Wie kann sich Friedenserziehung in der Schule gegen reale Gewaltstrukturen durchsetzen?
Es steht außer Frage, dass viele Lehrkräfte aller Schulfächer sich intensiv für Friedenserziehung einsetzen. Sie lassen sich als Konfliktmediatoren ausbilden und bilden ihre Schüler und Schülerinnen dazu aus. Sie üben sich als Fair-play-Spieler und bringen ihren Klassen die Regeln des Fair-play bei. Sie verhalten sich demokratisch und versuchen, in der Schule paritätische Demokratie einzuführen. Sie agieren gewaltfrei und erproben im Unterricht gewaltfreie Aktionen. Sie beherrschen ihre eigenen Aggressionen und führen in ihren Klassen Antiaggressions- und Deeskalationsübungen durch. Sie enthalten sich jeglicher Herabwürdigung ihrer Schüler und Schülerinnen und versuchen, auch ihnen Regeln zur Enthaltung von Mobbing nahe zu bringen. Und sie denken global, handeln lokal und mühen sich, auch ihre Kinder und Jugendlichen für dieses Friedensprinzip zu gewinnen.
Sie setzen sich intensiv für Friedenserziehung ein. Aber ihr Erfolg fällt oft spärlich aus. Auch diejenigen Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht kreative Ideen zu gewaltfreier Konfliktlösung und Versöhnung entwickeln, können sich auf dem Schulhof oder Schulweg an Verprügelung, Erpressung und Schutzgeldzahlung beteiligen, beim Sport Gewalt statt Fair-play anwenden und im Alltag ihren Aggressionen freien Lauf lassen. Die deprimierende Erfahrung von Unterrichtenden ist: Manche sind im Unterricht auf gute Noten und Schönrednerei ausgerichtet, transformieren ihre theoretischen Friedenseinsichten aber keineswegs auf ihr reales Friedensverhalten.
Daraus resultieren Zweifel am Sinn von Friedenserziehung in der Schule: Fördert solche Friedenserziehung möglicherweise nur ein idyllisches Friedensideal, nicht aber reales Friedensverhalten? Erweitert sie gar den bekannten Graben zwischen innerer Friedenseinsicht und äußerem Gewaltverhalten? Vermittelt die künstliche Unterrichtsatmosphäre mit künstlichen Fallbeispielen und Dilemmata nicht ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit? Kann man die realen Gewaltstrukturen des Alltags und reale Möglichkeiten einer Versöhnung im Klassenzimmer überhaupt lebendig werden lassen? Und: Kann Friedenserziehung an der Schule sich durchsetzen gegen die realen gewalttätigen Makrostrukturen wie Krieg, Fremdengewalt, Terrorgewalt und staatliche Gewalt, die allen Kindern und Jugendlichen bestätigen, dass sich Gewalt mehr lohnt als Gewaltlosigkeit? Gegen die virtuellen Makrostrukturen der Gewalt wie Mediengewalt und Computerspielgewalt, die eine Abstumpfung und Vergleichgültigung gegenüber den Opfern zur Folge haben?
Kann Friedenserziehung in der Schule angesichts dieser Hindernisse noch irgendeinen Erfolg haben? Ist sie nicht sinnlose und vergebliche Liebesmüh’? Die Antwort auf diese Fragen hängt davon ab, was man unter Frieden und Friedenserziehung versteht.
Was ist unter Frieden und Friedenserziehung zu verstehen?
Ich schließe mich unter den zahlreichen Definitionen von Frieden derjenigen von Johan Galtung an, weil sie mir für die Schule besonders geeignet erscheint: “Friede ist der (1) kontinuierliche Prozess (2) abnehmender Gewalt bei (3) gleichzeitiger Zunahme an Gerechtigkeit.”2 Was bedeutet das?
