„Schritte gegen Tritte“– Eine Alternative zu Flucht und Kampf

von Klaus Burckhardt

 

Janina mag nicht aufstehen. Sie hat Bauchschmerzen. Die Mutter hakt nach, „wo tut’s denn weh?“ Die Elfjährige druckst herum, offenbart schließlich den wahren Grund: Sie hat Angst. Auf dem Schulhof wird sie oft geschubst und geschlagen, in der Klasse versteckt man ihre Bücher und Hefte, auf dem Schulweg wird sie bedroht.

Schule sollte ein Ort sein, an dem Kinder gedeihen und sich entwickeln können. Leider zeigt der Alltag oft ein ganz anderes Gesicht: Die Gewalt innerhalb und außerhalb von Schule beherrscht den Alltag von Kindern in immer größerem Maß. Zwar wird sie nur von einer kleinen Minderheit ausgeübt; die aber agieren mit immer brutaleren Mitteln.

Die Ursachen für die zunehmende Gewaltbereitschaft dürfen allerdings nicht allein im Umfeld Schule gesucht werden. „Jugendgewalt kann als Seismograph einer gesamten Gesellschaft gelten“, meint der Psychologe Friedrich Lösel.* Deswegen muss Prävention aus dem gemeinsamen Tun von Schülern und Schülerinnen, Eltern, Pädagogen und Mitarbeitern kirchlicher und sozialer Einrichtungen geschehen. Gerade die Amokläufe von Erfurt und Winnenden, aber auch die Ereignisse von München machen dies deutlich.

Hier hat das Anti-Rassismus und Gewaltpräventionsprojekt „Schritte gegen Tritte“ seinen Ort. Es ist in den Jahren 1991 bis 1993 in der Apartheidsituation Südafrikas entstanden, wurde aber auch in die Erlebniswelt von Jugendlichen in Deutschland übersetzt. Außerdem gibt es seit 2005 mit „Schritte gegen Tritte – Flucht/Migration“ ein weiteres Modul, das die Wege von jungen Flüchtlingen vom Herkunftsland bis nach Europa schildert. Es ist ab Klassenstufe 7 in Schulen und Kirchengemeinden einsetzbar und wird von lizensierten externen Multiplikatorinnen und Multipliaktoren entweder an einem Unterrichtstag (fünf bis sieben Unterrichtseinheiten) oder verteilt auf zwei Unterrichtstage durchgeführt.

Dabei geht das Projekt einen zweifachen Weg: von struktureller über kulturelle zur persönlichen Gewalt, und von fremder zur eigenen Erfahrung. Der Gewaltbegriff wird dabei in doppeltem Sinne verstanden: als „violentia/violence“ (repressive Gewalt) und als „potestas/empowerment“ (positive Machtausübung). So wie es auch dem biblischen Verständnis von „Gewalt“ als Vollmacht (exousia) entspricht, die nicht Gemeinschaft zerstört, sondern in Wahrheit erst ermöglicht (Matth.9,6, 28,18ff), und die sich schützend für Unterdrückte, Hilflose und Schwache einsetzt (Matth.9,35; 10,1). Sie ist als Dienst, nicht Tyrannenherrschaft zu verstehen (Matth.20,25) und nutzt gewaltfreie Mittel (Matth.5,34 ff). Im besten Sinn kann von Gewalt als „potestas“ dann die Rede sein, wenn jemand mit seiner/ihrer Lebensenergie und Voll-Macht so umgeht, dass sie Leben ermöglicht und Spielräume zur Entfaltung der Persönlichkeit nutzt.

