere an Jesus?“. Wir betreten mit den Schülerinnen und Schülern der vierten Klasse den Lernweg einer narrativen Christologie. Eine narrative Christologie knüpft an Ereignisse im Leben Jesu an. Aber nicht das „historische“ Ereignis als solches, sondern die Bedeutung des Geschehenen für uns heute bildet den Fokus. Wer nach Bedeutungen von Ereignissen fragt, begibt sich in den (Lern-)Raum des „Theologisierens“. Folglich hat das theologische Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern einen besonderen Stellenwert auch in dieser Unterrichtssequenz.
Jesus „öffnet“ Augen
Didaktisch-methodische Überlegungen
In dieser Stunde steht eines der zentralen „Ich-bin-Worte“ im Zentrum des Unterrichts. Wir wollen mit den Schülerinnen und Schülern die im Johannesevangelium überlieferte Aussage Jesu „Ich bin das Licht der Welt“ in der narrativen Verknüpfung mit der Heilungsgeschichte eines Blindgeborenen erarbeiten.2 Dabei sollen „Ich-bin-Wort“ und Wundererzählung in wechselseitiger Bezogenheit erschlossen werden. Weiterhin sollen die Schülerinnen und Schüler mit dem metaphorischen Charakter eines „Ich-bin-Wortes“ vertraut gemacht werden. Indem sie zu dem Satz „Ich bin das Licht der Welt“ eine eigene Geschichte schreiben, verbinden sich Metaphorik und Narrativität zu einer eigenen „Erzählung“. Mit dieser Übertragungsleistung soll das christologische Denken der Schülerinnen und Schüler evoziert werden.
Stundenverlauf
Wir beginnen die Stunde mit einer Kerzenmeditation. Die Schülerinnen und Schüler blicken in eine Kerze und beenden nach einer Stillephase den Satz „Das Licht der Kerze ist für mich wie …“
Nach dieser Übung in metaphorischem Sprechen wird ein Plakat mit dem Satz Jesu „Ich bin das Licht der Welt“ in die Mitte des Stuhlkreises gelegt. Die Schülerinnen und Schüler überlegen, was dieser Satz bedeuten und für wen er in besonderer Weise gemeint sein könnte.
Wir erzählen die Geschichte der Blindenheilung nach Johannes 9, 1-11 im Sinne einer biblischen „Verständnishilfe“ des „Ich-bin-Wortes“. Die Schülerinnen und Schüler erläutern, in welcher Weise von der Erzählung ein Zugang zu dem „Ich-bin-Wort“ möglich ist. Sie erörtern die Fragestellung, ob das Jesuswort lediglich für Blindgeborene eine Bedeutung gewinnen kann. Im darauf folgenden Unterrichtsschritt schreiben die Schülerinnen und Schüler eine eigene Geschichte zu der Aussage Jesu „Ich bin das Licht der Welt“.
Eindrücke aus der Praxis
Die „Kerzenmeditation“ stimuliert die sprachspielerischen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler. Sie haben keine Mühe, den Satz „Das Licht der Kerze ist für mich wie …“ zu beenden:
- „ … wie die Sonne, die mir auf den Rücken scheint.“
- „ … wie ein feuriger Wirbelsturm.“
- „ … wie die Sonne an heißen Tagen.“
- „ … wie ein großer Stern am Himmel.“
- „ … wie das Leben von Gott.“
- „ … wie ein weiches, warmes Handtuch.“
- „ … wie die weichen Haare meiner Schwester.“
- „ … wie das Flackern in meinem Herzen.“
- „ … wie der kleine Hund meines Bruders.“
Die Sätze verdeutlichen, dass Schülerinnen und Schüler einer vierten Klasse unterschiedliche Sprechweisen verwenden können. Sie wissen, dass von „Licht“ auch in einem übertragenen Sinne gesprochen werden kann. Sie entwerfen Sprachbilder, in denen sich ihre Fähigkeit zu metaphorischen Sprechweisen ausdrückt. Diese Fähigkeit stellen sie ebenso in ihren Deutungen des „Ich-bin-Wortes“ unter Beweis. Der Satz Jesu „Ich bin das Licht der Welt“ wird wie folgt übertragen:
- „Jesus passt auf alle Menschen auf.“
- „Jesus ist das Herz der Welt, weil er die Welt erschaffen hat.“
- „Er macht die dunklen Ecken im Herzen wieder hell.“
- „Er hält das Böse ab mit Licht.“
Auch in den „Geschichten“ der Schülerinnen und Schüler spiegelt sich das Spiel zwischen Metaphorik und Narrativität wider. Sie übertragen das „Ich-bin-Wort“ in Form von eigenen „biblischen“ Heilungs- und Wundererzählungen, in denen Jesus als Wunderheiler im Mittelpunkt steht.