1. Friede ist kein Zustand, sondern ein niemals abgeschlossener, weil kontinuierlicher Prozess. Er befindet sich niemals im Sein, sondern immer im Werden. Niemand kann sagen: “Jetzt haben wir vollkommenen Frieden”, weil es noch immer Reste an Gewalt und Ungerechtigkeit gibt. Diese Definition sieht also keine Maximalposition vor, nach der es einen dauerhaften, vollkommenen Frieden ohne jegliche Gewalt geben kann, sondern nur eine Minimalposition, nach der Eindämmung und Vermeidung von Gewalt schon als Erfolg gelten. Deshalb sollte keine Lehrkraft vollkommene Friedensfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler erwarten. Und: Sie sollte nicht resignieren: “Meine Kinder und Jugendlichen sind hoffnungslos gewalttätig und unfriedlich.” Sondern sie sollte auf den Prozesscharakter der Friedenswilligkeit und Friedensfähigkeit in der Entwicklung ihrer Kinder und Jugendlichen schauen und Anzeichen beobachten, ob sich beides nicht doch noch entwickeln könnte. Friede als “kontinuierlicher Prozess” lässt sich nicht messen. Und der Output von Friedenserziehung lässt sich nicht evaluieren.
2. Mit dem Begriff “abnehmender Gewalt” meint Galtung eine Abnahme nicht nur an sichtbarer physischer und psychischer, sondern auch unsichtbarer struktureller und kultureller Gewalt. Physische Gewalt als bewusste Schädigung und Vernichtung von Personen, Gruppen, Völkern oder Sachen sei, so Galtung, in ihren Folgen immer sichtbar; und psychische Gewalt als verbale, mobbende, drohende und damit ausgrenzende, degradierende und dehumanisierende Gewalt ebenfalls. Aber strukturelle Gewalt wie Rüstung, schädliche Werbung, Rauchen, Dioxinausstoß, Konsum u.a. und kulturelle Gewalt wie brutale Videos, Musik, Bilder, Computerspiele, TV u.a. seien in ihren Auswirkungen nicht unmittelbar, sondern erst im späteren Leben sichtbar. Deshalb sollte keine Lehrkraft urteilen, dass manche Kinder und Jugendliche total gewalttätig, andere aber total gewaltfrei seien, weil sie nicht überprüfen kann, wer evtl. auch strukturelle oder kulturelle Gewalt mit deren unsichtbaren Folgen ausübt.
3. Was bedeutet der Ausdruck “gleichzeitige Zunahme an Gerechtigkeit”? Unter Gerechtigkeit versteht Galtung soziale Gerechtigkeit. Ein Friede ohne solche Gerechtigkeit ist für ihn ein “kalter” Friede. Gewaltlosigkeit ohne Förderung der Bedürfnisse, Chancen und sozialen Lagen eines Menschen sei leer. Und “gleichzeitig”, nicht “nacheinander” müssten sich Gewaltabnahme und Gerechtigkeitszunahme die Waage halten. Das bedeutet für die Lehrkraft zwar einerseits eine Erschwernis, weil sie sich mit dem Erreichen von Gewaltlosigkeit und gewaltfreier Konfliktlösung nicht begnügen darf, sondern darauf achten muss, dass die jeweilige Konfliktlösung auch Gerechtigkeit fördert; aber andererseits ist es eine Erleichterung, wenn man jedes Gewaltverbot nicht autoritär einfordern, sondern vernünftig begründen soll; z.B. mit der Begründung: “Du sollst nicht angreifen und verletzen, weil die Würde jedes Menschen unverletzbar ist, denn der andere ist wie du!” Ein mit Gerechtigkeitseinsicht ausgesprochenes Gewaltverbot ist leichter einzufordern als ein unbegründetes Verbot.