Der Weg lohnt sich: In einem groß angelegten Rollenspiel wird anhand der Eingangs-szenarien aus Südafrika oder Fluchtwegen junger Migrantinnen und Migranten bei den Schülerinnen und Schülern eine emotionale Betroffenheit ausgelöst, die Empathie fördert und die Jugendlichen nach den Gründen für die erlebte Gewalt fragen lässt. Sie spüren den Zusammenhängen von persönlicher Gewaltgeschichte und strukturellen Gewaltursachen nach und entdecken, dass Ausgrenzung nicht vom Himmel fällt, sondern bestimmten Machtgruppen und Personenkreisen Vorteile verschafft, die sie ökonomisch, politisch, ja auch kulturell verankern und rechtfertigen.

Dies ermöglicht in einem Folgeschritt die Reflexion eigener Erfahrungen zum Thema. Wo liegen die Ursachen für eigene Gewalt- und Ausgrenzungserlebnisse? Wer zieht daraus Vorteile und warum? Wo liegen weitere Ursachen? „Schritte gegen Tritte“ will, dass Schüler über ihre eigenen Erlebnisse mit Gewalt reden können und dabei nicht ausgelacht werden. In geschlechtsspezifischen Gesprächsgruppen wird dazu Raum gegeben. Die Übung „Geh schweigend in den Kreis“ (M 1) dient dabei als Gesprächsöffner – sehr schnell wird deutlich, dass Gewalt trotz aller unterschiedlichen Erfahrungen auch in der Gruppe selbst zur Alltagserfahrung gehört. Dies ist ein erster Schritt zur Überwindung der eigenen Sprach- und Machtlosigkeit. Denn wenn ich weiß, dass ich mit meinen Erfahrungen nicht alleine bin, wächst meine Bereitschaft, anderen zuzuhören und von ihnen zu lernen. Wichtig ist bei der Durchführung darauf zu achten, dass diese Phase von professionellen Ansprechpartnern aus der Beratungsarbeit in Schule und Jugendarbeit moderiert wird.

In einem weiteren Schritt wird anhand von konkreten Erlebnissen aus der Erfahrungswelt der Jugendlichen im Rollenspiel dargestellt, wie Konflikte entstehen, welche Faktoren sie eskalieren lassen und welche Rollen die unterschiedlichen Personen im Konflikt spielen (Täter, Beobachter, Opfer). Die gespielten Gewaltszenarien werden dann mit den Methoden des „Theaters der Unterdrückten“ (A. Boal) von den Jugendlichen so verändert, dass eine Deeskalation möglich und ein alternativer Weg zur gewaltfreien Lösung des Konflikts sichtbar wird. Hier wird Ermächtigung im oben genannten Sinne konkret erfahrbar und führt zur Erweiterung des eigenen Spielraums im Umgang mit Konflikten.

Dabei wird den Jugendlichen von dem Multiplikatoren-Team immer wieder Rückmeldung auf ihre Handlungsweise und Sprache gegeben. So erfahren sie, dass Angst vor Gewalt „normal“ ist, lernen, auf Körpersignale zu achten und zwischen Flucht und Kampf abzuwägen. Das stärkt das persönliche Selbstwertgefühl und macht Mut, beim nächsten gewalttätigen Konflikt nicht wegzusehen, sondern einzugreifen.

Als ein Teil dieses Feedbacks analysieren die Jugendlichen den Dokumentationsfilm „Dienstag – Gewalt in der U-Bahn“, indem sie die Szenen einzeln ansehen und bewerten (M 2 und M 3) und anschließend daraus einen Regelkatalog zum richtigen Verhalten in Gewaltsituationen entwickeln. Natürlich gehört dazu immer auch der Hinweis, dass Jugendliche sich trotz aller Hilfsbereitschaft nicht unbedacht in Gefahr begeben sollen und selbst bei Einhaltung aller Regeln immer auch unabwägbare Risiken bestehen.

„Immer wieder erleben wir, wie dankbar Schüler sind, wenn sie erfahren, dass Zivilcourage Stärke ist“, berichtet Maik Bischoff, einer der erfahrensten Multiplikatoren, „aber das Projekt ist nur ein Baustein in einer Kette vieler Präventionsmaßnahmen.“

Mittlerweile wird das 1993 aus Südafrika nach Deutschland importierte Projekt von 140 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in vier Bundesländern angeboten und erreicht Jugendliche von zwölf bis 18 Jahren in Schulen und Kirchengemeinden.