Einige Schülerinnen und Schüler integrieren kunstvoll das „Ich-bin-Wort“ in ihre Erzählungen. Im Sinne der Untersuchung von Anke Pfeifer sind die metaphorischen Verstehensleistungen und -deutungskonstrukte der Schülerinnen und Schüler als „Verstehensansätze“ einzuordnen, die offen bleiben für „zukünftiges Nachdenken und Verknüpfungen mit der eigenen Lebenssituation“3.
Ich sehe etwas, was du nicht siehst
Didaktisch-methodische Überlegungen
Im Zentrum der Stunde stehen zwei Sätze aus der Emmauserzählung: „Da gingen ihnen endlich die Augen auf. Doch im selben Augenblick war er nicht mehr zu sehen“. Diese Sätze verweisen auf eine neue Erfahrung von Wirklichkeit. Auch in dieser Erzählung „öffnet“ Jesus Augen. Aber die Begegnung mit Jesus ist hier ein Verweis auf den auferstandenen Christus. Eine Erzählung, die unsere Sehgewohnheiten in Frage stellt. Lässt sich Wirklichkeit in unterschiedlicher Weise wahrnehmen? Wie gehen Kinder mit unter- schiedlichen Erfahrungen von Wirklichkeit um? Ziel der Stunde ist es, Verständnis dafür zu wecken, dass Wirklichkeit mehrdimensional erfahren werden kann. Für den eindimensionalen Zugang zur Wirklichkeit ist Jesus als der Christus ein Ereignis der Vergangenheit. Christologisches Denken vollzieht sich in der Spannung von Vergangenheit und Vergegenwärtigung. Daher stellt sich die Frage, ob Jesus, auch wenn wir ihn nicht sehen können, trotzdem „da sein“ kann.
Stundenverlauf
Wir beginnen die Stunde mit der Betrachtung eines Kippbildes „alte Frau oder junge Frau“.
Einige Schülerinnen und Schüler beschreiben ein „junges Kind“, andere eine „alte Frau“ und später entdecken die Schülerinnen und Schüler je nach Betrachtungsperspektive beide Bilder. Ausgehend von unterschiedlichen Seherfahrungen erörtern die Schülerinnen und Schüler die Fragestellung, ob wir Wirklichkeit unterschiedlich wahrnehmen können. Konkret: Welche Gefühle löst der Gedanke aus, dass ein anderer etwas anderes sieht als ich?
Im nächsten Unterrichtsschritt erzählen wir die Emmauserzählung. Ein Plakat mit den Sätzen „Da gingen ihnen endlich die Augen auf. Doch im selben Augenblick war er nicht mehr zu sehen.“ wird in die Mitte des Stuhlkreises gelegt. Die Schülerinnen und Schüler versetzten sich in die Lage der Jünger und erörtern die Frage, inwieweit die Jünger diese Erfahrung glaubhaft weitererzählen können. Sie schreiben einen Text, in dem im Rahmen eines fiktiven Gesprächs mit einer dritten Person die Erfahrung der Jünger aufgenommen wird.
Eindrücke aus der Praxis
Das Kippbild verfehlt seine Wirkung nicht: Wie ist es möglich, dass Wirklichkeit so unterschiedlich wahrgenommen werden kann? Müssen wir uns etwa entscheiden, was wir wahrnehmen wollen? Oder ist alles nur eine Frage der „Konzentration“? Die Schülerinnen und Schüler suchen nach Gründen: Es gibt Menschen, die „sehen anstatt rot grün und anstatt grün rot“. Ein gewichtiges Argument ist das Vorstellungsvermögen von Menschen: „Es liegt an der Phantasie“. „Jeder hat eine andere Phantasie. Wenn da jetzt ein Tier lang läuft, der eine sieht ein Schaf, der andere einen Frosch.“ Die wie selbstverständlich erscheinende Mehrdeutigkeit menschlicher Wahrnehmung wird erst fragwürdig, wenn es darum geht, diese für sich zu bewerten: Welche Gefühle löst das Wissen aus, dass ein anderer Dinge vielleicht ganz anders wahrnimmt? Die Schülerinnen und Schüler sprechen über die Ambivalenz dieses Gefühls zwischen dem Wunsch nach „Einzigartigkeit“ und dem Wunsch „genau so zu sein wie die anderen“.