Meine o.g. Definition von Friedenserziehung besagt also, (1) dass Friede stets unabgeschlossen ist, (2) dass die Folgen von struktureller und kultureller Gewalt oft unsichtbar und deshalb diese Gewalt oft nicht greifbar ist, und (3) dass Gewaltverbote immer mit Gerechtigkeitsgeboten verbunden werden müssen. Für die Schule bedeutet das, dass keine Lehrkraft den Erfolg ihrer Friedenserziehung letztgültig, sondern nur vorläufig messen, sehen und bewerten kann. Friedenserziehung in der Schule ist ein offener, stets unabgeschlossener und kaum messbarer Prozess. Das könnte Lehrkräfte vor der Resignation bewahren, dass ihre Friedenserziehung erfolglos und sinnlos sei.3 – Unter dieser Voraussetzung möchte ich jetzt nach den Zielen einer Friedenserziehung in der Schule fragen.
An welchen Zielen sollten sich Friedenserzieher und -erzieherinnen in der Schule ausrichten?
Im Anschluss an Galtungs Definition von Frieden definiere ich Friedenserziehung folgendermaßen: Friedenserziehung ist das Bemühen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene (1) zum Frieden stiften anzuleiten, indem man sie lehrt, (2) kontinuierlich Gewalt zu minimieren und (3) gleichzeitig Toleranz und Gerechtigkeit zu maximieren.
Aus dieser Definition ergeben sich m. E. folgende Ziele an eine Friedenserziehung in der Schule, die ich zunächst pauschal und später schulstufenspezifisch benenne:
1. Anleitung zum Frieden stiften bedeutet: Erziehung zu einem gewaltfreien Konfliktaustrag; zur Herstellung friedlicher Strukturen wie Gleichberechtigung, Demokratie und Rechtsgleichheit; zur Förderung von Sympathie-, Empathie-, Partizipations- und Dialogfähigkeit; zur Wertschätzung Anderer, zum Respekt vor dem Fremden, zur Sensibilität für die Bedürfnisse des Nächsten, des Gegners und des Fernsten u.ä. Allein eine Anleitung zur Vermeidung physischer und psychischer Gewalt genügt nicht, sondern es sollte eine Anleitung zum Aufbau von Strukturen und Kulturen des Friedens sein.
2. Erziehung zu kontinuierlicher Gewaltminimierung bedeutet: den Schülern und Schülerinnen Hilfe zu leisten, sich gegen Mobbing zu wenden, verbale Angriffe zurückzuweisen, Drohungen als Gewalt aufzudecken, gegen Ausgrenzung, Degradierung und Diskriminierung zu protestieren, sich für unterdrückte und entrechtete Mitschüler einzusetzen, physische und psychische Gewalt zu verhindern und strukturelle und kulturelle Gewalt zu überwinden. Es geht bei einer Erziehung zur Gewaltminimierung also nicht nur darum anzuleiten, wie man Gewalt selbst vermeiden und andere davor schützen kann, sondern dazu zu verhelfen, sich protestierend und regulierend einzumischen. Das sollte schon Kindern und Jugendlichen zugemutet werden.
3. Erziehung zu Toleranz- und Gerechtigkeitsmaximierung bedeutet: Hilfe zu leisten zur Überwindung von Feindbildern und Vorurteilen, andere in deren Andersheit zu respektieren, sich für sozial gerechte Verhältnisse einzusetzen, sich für eine Gleichstellung von Mädchen und Jungen zu engagieren, für die Ängste, Gefühle und Sicherheitswünsche Anderer einzutreten usw.
Diese Ziele sollten – auf der Basis der genannten Definitionen von Frieden und Friedenserziehung – auf die Schulstufen Primarstufe, Sek I und Sek II aufgeteilt werden. Dazu möchte ich aber vorher feststellen, welche Vorstellungen Kinder und Jugendliche von Frieden und Friedenstiften haben.
Welche Vorstellungen haben Kinder und Jugendliche von Frieden und Friedenstiften?