Das Unterrichtsmaterial zum Projekt „Schritte gegen Tritte“ ist bei der Arbeitsstelle Friedensarbeit im Haus kirchlicher Dienste, Archivstr. 3, 30169 Hannover oder online unter „Material“ auf www.kirchliche-dienste.de/friedens arbeit zu bestellen. Weitere Informationen zu Modulen, Durchführung, Kosten etc. können unter www.schrittege gentritte.de abgerufen werden.

M 1

Übung: „Geh schweigend in den Kreis, wenn du …

Wichtig: Diese Übung sollte in geschlechtsspezifischen Gruppen durchgeführt und von pädagogisch geschulten Moderator/innen durchgeführt werden! Niemand wird zur Übung gezwungen. Störungen haben Vorrang und sollten prioritär behandelt werden. Es sollte ebenfalls gleich zu Beginn gesagt werden, dass aus der geschlechtsspezifischen Gruppe nichts an die andere Gruppe und an das Lehrpersonal zurückgemeldet wird, mit der Einschränkung, dass ggf. jemand aktiv Hilfe der Moderator/innen sucht oder einfordert.

Vor Beginn stellen sich die Jugendlichen im Kreis auf. Es muss genug Platz sein (Armlänge nach rechts und links), so dass alle problemlos einen Schritt in den Kreis gehen und dann wieder zurücktreten können, ohne mit anderen zu kollidieren. Es ist dringend erforderlich, klar zu sagen, dass die Übung schweigend (ohne Kommentare und Fragen) durchgeführt wird.

Zusatz: Es können gerne auch weitere geschlechtsspezifische Fragen – besonders anfangs zur Auflockerung – hinzugefügt werden.

Geh schweigend in den Kreis, wenn du …

  • älter als …… bist
  • jünger als …… bist
  • gerne Sport machst
  • gerne Musik hörst
  • dich in deiner Klasse wohlfühlst
  • das einzige Kind in deiner Familie bist
  • mehr als drei Geschwister hast
  • das jüngste Kind bist
  • das älteste Kind bist
  • mit nur einem Elternteil aufwächst
  • schon mal selbst beleidigt wurdest
  • schon mal jemand beleidigt hast
  • schon mal selbst mit Gewalt bedroht wurdest
  • schon mal jemand mit Schlägen gedroht hast
  • schon mal jemand geholfen hast, der/die bedroht oder geschlagen wurde
  • schon mal „gekniffen“ hast, wo Du eigentlich hättest helfen müssen
  • eine andere Person geschlagen oder körperlich verletzt hast
  • selbst geschlagen oder körperlich verletzt wurdest
  • schon mal jemand so geschlagen hast, dass er/sie blutete
  • von jemand unangenehm berührt wurdest
  • jemand unangenehm berührt hast
  • von jemand gezwungen wurdest, ihn/sie zu berühren, ohne dass du das wolltest
  • jemand den Tod gewünscht hast
  • selbst gewünscht hast, tot zu sein
  • du schon mal mit einem Konfliktlotsen/Streitschlichter tu tun hattest
  • dich schon mal entschuldigt hast, nachdem Du Gewalt ausgeübt hattest
  • bei allen Fragen die Wahrheit gesagt hast

Nach der letzten Frage setzen sich alle Teilnehmer/ innen im Kreis zusammen. Auch hier sollten noch einmal die bereits oben erwähnten Verabredungen sowie weitere Gesprächsregeln von der Jugendlichen selbst gesammelt (und ggf. vom Moderator ergänzt) werden: Niemand muss reden, jede/r darf reden, bitte melden, nicht beleidigen oder auslachen, ausreden lassen, andere zum Zug kommen lassen, u.s.w. Erst nachdem alle den Regeln zugestimmt haben, beginnt das Gespräch mit folgenden Fragen: Was ist euch bei dieser Übung aufgefallen? Wo gab es ganz viel Übereinstimmung? Wo nicht? Woran kann das liegen? War es schwer, bei manchen Fragen in den Kreis zu treten? Warum? Auf diese erste Runde folgt die Frage: Wo habt ihr denn schon selbst einmal Gewalt erlebt?