„Dann denkt man natürlich, dass man irgendwie einzigartig ist, aber dann fühlt es sich auch ein bisschen toll an. Aber am meisten nicht so. Man will ja genau so sein wie die anderen, um ganz tolle Freunde zu haben.“
Ein Konsens wird überraschend schnell erzielt: „Jeder ist anders!“ Und: „So ist es spannender.“ „Wenn alle das gleiche sehen, kann man nichts weitererzählen.“
Die Emmauserzählung kennen die Schülerinnen und Schüler bereits aus der dritten Klasse. Sie äußern sich spontan zu den Sätzen, überlegen, warum es für die Jünger wichtig war, dass sie Jesus begegnen konnten. Spannend ist zu sehen, wie sie bereits im Gespräch einerseits in der Logik der Erzählung argumentieren, andererseits sie immer wieder überschreiten, wenn es darum geht zu erklären, dass Jesus als der Auferstandene zwar nicht mehr zu „sehen“ ist, aber „immer noch weiterhin für sie da ist“. Das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen dem unsichtbaren, aber gegenwärtigen Jesus als dem Auferstandenen bringen ebenso die Texte der Schülerinnen und Schüler zum Ausdruck. Auch wenn es nicht zu „beweisen“ ist, wird Jesus „immer für uns da sein“: „Es ist doch klar, Jesus Geist lebt noch, aber sein Körper ist weg!“. Und: „Wenn man ganz fest an ihn glaubt, sieht man ihn“.
Interessant ist zu sehen, wie sich in den Texten der Schülerinnen und Schüler die Perspektiven verbinden. Zwar schreiben sie im Sinne der Aufgabenstellung Texte, indem sie einen Jünger auf die Frage des Freundes antworten lassen: Ist Jesus jetzt nicht mehr da? Was wird sich für euch ändern? Gleichzeitig spiegelt sich die eigene Perspektive auf das Geschehen wider. Jesus als der auferstandene und damit unsichtbare Christus ist bestimmend auch für das eigene Jesusbild:
- „Er ist nur noch im Herzen für uns da, aber sehen kann man ihn nicht! Wir müssen unseren Weg ohne ihn fortsetzen, aber wenn wir Hilfe brauchen, hilft er uns.“
- „Wir haben keinen Begleiter mehr. Wir haben keinen mehr, der uns beschützt und immer da war für uns. Versuche ihn in dir zu spüren und dann überlege dir, was er alles Gutes getan hat und so versuchen wir uns es zu merken.“
Die Texte zeigen, dass Jesus Christus nicht nur ein Ereignis der Vergangenheit ist. Er ist im „Herzen“ erfahrbar, man kann ihn auch heute noch „spüren“. Aber die Erfahrung ist alles andere als selbstverständlich: Wir müssen uns an das „Gute“, das er getan hat, erinnern und „versuchen“ es „uns zu merken“. Warum kann Jesus „helfen“? „Jesus ist Gottes Sohn, er hat ihn zur Welt gebracht und deswegen kann Jesus helfen.“ Die Besonderheit Jesu wird im Modus des Bekenntnisses erklärt: Wir „müss(en) nur an Jesus glauben“.
Anmerkungen
- Die Unterrichtsreihe ist Teil des 4. Kaptitels des Buches: Kraft, Friedhelm / Roose, Hanna: Von Jesus Christus reden im Religionsunterricht. Christologie als Abenteuer entdecken, Göttingen (V & R) Frühjahr 2011. Die Planung und Durchführung der Sequenz erfolgte in Zusammenarbeit mit Kathrin Breitenfeld in der Grundschule Reese (Wedemark)
- Die Ich-bin-Worte bilden ein Kernstück der johanneischen Christologie, in denen der johanneische Christus mit Hilfe bildlicher Rede von sich spricht. Ich-bin-Worte schließen im Johannesevangelium an Wundertaten Jesu an. Während diese einen „episodalen“ Charakter haben, ist das Ich-bin-Wort durch seinen „ewigen, unwiderruflichen Charakter“ bestimmt. Vgl. Büttner, Gerhard / Roose, Hanna: Das Johannesevangelium im Religionsunterricht. Informationen, Anregungen und Materialien für die Praxis, Stuttgart 2007, 88ff
- Pfeifer, Anke: Wie Kinder Metaphern verstehen. Semiotische Studien zur Rezeption biblischer Texte im Religionsunterricht der Grundschule, Münster 2001, 113.