Kinder im 8. und 9. und Jugendliche im 15. und 16. Lebensjahr wurden gefragt:4
Herrscht Friede, wenn…
- in einer Familie jeder an seinem Fernseher sitzt und den anderen nicht stört?
- in einer Schule jahrelang keine Schlägerei vorkommt?
- Kinder ohne Streit (z.B. Fußball) spielen und jeder die Regeln beachtet?
- Nationen keinen Krieg gegeneinander führen?
- Tiere und Menschen sich im Zoo beäugen?
Und zur Vertiefung wurde gefragt:
Liegt Gewalt vor, wenn…
- Boxer kämpfen?
- Kinder oder Jugendliche sich raufen?
- ein Trainer seine Läufer schreiend anfeuert, was diese gar nicht mögen?
- eine Lehrkraft mit Sitzenbleiben droht, damit die Schülerinnen und Schüler besser werden?
- Schwarzfahrer im Zug und Alkoholsünder am Steuer zur Kasse gebeten werden?
Gleichzeitig wurden die Kinder und Jugendlichen nach Lösungen im Israel-Palästina-Konflikt befragt, weil sie täglich Bilder im TV gesehen haben und weil sowohl die Kinder als auch die Jugendlichen diesen Konflikt gerade im Religionsunterricht behandelt hatten.
Die Acht- und Neunjährigen reagierten auf die Friedensfrage spontan mit “Ja”. Erst bei näherer Prüfung äußerten einige wenige: “Kommt drauf an – ob die Eltern und Geschwister sich sonst vertragen, wie Schüler und Lehrer sonst miteinander umgehen, ob jeder beim (Fußball-)Spielen mitmachen darf, ob das eine Land reich und das andere arm ist, ob die Tiere im Zoo frei sind und was sie zu fressen kriegen usw.” Aber es waren eben nur wenige, die meinten, dass trotz scheinbar friedlichen Zusammenlebens es an Gerechtigkeit und gegenseitigem Verstehen mangeln könnte. Die Mehrheit dagegen hatte wenig Verständnis für diese Einwände. Und für den Begriff “kalter” Friede hatten sie erst recht kein Ohr. Dafür, dass Frieden Strukturen braucht, und zwar gerechte Strukturen, waren nur wenige offen. Warum? Weil die meisten Kinder personell und nicht strukturell denken und empfinden. Wenn alles friedlich verläuft, dann, so folgern die meisten, verstehen sich auch die Menschen gut und es herrscht Friede.
Auf die Gewaltfrage antwortete die Mehrheit spontan mit “Nein”. Boxen, Raufen, Traineranfeuerung, Lehrermahnung und Polizeikontrolle hielten die Kinder nicht für Gewalt. Gewalt liegt für sie nur vor, wenn eine Person eine andere mutwillig physisch verletzt. Sie sind nur für personale und nicht für strukturelle Gewalt zugänglich.
So reagierten sie auch auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern: Die politische, militärische und ökonomische Gewalt in diesem Konflikt erkannten sie nicht. Sie schlugen statt dessen vor: Die Regierenden sollen zusammen essen, die Kinder sollen eine gemeinsame Schule besuchen und die Jugendlichen sollen zusammen Fußball spielen. Die Feinde sollen sich vertragen. Allein durch personelle Maßnahmen möchten Kinder Frieden stiften.
Eine besondere Beobachtung, die ich als Religionslehrer machte, möchte ich noch anfügen: Ich war oft fasziniert, wie fantasievoll Grundschülerinnen und -schüler Vorschläge für Versöhnung, Sich-wieder-Vertragen und sogar Feindesliebe machen. Aber außerhalb des Unterrichts verhalten sie sich, wie ich oft feststellte, keineswegs dementsprechend. In der Sek I dagegen waren viele Jugendliche grundskeptisch gegenüber Möglichkeiten einer Versöhnung oder gar Feindesliebe. Aber im Alltag entwickelten sie nach meiner Beobachtung oft faszinierende Formen der Streitschlichtung und einer friedlichen Konfliktlösung. Und das, obwohl 15-Jährige bekanntlich viel Gewalt austeilen und erleiden.