Wichtige Zusatzerklärung: Falls in der Schilderung einer Gewalterfahrung aus der Klasse selbst eine bestimmte Person zu sehr emotional ins Visier genommen wird (z.B. beim Thema Mobbing), muss der/die Moderator/in sich einschalten und vorschlagen, den Konflikt zwischen den Beteiligten in einem gesondert angesetzten Gespräch zu behandeln. Damit wird der Konflikt ernst genommen, gewinnt aber im Rahmen der gegenwärtigen Gesprächseinheit nicht das Alleinstellungsmerkmal, das ebenfalls wichtige weitere Erfahrungen und Problemstellungen ins Abseits drängt und nicht zum Zuge kommen lässt. Es kann ebenfalls passieren, dass eine spezielle Konfliktproblematik entweder die Jugendlichen oder auch den/die Moderator/in überfordert und deshalb eine gesonderte Thematisierung unter Zuhilfenahme weiterer Expertinnen und Experten nötig macht.

 

M 2

Anleitung zur Arbeit mit dem Video „Dienstag – Gewalt in der U-Bahn“

Aufgabe
In sechs Szenen werden unterschiedliche Reaktionen der von einer versteckten Kamera gefilmten Passanten gezeigt und mit den Jugendlichen anhand eines Positionsbarometers gemeinsam ausgewertet.


Ziel
Wenn die Jugendlichen eine ähnliche Szene bereits selbst zuvor in einem Rollenspiel erlebt und besprochen haben, wird im Video deutlich, wie auch in der Realität ganz unterschiedliche Reaktionsweisen möglich sind und die Situation deutlich verändern. Dabei wird besonders Wert darauf gelegt, ermutigende Reaktionsweisen zu verdeutlichen, die deeskalierende Wirkung haben können.


Quelle
Das Video „Dienstag – Gewalt in der U-Bahn“, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1995, Bildquelle: Hessischer Rundfunk, kann in örtlichen Landesbildstellen bzw. direkt bei der Bundeszentrale für politische Bildung ausgeliehen bzw. bestellt werden.


Arbeitsanleitung
„Zwei Männer steigen in eine mit Passagieren besetzte U-Bahn. ‚Deutschland zuerst’, brüllt der eine. Kurz darauf gehen beide zielstrebig auf einen jungen Schwarzen zu. ‚Eh Nigger, haste Feuer?’ wird dieser angepöbelt. Die beiden setzen sich neben den jungen Mann, werden aggressiver. Die Situation wirkt äußerst bedrohlich. Wird jemand eingreifen?“ Die Jugendlichen äußern ihre Vermutungen.

„Ihr werdet jetzt eine solche Anmache (wie ihr sie vorhin im Rollenspiel selbst dargestellt habt) in sechs verschiedenen Varianten in Wirklichkeit sehen. Sie ist in einer U-Bahn in Frankfurt gedreht und mit unterschiedlichen Passanten von einer versteckten Kamera aufgenommen worden. Sowohl die beiden Täter als auch das Opfer sind Schauspieler. Aber alle übrigen Personen in der U-Bahn (mit Ausnahme derjenigen, die die jeweilige Szene abbrechen werden) wissen nicht, dass es sich hier um eine gespielte Szene handelt.“

Es folgt der Arbeitsauftrag. Die Folie „Positionsbarometer ‚Dienstag – Gewalt in der U-Bahn‘“ wird dazu auf den OHP gelegt (M 3).

