Janina mag nicht aufstehen. Sie hat Bauchschmerzen. Die Mutter hakt nach, „wo tut’s denn weh?“ Die Elfjährige druckst herum, offenbart schließlich den wahren Grund: Sie hat Angst. Auf dem Schulhof wird sie oft geschubst und geschlagen, in der Klasse versteckt man ihre Bücher und Hefte, auf dem Schulweg wird sie bedroht.
Schule sollte ein Ort sein, an dem Kinder gedeihen und sich entwickeln können. Leider zeigt der Alltag oft ein ganz anderes Gesicht: Die Gewalt innerhalb und außerhalb von Schule beherrscht den Alltag von Kindern in immer größerem Maß. Zwar wird sie nur von einer kleinen Minderheit ausgeübt; die aber agieren mit immer brutaleren Mitteln.
Die Ursachen für die zunehmende Gewaltbereitschaft dürfen allerdings nicht allein im Umfeld Schule gesucht werden. „Jugendgewalt kann als Seismograph einer gesamten Gesellschaft gelten“, meint der Psychologe Friedrich Lösel.* Deswegen muss Prävention aus dem gemeinsamen Tun von Schülern und Schülerinnen, Eltern, Pädagogen und Mitarbeitern kirchlicher und sozialer Einrichtungen geschehen. Gerade die Amokläufe von Erfurt und Winnenden, aber auch die Ereignisse von München machen dies deutlich.
Hier hat das Anti-Rassismus und Gewaltpräventionsprojekt „Schritte gegen Tritte“ seinen Ort. Es ist in den Jahren 1991 bis 1993 in der Apartheidsituation Südafrikas entstanden, wurde aber auch in die Erlebniswelt von Jugendlichen in Deutschland übersetzt. Außerdem gibt es seit 2005 mit „Schritte gegen Tritte – Flucht/Migration“ ein weiteres Modul, das die Wege von jungen Flüchtlingen vom Herkunftsland bis nach Europa schildert. Es ist ab Klassenstufe 7 in Schulen und Kirchengemeinden einsetzbar und wird von lizensierten externen Multiplikatorinnen und Multipliaktoren entweder an einem Unterrichtstag (fünf bis sieben Unterrichtseinheiten) oder verteilt auf zwei Unterrichtstage durchgeführt.
Dabei geht das Projekt einen zweifachen Weg: von struktureller über kulturelle zur persönlichen Gewalt, und von fremder zur eigenen Erfahrung. Der Gewaltbegriff wird dabei in doppeltem Sinne verstanden: als „violentia/violence“ (repressive Gewalt) und als „potestas/empowerment“ (positive Machtausübung). So wie es auch dem biblischen Verständnis von „Gewalt“ als Vollmacht (exousia) entspricht, die nicht Gemeinschaft zerstört, sondern in Wahrheit erst ermöglicht (Matth.9,6, 28,18ff), und die sich schützend für Unterdrückte, Hilflose und Schwache einsetzt (Matth.9,35; 10,1). Sie ist als Dienst, nicht Tyrannenherrschaft zu verstehen (Matth.20,25) und nutzt gewaltfreie Mittel (Matth.5,34 ff). Im besten Sinn kann von Gewalt als „potestas“ dann die Rede sein, wenn jemand mit seiner/ihrer Lebensenergie und Voll-Macht so umgeht, dass sie Leben ermöglicht und Spielräume zur Entfaltung der Persönlichkeit nutzt.
Der Weg lohnt sich: In einem groß angelegten Rollenspiel wird anhand der Eingangs-szenarien aus Südafrika oder Fluchtwegen junger Migrantinnen und Migranten bei den Schülerinnen und Schülern eine emotionale Betroffenheit ausgelöst, die Empathie fördert und die Jugendlichen nach den Gründen für die erlebte Gewalt fragen lässt. Sie spüren den Zusammenhängen von persönlicher Gewaltgeschichte und strukturellen Gewaltursachen nach und entdecken, dass Ausgrenzung nicht vom Himmel fällt, sondern bestimmten Machtgruppen und Personenkreisen Vorteile verschafft, die sie ökonomisch, politisch, ja auch kulturell verankern und rechtfertigen.