Die Mehrheit der 15-Jährigen reagierte auf die Friedensfrage gleich mit “Kommt drauf an!” Es komme darauf an, ob die Familienmitglieder füreinander einstehen; ob die Länder bilaterale Beziehungen pflegen usw. Sie zeigten ein Gespür dafür, dass Friede mit Gerechtigkeit, Toleranz, Verständnis und Beziehungen gefüllt werden müsse. Und die Unterscheidung zwischen “kaltem” und “warmem” Frieden nahmen sie gern auf. Nur eine Minderheit zeigte kein Gespür für diese strukturellen Bedingungen und reagierte auf die Friedensfrage wie die Grundschulkinder mit “Ja”.
Auf die Gewaltfrage reagierten die meisten zögerlich. Polizeigewalt, Erziehungsgewalt und Gewalt im Sport hielten sie zwar für Gewalt, aber für eine legale und nicht für eine bewusst schädigende Gewalt. Die meisten hatten ein Gespür für strukturelle Gewalt, und zwar gleich in der Unterscheidung zwischen konstruktiver und destruktiver struktureller Gewalt.
Entsprechend lauteten ihre Vorschläge zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts: Abrüstung, Stopp jeglicher Waffenlieferung, Stopp des Siedlungsbaus, Wirtschaftliche Sanktionen für beide Seiten, politischer Druck der Staatengemeinschaft, gerechte Wasserverteilung usw. Diplomatische Verhandlungen planten sie zusätzlich ein. Kurz: Sie schlugen strukturelle Maßnahmen zur Lösung des Konfliktes vor, weil sie nicht mehr allein in personellen, sondern auch in strukturellen Dimensionen dachten und denken. Nur eine kleine Minderheit hatte dafür kein Verständnis.
Der Forderung (Jesu) nach Feindesliebe gegenüber waren sie aber, wie gesagt, äußerst skeptisch und glaubten aufgrund ihrer bisherigen Lebenserfahrungen nicht an solche Möglichkeit. Im Alltag aber beobachtete ich bei ihnen, wie ich erwähnt habe, eine kreative Offenheit für Versöhnung und gewaltfreie Konfliktlösungen.
Fazit: Acht- und Neunjährige denken also mehrheitlich personell und stellen sich dementsprechend Frieden, Gewalt und Konfliktlösungen personell vor; demgegenüber denken 15- und 16-Jährige großenteils auch strukturell und stellen sich entsprechend Frieden, Gewalt und Konfliktlösungen auch mit Hilfe von Strukturveränderungen vor.
Was folgt daraus für die Friedenserziehung? Kinder sollten m.E. in ihrer personalen Fantasie gestärkt, aber auch für die Bedeutung von Strukturen sensibilisiert werden. Und Jugendliche sollten in ihrer strukturellen Fantasie gestärkt, aber auch für die Chancen personaler Friedensstiftung aufgeschlossen werden. Außerdem sollte der Versöhnungsresignation mancher Jugendlicher und dem mangelnden Versöhnungsverhalten mancher Kinder entgegengewirkt werden.
Meine Beobachtungen haben zwar keinen repräsentativen Charakter, aber trotzdem ziehe ich aus ihnen Folgerungen für mögliche Inhalte und Kompetenzziele im Unterricht.