„Nachdem ihr eine Szene angeschaut habt, markiert mit einem Stift auf diesem Positionsbarometer (das wir gleich austeilen), wie ihr die Reaktionen der Passanten einschätzt. Dabei gibt es drei Möglichkeiten:

a. Angriff – die Passanten werden aktiv. Aber sie greifen so ein, dass die Situation für alle bedrohlicher wird, und zwar für alle Beteiligten.
b. Flucht – die Passanten bleiben passiv. Sie tun nichts, greifen nicht ein, zeigen Fluchtverhalten. Dadurch wächst die Gewalt ebenfalls, besonders für das Opfer.
c. Eingreifen – die Passanten werden aktiv. Allerdings reagieren sie so, dass die Gewalt abnimmt und ein gute Lösung für das Opfer sichtbar wird.“

Weitergehende Differenzierung: „Ihr könnt auch Positionen zwischen den unterschiedlichen Punkten eintragen; z.B. wenn ihr meint, dass eine Szene Anteile von Flucht, aber auch von einer positiven Lösung hatte.“

Abschluss der Erläuterungen: „Nach jeder Szene werde ich das Video stoppen, um euch Gelegenheit zu geben, eure Einschätzung einzutragen. Anschließend sprechen wir über die Szene, und zwar mit den folgenden Fragen:
a. Welche Verhaltensweisen (Sprache und Körpersprache) fandest du besonders schlecht? Warum?
b. Welche Verhaltensweisen (Sprache und Körpersprache) fandest du besonders gut? Warum?“

Die Arbeitsblätter „Positionsbarometer ‚Dienstag – Gewalt in der U-Bahn‘“ werden an alle Schüler verteilt.

Alle Szenen werden einzeln vorgeführt und ausführlich besprochen. Dazu ein wichtiger Hinweis: Auf jede Szene folgt ein Interview mit der Person, die maßgeblich als Passant am Ablauf der Szene beteiligt war. Dieses Interview sollte erst dann eingesetzt werden, wenn die Jugendlichen sich über die Reaktion der entsprechenden Person eine gemeinsame Meinung gebildet und diese auf der OHP-Folie markiert haben.

Es hat sich bei der Auswertung der Szenen bewährt, nach der Markierung der Position die Zehn-Punkte Folie „Ratschläge zum Verhalten in Bedrohungssituationen“ (M4) aufzulegen und zu fragen: „Welche Ratschläge haben die Passanten in dieser Szene angewendet, welche nicht?“


Kurze Erläuterung der verschiedenen Szenen

Szene I:
Flucht. Hier soll der Unterschied zwischen Sprache und Körpersprache herausgearbeitet werden. Zu Beginn der Szene protestiert eine ältere Frau zwar deutlich gegen die Anmache, geht aber weg. Auch der ältere Herr, der später einsteigt, mischt sich verbal ein, zeigt aber durch seine Körpersprache deutlich, dass er Angst hat.

Fazit: Sprache und Körpersprache müssen übereinstimmen, um Wirkung zu zeigen. (Option: Übung „Wie wirke ich stark, aber nicht aggressiv?“)

Szene II:
Zwischen Angriff und Flucht. Nachdem ein junger Mann wegläuft, um Hilfe zu holen (allerdings dies nicht sagt!), mischt sich eine junge Frau mutig ein. Allerdings bringt sie sich selbst in Gefahr, indem sie die Täter mit Worten und Gesten provoziert. (z. B. durch „Vogel“ zeigen; Aussagen wie „Ihr seid das letzte Stück Scheiße, noch weniger als er!“).

Fazit: Verbale Gewalt trägt zur Eskalation bei, ist in anderen Situationen oft Auslöser physischer Gewalt. Hier können Beispiele aus der Klassensituation eingebracht werden.