Dies ermöglicht in einem Folgeschritt die Reflexion eigener Erfahrungen zum Thema. Wo liegen die Ursachen für eigene Gewalt- und Ausgrenzungserlebnisse? Wer zieht daraus Vorteile und warum? Wo liegen weitere Ursachen? „Schritte gegen Tritte“ will, dass Schüler über ihre eigenen Erlebnisse mit Gewalt reden können und dabei nicht ausgelacht werden. In geschlechtsspezifischen Gesprächsgruppen wird dazu Raum gegeben. Die Übung „Geh schweigend in den Kreis“ (M 1) dient dabei als Gesprächsöffner – sehr schnell wird deutlich, dass Gewalt trotz aller unterschiedlichen Erfahrungen auch in der Gruppe selbst zur Alltagserfahrung gehört. Dies ist ein erster Schritt zur Überwindung der eigenen Sprach- und Machtlosigkeit. Denn wenn ich weiß, dass ich mit meinen Erfahrungen nicht alleine bin, wächst meine Bereitschaft, anderen zuzuhören und von ihnen zu lernen. Wichtig ist bei der Durchführung darauf zu achten, dass diese Phase von professionellen Ansprechpartnern aus der Beratungsarbeit in Schule und Jugendarbeit moderiert wird.
In einem weiteren Schritt wird anhand von konkreten Erlebnissen aus der Erfahrungswelt der Jugendlichen im Rollenspiel dargestellt, wie Konflikte entstehen, welche Faktoren sie eskalieren lassen und welche Rollen die unterschiedlichen Personen im Konflikt spielen (Täter, Beobachter, Opfer). Die gespielten Gewaltszenarien werden dann mit den Methoden des „Theaters der Unterdrückten“ (A. Boal) von den Jugendlichen so verändert, dass eine Deeskalation möglich und ein alternativer Weg zur gewaltfreien Lösung des Konflikts sichtbar wird. Hier wird Ermächtigung im oben genannten Sinne konkret erfahrbar und führt zur Erweiterung des eigenen Spielraums im Umgang mit Konflikten.
Dabei wird den Jugendlichen von dem Multiplikatoren-Team immer wieder Rückmeldung auf ihre Handlungsweise und Sprache gegeben. So erfahren sie, dass Angst vor Gewalt „normal“ ist, lernen, auf Körpersignale zu achten und zwischen Flucht und Kampf abzuwägen. Das stärkt das persönliche Selbstwertgefühl und macht Mut, beim nächsten gewalttätigen Konflikt nicht wegzusehen, sondern einzugreifen.
Als ein Teil dieses Feedbacks analysieren die Jugendlichen den Dokumentationsfilm „Dienstag – Gewalt in der U-Bahn“, indem sie die Szenen einzeln ansehen und bewerten (M 2 und M 3) und anschließend daraus einen Regelkatalog zum richtigen Verhalten in Gewaltsituationen entwickeln. Natürlich gehört dazu immer auch der Hinweis, dass Jugendliche sich trotz aller Hilfsbereitschaft nicht unbedacht in Gefahr begeben sollen und selbst bei Einhaltung aller Regeln immer auch unabwägbare Risiken bestehen.
„Immer wieder erleben wir, wie dankbar Schüler sind, wenn sie erfahren, dass Zivilcourage Stärke ist“, berichtet Maik Bischoff, einer der erfahrensten Multiplikatoren, „aber das Projekt ist nur ein Baustein in einer Kette vieler Präventionsmaßnahmen.“
Mittlerweile wird das 1993 aus Südafrika nach Deutschland importierte Projekt von 140 Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in vier Bundesländern angeboten und erreicht Jugendliche von zwölf bis 18 Jahren in Schulen und Kirchengemeinden.
Das Unterrichtsmaterial zum Projekt „Schritte gegen Tritte“ ist bei der Arbeitsstelle Friedensarbeit im Haus kirchlicher Dienste, Archivstr. 3, 30169 Hannover oder online unter „Material“ auf www.kirchliche-dienste.de/friedens arbeit zu bestellen. Weitere Informationen zu Modulen, Durchführung, Kosten etc. können unter www.schrittege gentritte.de abgerufen werden.