Welche Ziele und Inhalte sollten in welcher Schulstufe erarbeitet und erworben werden?5
Im 1. bis 6. Schuljahr sollten Konflikte und Probleme der Kinder in den primären Sozialisationsgruppen (im Nahbereich) erarbeitet werden, die vorrangig personell gelöst werden müssen:6 Streit und Versöhnung unter Freunden; Gehorsam und Mündigkeit in der Familie; Konflikte in der Schule; Verhalten gegenüber Autoritäten; Schwierigkeiten mit sich selbst; Umgang mit Tieren und Pflanzen; u.ä. Und wenn es die tagespolitische Großwetterlage und die Agenda der Medien erfordert, sollten mit Kindern auch Krieg, Konflikte und Terrorismus besprochen werden. Es wäre falsch, in Grundschule und Orientierungsstufe nur Konflikte im Nahbereich zu thematisieren. Wenn das Fernsehen täglich über Afghanistan, den Irak und Israel/Palästina berichtet, dann rücken diese Kriegsschauplätze in den Nahbereich der Kinder. Und diese sollten beim Malen, Erzählen und Besprechen der Konfliktherde gerne ihre personelle Fantasie spielen lassen. Fragen der Strukturveränderung sollten vorsichtig angesprochen werden.
Daraus folgt: Den Kindern sollten Einsichten zur Wahrnehmung verbaler, psychischer, drohender, ausgrenzender, mobbender und auch struktureller und kultureller Gewalt eröffnet werden. Sie sollten Methoden einer gewaltfreien Konfliktlösung ohne Hauen, Grätschen, Spucken, Schubsen, Drohen und Verletzen kennen lernen. Sie sollten Regeln des Zuhörens, Zu-Wort-Meldens, Wahrnehmens und gegenseitigen Achtens praktizieren. Sie sollten Selbstbeherrschung lernen. Und sie sollten Sympathie, Empathie und Rollenreziprozität anstreben. Das alles sind erlernbare und nicht genetisch festgelegte Fähigkeiten.
Im 7. bis 10. Schuljahr7 sollten Probleme und Konflikte der Jugendlichen (im Nah- und Mittelbereich), die einen strukturellen Hintergrund haben, aufgegriffen werden:
Probleme der Schule, Konflikte unter und mit Migranten; Auswirkungen des Klimawandels auf unseren Alltag, Ausländerhass, Rassismus, Antisemitismus, Terrorismus und Fanatismus unter uns, Soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Friedens- und Gewaltpotentiale von Muslimen, Christen und Juden, Bundeswehreinsätze im Ausland u.a.
Lernziele könnten in diesem Alter die folgenden sein: Die Jugendlichen sollten lernen, anderen Kulturen und Religionen mit Respekt zu begegnen; sie sollten Ursachen und Auswirkungen von Gesellschaftskonflikten kennen lernen; sie sollten gewalttätiges destruktives Verhalten und deren Ideologien kennen lernen; ihr Rechts- und Unrechtsbewusstsein sollte geschärft werden; sie sollten lernen, sich demokratisch zu verhalten; sie sollten ein Gespür für Grund- und Menschenrechte entwickeln; und sie sollten angeleitet werden, Vorurteile und Feindbilder wahrzunehmen und zu überwinden. Das ist freilich kein Pflicht-, sondern ein Wahlkatalog für Lehrkräfte in der Sek I.
Im 11. bis 12./13. Schuljahr8 sollte es nicht verstärkt um strukturelle Fragen des Friedenstiftens gehen, sondern gleichermaßen wieder um personelle (im Nah-, Mittel- und Fernbereich): z. B. um Bundeswehreinsätze aus humanitären Gründen, um den nationalen und internationalen Terrorismus, um die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise auf unseren Alltag, um Gewalt und Religion, um Leben in der Migrationsgesellschaft; um Gefährdungen der Demokratie, um Alltags-Kriminalität; usw.
17- bis 19-Jährige sollen gerade die Verflechtung von Strukturen und Personen in Konflikten und bei der Konfliktlösung erarbeiten. Und sie sollen erkennen, dass ihr persönlicher Einsatz bei der Förderung ihres privaten und des öffentlichen Friedens gefragt ist.