Szene III:
Eingreifen. Ein athletischer Mann geht auf die Täter zu, spricht sie leise an, hört auch zu. Kurz darauf kommen weitere Passanten hinzu, werden lauter und deutlicher, aber ohne zu drohen. Zum Schluss soll die Polizei eingeschaltet werden. Im Folge-Interview stellt sich heraus, dass die Methode des Eingreifens im hinteren Bereich der U-Bahn zuvor abgesprochen und dann erst in die Tat umgesetzt wurde.

Fazit: Je weiter Beobachter von der Szene entfernt sind, umso bessere Möglichkeiten haben sie, sich zu solidarisieren und verschiedene Lösungsmöglichkeiten abzusprechen.

Szene IV:
Zwischen Eingreifen und Angriff. Eine resolute ältere Frau spricht die Täter sofort sehr bestimmt und deutlich für alle Passanten verstehbar an. Daraufhin verdrücken sich die Täter in die Abteilecke zum Opfer, machen dieses aber weiter an. Daraufhin greift die resolute ältere Frau nochmals ein und bekommt Unterstützung, u.a. von einem schmalen jüngeren Mann, der allein sicher nichts unternommen hätte. Die Situation spitzt sich zu, als einige ebenfalls sehr aggressive jüngere Ausländer zur Unterstützergruppe stoßen. Zunächst kann die ältere Frau die Situation ausbalancieren („Das ist unser aller Problem, die Anmache, die ihr hier treibt“), aber unversehens wird sie selbst provozierend („Seid ihr auch nur ein Stück Dreck?“) und wird so der jungen Frau in Szene II ähnlich. Dies provoziert erhöht aggressives Verhalten der nunmehr bedrohlichen Unterstützer und muss wiederum von der resoluten älteren Frau aufgefangen werden: („Nein, Bastard muss auch wieder nicht sein!“)

Fazit: Keine Szene ist in sich selbst statisch, sie oszilliert zwischen den Möglichkeiten, bewegt sich. Jedes Wort kann die Richtung verändern. Hier wird deutlich, wie eine zunächst positive Lösung sich gefährlich in Richtung Angriff hin entwickelt. Positiv ist die Wirkung des Satzes „Das ist unser aller Problem...“ hervorzuheben.

Szene V:
Fast Angriff. Die U-Bahn ist fast leer, es sind hauptsächlich Frauen als Passagiere zu sehen. Es ist unheimlich still, nur die Worte der Täter sind zu hören. Einige Frauen steigen sehr schnell an der nächsten Haltestelle aus. Ein junger Mann kommt herein, bewegt sich sofort in Richtung Täter, gefolgt von einer etwas unsicher wirkenden Frau. Er setzt sich auf den Sitz auf der gegenüberliegenden Seite vom Mittelgang zu den Tätern, spricht nur zwei kurze provozierende Sätze und zieht dann ein Messer. Daraufhin stürzt einer der Filmemacher auf ihn zu, beruhigt ihn und erklärt ihm die Szene, unterstützt ebenfalls vom schwarzen Schauspieler. Im anschießenden Interview sagt der junge Mann: „Ich habe so was schon öfter mitgekriegt in Frankfurt, so einen Rassismus. Ich bin so ein Mensch, ich gehe gleich hin und versuche zu helfen“).

Fazit: „Wenn die Mitte schweigt, dann wachsen die Extreme!“ Es ist deutlich, dass in dieser Szene fast gar nicht geredet wird. Dadurch erhöht sich die Gefahr körperlicher Auseinandersetzung. Weil niemand mit Worten eingreift, glaubt der junge Mann, den „Retter“ spielen zu müssen. Dabei jedoch wendet er die gleichen Prinzipien an wie die Täter. Vertiefungsmöglichkeit: Umgang mit Waffen thematisieren (Butterfly Messer, Reizgas etc.) und Warnung der Polizei verdeutlichen (Mitnahme von Waffen, selbst Verteidigungswaffen, bietet keinen wirklichen Schutz, sondern macht eher unvorsichtig!)

