Ich soll etwas schreiben zum Pilgern. Zum evangelischen Pilgern. Und ich soll etwas Kritisches schreiben. Ich tue das gern. Selbst auf die Gefahr hin, als Spaßbremse gewertet zu werden: Evangelisches Pilgern – was soll denn das? Was treibt aufrechte Protestanten dazu – zu pilgern? Wie ist es möglich, dass von einer regelrechten Pilgerbewegung die Rede ist? Warum machen Menschen, deren Konfessionskürzel “ev“, “lt“ oder “rf“ ist, so etwas mit? Da bin ich – man gestatte mir dieses Bild – nun wirklich von den Socken. Oder verstehe ich´s einfach nicht? Bin ich spirituell unterentwickelt? Schwappt zu viel Anti-Römisches in meinen Adern? (Vom Großvater her, der Presbyter im Rheinland war. – Soviel zu meiner Biographie.)
Also, ich frage an. Und ich kleide meine Anfrage in drei Teile.
Anfrage Nummer 1: Die Logik des Pilgerns setzt voraus, dass ein Ort besonderer Heiligkeit aufgesucht wird. Oder? Oder etwa nicht? Ich frage: Seit wann gibt es solche Orte in evangelischer Wahrnehmung? “Heilig“ – auf Orte bezogen – ist doch, auch wenn bis vor kurzem “das Heilige“ in der Praktischen Theologie einigermaßen Furore gemacht hat, eine reine Beschwörungsvokabel. Und selbst wenn es Ziele besonderer atmosphärischer Dichte gibt, was ich nicht bestreite, können die denn ernsthaft einen evangelischen Glaubensweg markieren? Ist der evangelische Glaubensweg nicht der, den Dietrich Bonhoeffer so beschreibt, nämlich: “dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder… (ich ergänze: einen Pilger)… dann wirft man sich Gott ganz in die Arme…“? Also: Warum soll ich irgendwo hingehen? Warum in die Ferne schweifen? Sieh: das Glück (des Glaubens, der Nachfolge) – es liegt so nah!
Anfrage Nummer 2: Ist evangelisches Pilgertum nicht einfach nur modisch und damit typisch für unsere Zeit, “die dazu verführt, die Wirklichkeit als Inszenierung zu verstehen, ihr durch Inszenierungen auf die Sprünge zu helfen“? (So Michael Beintker in seinem Aufsatz “Kirche spielen – Kirche sein“). “Das soll nur wieder so ´was sein“, hat die Großmutter meiner Frau immer gesagt, wenn sie auf “neumodernsken Kroam“ stieß. Ist evangelisches Pilgern wirklich mehr als etwas, das “nur wieder so ´was sein“ soll? Mehr als trendy? Mehr als “in“? Was könnte es mehr sein? Und was könnte es vorsätzlich mehr sein? Nimmt sich solcherart Vorsätzlichkeit nicht sehr merkwürdig aus? Denn: “Nicht das Werk, das du dir erwählst, nicht das Leiden, das du dir erdenkst, sondern das, welches dir wider dein Erwählen… zukommt, da folge… Dein Meister ist gekommen.“ So Luther in seiner Auslegung der sieben Bußpsalmen. Also: Warum soll ich pilgern und mich damit auf “eine der signifikantesten Formen öffentlich gelebter Religion“ (so der TRE-Artikel zu “Wallfahrt“!) einlassen, wo mir doch die Chance zur Öffentlichkeit gelebter Religion locker jeden Tag in jedem, der mich braucht, und bei jedem, mit dem ich mich mitfreuen kann, begegnet?
Anfrage Nummer 3: “Wir wandern in der Pilgerschaft“ (EG 282, Strophe 4). Gewiss. Aber unsere Pilgerschaft ist keine Wegstrecke von A nach B. Unsere Pilgerschaft ist unser ganzes Leben. “Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn“. Zwischen Wiege und Bahre liegt der evangelische Pilgerweg. Zu diesem Weg gehören Innehalten und innere Einkehr dazu. Aber wie ließe sich da etwas segmentieren und mit dem Prädikat gesteigerter Selbst- und Gotteserfahrung versehen? Der evangelische Pilgerweg lässt sich nur riskieren. Als die Unbekannten und doch bekannt, als die Armen, die nichts haben und doch alles haben, gehen wir unseren Weg und sollten es ertragen, dass wir gegen anderes, das rasch Eindruck macht, wenig aufbieten können. Es gibt immer noch genug zu tun. Und zu loben auch. Und wer weiß? Vielleicht gehen andere mit. Auch da.