Sie sollten dabei lernen, ethisch zu urteilen und gegebenenfalls zu handeln, ein Demokratiebewusstsein zu entwickeln, für Umwelt und Nachhaltigkeit einzutreten, Menschen- und Weltbürgerrechte einzufordern, gewalttätige Ideologien zu kritisieren usw. Keinesfalls darf Friedenserziehung in der Sek II abstrakt und abgehoben sein, sondern sie muss die Schülerinnen und Schüler genauso existentiell berühren und herausfordern wie in der Grundschule.
Friedenserziehung in der Schule, die in vielen Schulfächern ihren Platz hat, ist ein entscheidender Baustein für die Friedensentwicklung und Friedenssicherung in unserer Gesellschaft.
Anmerkungen
- Ich beschränke mich in diesem Aufsatz auf didaktische Fragen. Bezüglich der allgemein-pädagogischen Fragen verweise ich auf: Karl Ernst Nipkow: Pädagogik und Religionspädagogik zum Neuen Jahrhundert, Gütersloh 2005 Bd. 2, bes. S.125-228; ders.: Der schwere Weg zum Frieden. Geschichte und Theorie der Friedenspädagogik von Erasmus bis zur Gegenwart, Gütersloh 2007; “Handbuch Friedenserziehung” hg. von Werner Haußmann, Hansjörg Biener, Klaus Hock und Reinhold Mokrosch, Gütersloh 2006; Norbert Ammermann, Beate Ego, Helmut Merkel (Hg): Friede als Gabe und Aufgabe, Festschrift für R. Mokrosch, Göttingen 2005; s. dort auch weitere zitierte Literatur.
- Vgl. Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975, passim.
- Ausführlicher habe ich das dargelegt und diskutiert in meinen Handbuch-Artikeln: Reinhold Mokrosch: “Frieden: Gewaltvermeidung und Gerechtigkeitsförderung” und “Erziehung zum Frieden: Gewaltminderung und Gerechtigkeitsmaximierung”, in: Reinhold Mokrosch / Arnim Regenbogen: Werteerziehung und Schule. Ein Handbuch für Unterrichtende, Göttingen, 2009, S. 43-51, 196-203. Und: Ders.: “Friedenserziehung aus evangelischer Sicht” und “Methoden des Friedenstiftens und der Friedenserziehung” und “Christliche Perspektiven der Friedenserziehung in der Schule”, in: “Handbuch Friedenserziehung” a.a.O. Anm.1, S. 119-124, 210-215, 349-351.
- Ich habe die folgende Befragung in vier Klassen durchgeführt und in: R. Mokrosch: Gewalt. Arbeitsheft Ethik Sek II, hg. von Reinhold Mokrosch und Arnim Regenbogen, Donauwörth 2000, S. 6-13 veröffentlicht.
- Ich beziehe mich im Folgenden u.a. auf M. Rothgangel: Gewalt/Aggression und R. Mokrosch: Frieden/Krieg, in: Rainer Lachmann, Gottfried Adam, Martin Rothgangel (Hg): Ethische Schlüsselprobleme. Lebensweltlich – theologisch – didaktisch, Göttingen 2006, S. 66-104.
- Vgl. bes. Dietmar Peter: Konflikte wahrnehmen, verstehen und gestalten. Unterrichtsmaterialien für die Klassenstufen 5 und 6 (Arbeitshilfen Sek I, Nr. 10) Loccum 2005, und Emma Damon: Frieden – Wie geht das?, Wien / Stuttgart 2004 und die dort angegebene Literatur.
- Vgl. bes. Eckhart Marggraf, Martin Polster, Reihe Unterrichtsideen 4. Teilband, 9./10. Schuljahr: Gerechtigkeit und Frieden, Stuttgart 2003.
- Vgl. mein “Arbeitsheft Sek II im Ethik-, Religions- und Philosophieunterricht”: R. Mokrosch: “Gewalt”, a.a.O. Anm. 4 und die dort angegebene Literatur.