Szene VI:
Von der Flucht zur positiven Lösung. Als die Täter das Opfer provozieren, ist die U-Bahn fast voll besetzt. Es kommt zu einer panikartigen Flucht – die meisten Passanten steigen an der nächsten Haltestelle aus. Unter den neu Hereingekommenen ist ein junger Mann mit Lederjacke, dessen Körpersprache deutlich zeigt, dass er eigentlich etwas tun will, aber letztlich nicht den Mut dazu hat. Für ihn ist es wie eine Erlösung, als ein älterer Mann mit Bart die Täter beherzt anspricht („Lassen Sie den Mann aufstehen“), dann selbst aufsteht, einen kurzen Blick auf den jungen Mann mit Lederjacke wirft und sich auf die Täter zu bewegt. Unversehens bekommt er Unterstützung dreier Männer, unter ihnen auch der junge Mann. Daraufhin streckt der ältere Mann überraschend dem Opfer die Hand hin und zieht ihn mit Nachdruck aus der Situation heraus. Die Dreier-Gruppe nimmt das Opfer in die Mitte und zieht sich vom Ort des Geschehens zurück.

Fazit: Durch das Benutzen des „Sie“ statt des „Du“ schützt sich der ältere Herr und stellt Distanz her. Er steht selbst auf, agiert aber erst, nachdem er sich durch Blickkontakt der Unterstützung versichert hat. Seine Handlung ist opferzentriert und entschlossen, sie überrascht die Täter und bringt sie aus dem Gleichgewicht. Wichtig: Es gibt bei allen Gewaltszenarien Unabwägbarkeiten und daher keinen hundertprozentigen Schutz. Bei allem Eingreifen bleibt ein Restrisiko, dessen man/frau sich bewusst sein sollte. Daher wichtigste Regel: Helfen, ohne sich selbst unnötig in Gefahr zu bringen!

 

M 3

Positionsbarometer „Dienstag – Gewalt in der U-Bahn“

Zwei Männer steigen in eine mit Passagieren besetzte U-Bahn. „Deutschland zuerst“, brüllt der eine. Kurz darauf gehen beide zielstrebig auf einen jungen Schwarzen zu. „Eh Nigger, haste Feuer?“ wird dieser angepöbelt. Die beiden setzen sich neben den jungen Mann, werden aggressiver. Die Situation wirkt äußerst bedrohlich. Wird jemand eingreifen? Welches Risiko geht er/sie dabei ein? Gibt es unterschiedliche Möglichkeiten und Methoden, gewaltmindernd in Gewaltsituationen zu wirken?

 

Angriff
Eingreifen
Flucht

Szene 1 _____________________|_______________________|_______________________|

Szene 2 _____________________|_______________________|_______________________|

Szene 3 _____________________|_______________________|_______________________|

Szene 4 _____________________|_______________________|_______________________|

Szene 5 _____________________|_______________________|_______________________|

Szene 6 _____________________|_______________________|_______________________|

Angriff:
Die Passanten werden aktiv. Aber sie greifen so ein, dass die Gewalt wächst, und zwar
für alle Beteiligten.


Flucht:
Die Passanten bleiben passiv. Sie tun nichts, greifen nicht ein, zeigen Fluchtverhalten.
Dadurch wächst die Gewalt ebenfalls, besonders für das Opfer.


Eingreifen:
Die Passanten werden aktiv. Allerdings reagieren sie so, dass die Gewalt abnimmt und
eine gute Lösung für das Opfer sichtbar wird.