M 1 Übung: „Geh schweigend in den Kreis, wenn du … Wichtig: Diese Übung sollte in geschlechtsspezifischen Gruppen durchgeführt und von pädagogisch geschulten Moderator/innen durchgeführt werden! Niemand wird zur Übung gezwungen. Störungen haben Vorrang und sollten prioritär behandelt werden. Es sollte ebenfalls gleich zu Beginn gesagt werden, dass aus der geschlechtsspezifischen Gruppe nichts an die andere Gruppe und an das Lehrpersonal zurückgemeldet wird, mit der Einschränkung, dass ggf. jemand aktiv Hilfe der Moderator/innen sucht oder einfordert. Zusatz: Es können gerne auch weitere geschlechtsspezifische Fragen – besonders anfangs zur Auflockerung – hinzugefügt werden. Geh schweigend in den Kreis, wenn du …
Nach der letzten Frage setzen sich alle Teilnehmer/ innen im Kreis zusammen. Auch hier sollten noch einmal die bereits oben erwähnten Verabredungen sowie weitere Gesprächsregeln von der Jugendlichen selbst gesammelt (und ggf. vom Moderator ergänzt) werden: Niemand muss reden, jede/r darf reden, bitte melden, nicht beleidigen oder auslachen, ausreden lassen, andere zum Zug kommen lassen, u.s.w. Erst nachdem alle den Regeln zugestimmt haben, beginnt das Gespräch mit folgenden Fragen: Was ist euch bei dieser Übung aufgefallen? Wo gab es ganz viel Übereinstimmung? Wo nicht? Woran kann das liegen? War es schwer, bei manchen Fragen in den Kreis zu treten? Warum? Auf diese erste Runde folgt die Frage: Wo habt ihr denn schon selbst einmal Gewalt erlebt? Wichtige Zusatzerklärung: Falls in der Schilderung einer Gewalterfahrung aus der Klasse selbst eine bestimmte Person zu sehr emotional ins Visier genommen wird (z.B. beim Thema Mobbing), muss der/die Moderator/in sich einschalten und vorschlagen, den Konflikt zwischen den Beteiligten in einem gesondert angesetzten Gespräch zu behandeln. Damit wird der Konflikt ernst genommen, gewinnt aber im Rahmen der gegenwärtigen Gesprächseinheit nicht das Alleinstellungsmerkmal, das ebenfalls wichtige weitere Erfahrungen und Problemstellungen ins Abseits drängt und nicht zum Zuge kommen lässt. Es kann ebenfalls passieren, dass eine spezielle Konfliktproblematik entweder die Jugendlichen oder auch den/die Moderator/in überfordert und deshalb eine gesonderte Thematisierung unter Zuhilfenahme weiterer Expertinnen und Experten nötig macht. |
M 2 Anleitung zur Arbeit mit dem Video „Dienstag – Gewalt in der U-Bahn“ Aufgabe Es folgt der Arbeitsauftrag. Die Folie „Positionsbarometer ‚Dienstag – Gewalt in der U-Bahn‘“ wird dazu auf den OHP gelegt (M 3). „Nachdem ihr eine Szene angeschaut habt, markiert mit einem Stift auf diesem Positionsbarometer (das wir gleich austeilen), wie ihr die Reaktionen der Passanten einschätzt. Dabei gibt es drei Möglichkeiten: Weitergehende Differenzierung: „Ihr könnt auch Positionen zwischen den unterschiedlichen Punkten eintragen; z.B. wenn ihr meint, dass eine Szene Anteile von Flucht, aber auch von einer positiven Lösung hatte.“ Die Arbeitsblätter „Positionsbarometer ‚Dienstag – Gewalt in der U-Bahn‘“ werden an alle Schüler verteilt. Alle Szenen werden einzeln vorgeführt und ausführlich besprochen. Dazu ein wichtiger Hinweis: Auf jede Szene folgt ein Interview mit der Person, die maßgeblich als Passant am Ablauf der Szene beteiligt war. Dieses Interview sollte erst dann eingesetzt werden, wenn die Jugendlichen sich über die Reaktion der entsprechenden Person eine gemeinsame Meinung gebildet und diese auf der OHP-Folie markiert haben. Szene I: Szene II: Szene III: Szene IV: Szene V: Szene VI: |
M 3 Positionsbarometer „Dienstag – Gewalt in der U-Bahn“ Zwei Männer steigen in eine mit Passagieren besetzte U-Bahn. „Deutschland zuerst“, brüllt der eine. Kurz darauf gehen beide zielstrebig auf einen jungen Schwarzen zu. „Eh Nigger, haste Feuer?“ wird dieser angepöbelt. Die beiden setzen sich neben den jungen Mann, werden aggressiver. Die Situation wirkt äußerst bedrohlich. Wird jemand eingreifen? Welches Risiko geht er/sie dabei ein? Gibt es unterschiedliche Möglichkeiten und Methoden, gewaltmindernd in Gewaltsituationen zu wirken?
Szene 1 _____________________|_______________________|_______________________| Szene 2 _____________________|_______________________|_______________________| Szene 3 _____________________|_______________________|_______________________| Szene 4 _____________________|_______________________|_______________________| Szene 5 _____________________|_______________________|_______________________| Szene 6 _____________________|_______________________|_______________________| Angriff: Aufgaben: |
M 4 Regeln zum Verhalten in Gewaltsituationen 1. Vorbereiten! 2. Ruhig bleiben! 3. Aktiv werden! 4. Geh aus der dir zugewiesenen Opferrolle! 5. Halte den Kontakt zum Angreifer/zur Angreiferin! 6. Reden und zuhören! 7. Nicht drohen oder beleidigen! 8. Hol dir Hilfe! 9. Tu das Unerwartete! 10. Vermeide möglichst jeden Körperkontakt! |
Anmerkungen
- Ursachen der Gewalt junger Menschen, Prof. Friedrich Lösel, Institut für Psychologie der Universität Erlangen-Nürnberg, Internet-Artikel 2002.