Aufgaben:
1. Markiere auf der Linie, wie Du die Reaktionen der Passanten in jeder Szene einordnest.
(Auch „Zwischenpositionen“ sind möglich, z.B. zwischen „Flucht“ und „Eingreifen“ ) :

2. Welche Verhaltensweisen (Sprache und Körpersprache) fandest Du besonders schlecht? Warum?

3. Welche Verhaltensweisen (Sprache und Körpersprache) fandest Du besonders gut? Warum?

 

M 4

Regeln zum Verhalten in Gewaltsituationen

1. Vorbereiten!
Bereite dich auf mögliche Bedrohungssituationen seelisch vor: Spiel Situationen für dich allein und im Gespräch mit anderen durch. Werde dir grundsätzlich klar darüber, zu welchem persönlichen Risiko du bereit bist. Es ist besser, sofort die Polizei zu alarmieren und Hilfe herbeizuholen als sich nicht für oder gegen das Eingreifen entscheiden zu können und gar nichts zu tun.

2. Ruhig bleiben!
Panik und Hektik vermeiden und möglichst keine hastigen Bewegungen machen, die reflexartige Reaktionen herausfordern könnten. Wenn ich „in mir ruhe“, bin ich kreativer in meinen Handlungen und wirke meist auch auf andere Beteiligte beruhigend!

3. Aktiv werden!
Wichtig ist, sich von der Angst nicht lähmen zu lassen. Eine Kleinigkeit zu tun ist besser, als über große Heldentaten nachzudenken. Wenn du Zeuge/in von Gewalt bist: Zeig, dass du bereit bist, gemäß deinen Möglichkeiten einzugreifen. Ein einziger Schritt, ein kurzes Ansprechen, jede Aktion verändert die Situation und kann andere dazu anregen, ihrerseits einzugreifen.

4. Geh aus der dir zugewiesenen Opferrolle!
Wenn du angegriffen wirst: Flehe nicht und verhalte dich nicht unterwürfig. Sei dir über deine Prioritäten im Klaren und zeige deutlich, was du willst. Ergreif die Initiative, um die Situation in deinem Sinne zu prägen: Schreib dein eigenes Drehbuch!

5. Halte den Kontakt zum Angreifer/zur Angreiferin!
Stell Blickkontakt her und versuche, Kommunikation herzustellen bzw. aufrecht zu erhalten.

6. Reden und zuhören!
Teile das Offensichtliche mit, sprich ruhig, laut und deutlich. Hör zu, was dein Gegner/deine Gegnerin bzw. Angreifer/Angreiferin sagt. Aus seinen/ihren Antworten kannst du deine nächsten Schritte ableiten.

7. Nicht drohen oder beleidigen!
Mach keine geringschätzigen Äußerungen über den Angreifer/die Angreiferin. Versuch nicht, ihn/sie einzuschüchtern, ihm/ihr zu drohen oder Angst zu machen. Kritisier das Verhalten, aber werte ihn/sie persönlich nicht ab (Klar in der Sprache – mäßigend im Ton).

8. Hol dir Hilfe!
Sprich nicht eine anonyme Masse an, sondern einzelne Personen. Dies gilt sowohl für Opfer als auch für Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie sind bereit zu helfen, wenn jemand anderes den ersten Schritt macht oder sie persönlich angesprochen werden.

9. Tu das Unerwartete!
Fall aus der Rolle, sei kreativ und nutz den Überraschungseffekt zu deinem Vorteil aus.

10. Vermeide möglichst jeden Körperkontakt!
Wenn du jemandem zu Hilfe kommst, vermeide es möglichst, den Angreifer/die Angreiferin anzufassen, es sei denn, ihr seid in der Überzahl, so dass ihr jemanden beruhigend festhalten könnt. Körperkontakt ist in der Regel eine Grenzüberschreitung, die zu weiterer Gewalt führen kann. Wenn nötig, nimm lieber direkten Kontakt zum Opfer auf.

 Anmerkungen

  1. Ursachen der Gewalt junger Menschen, Prof. Friedrich Lösel, Institut für Psychologie der Universität Erlangen-Nürnberg, Internet-Artikel 2002.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2010

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