"Der neunjährige Niclas ist ein unruhiges und schwieriges Kind. Unterricht ist in seiner Anwesenheit kaum möglich. Selbst beim Malen kann er keine Grenzen einhalten. Er setzt sich auf die Erde und beschmiert große Teile des Fußbodens mit Farbe. Die Mitschülerinnen und Mitschüler lenkt er dabei so sehr ab, dass sie nicht mehr an ihren eigenen Bildern arbeiten. Häufig springt er unvermittelt auf und läuft durch die Klasse. Durch seine Anwesenheit bringt er eine andauernde Unruhe in den Unterricht. Niclas ist nicht in der Lage, den unterrichtlichen Anforderungen auch nur ansatzweise zu genügen."
Beschreibungen wie diese sind in der Schule inzwischen häufiger anzutreffen. Fast alle Lehrerinnen und Lehrer kennen sie. Schwierige, unruhige Kinder, Kinder die es nicht schaffen, an ihrem Platz zu bleiben, denen es schwer fällt, still zu sitzen und sich zu konzentrieren. Diese wie elektrisiert wirkenden Kinder haben eine zu geringe Ausdauer, rufen ständig dazwischen, können scheinbar schlecht zuhören, vergessen vieles, sind immer in Bewegung, vermeiden länger andauernde Anstrengungen oder fangen schnell Streit an, wenn etwas nicht so läuft, wie sie sich vorgestellt haben. In solchen Fällen sprechen Ärzte (und in der letzten Zeit zunehmend auch Lehrerinnen und Lehrer) von ADHS, einer "Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung".
Die Ursache des Verhaltens wird einer Krankheit zugeschrieben, die in den 1980er Jahren erstmals als Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) definiert und 1994 in der Beschreibung des Krankheitsbildes um den Begriff der Hyperaktivität (ADHS) erweitert wurde. In der Diagnostik wird die Krankheit (nach dem DSM-IV1) in zwei Bereiche unterschieden: in "Unaufmerksamkeit" und in "Hyperaktivität und Impulsivität".
Präzisiert wird die Diagnostik dadurch, dass beiden Bereichen mehrere Verhaltensbeschreibungen zuordnet sind. So finden sich unter der Überschrift "Unaufmerksamkeit" beispielsweise Darstellungen wie: "beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten" , "vermeidet häufig, hat eine Abneigung gegen oder beschäftigt sich häufig nur widerwillig mit Aufgaben, die länger dauernde geistige Anstrengungen erfordern (wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben)" oder "verliert häufig Gegenstände, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z. B. Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte, Bücher oder Werkzeug)".2
Für den Bereich "Hyperaktivität und Impulsivität" finden sich Beschreibungen wie: "zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum", "platzt häufig mit Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist" oder "steht in der Klasse oder in Situationen, in denen Sitzen bleiben erwartet wird, häufig auf".3 Von einer AHDS ist zu sprechen, wenn sechs (oder mehr) Beschreibungen aus einem oder beiden Klassifikationssystemen zutreffen und diese in Kombination mit den nachstehenden Merkmalen vorliegen:
- Einzelne Symptome der Hyperaktivität-Impulsivität oder Unaufmerksamkeit treten bereits vor dem Alter von sieben Jahren auf;
- Beeinträchtigungen durch diese Symptome zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z. B. in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu Hause);
- Hinweise auf klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen sind vorhanden;
- Die Symptome treten nicht ausschließlich im Verlauf einer so genannten tiefgreifenden Entwicklungsstörung, einer Schizophrenie oder einer anderen psychotischen Störung auf und können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (z. B. Affektive Störung, Angststörung, Dissoziative Störung oder eine Persönlichkeitsstörung).4
Hirnorganische Ursache?
Eine kritische Sicht scheint angezeigt, denn die Diagnose des Krankheitsbildes speist sich nach der oben genannten Klassifikation ausschließlich aus reinen Verhaltensbeschreibungen, wobei die verwandten Begrifflichkeiten nicht präzisiert werden. So bleibt offen, was unter Begriffen wie "häufig" oder "widerwillig" zu verstehen ist. Warum ausgerechnet sechs (oder mehr) Merkmale aus einem oder beiden Bereichen vorhanden sein müssen, um AHDS zu diagnostizieren, wird nicht begründet. Die Problematik liegt darin, dass aus einer Liste alltagstheoretischer Beurteilungsmaßstäbe letztlich auf eine hirnorganische Ursache geschlossen wird. "ADS ist kein Erziehungsfehler und keine gewollte Marotte der Kinder – ADS ist eine Störung mit neurobiologischen Besonderheiten in den Informations-Verarbeitungs-Prozessen unseres Gehirns."5 Dieser Feststellung liegt die Hypothese zugrunde, dass hyperaktive Kinder unter einem Mangel an Dopamin leiden. Dopamin ist ein Botenstoff im Gehirn, der unter anderem für die Reizverarbeitung notwendig ist und sich im "dopaminergen System" bildet. Im Blick auf betroffene Personen nimmt man an, dass ihr Frontalhirn in besonderer Weise mit Transportern durchsetzt ist. In Folge geht man davon aus, dass das freigesetzte Dopamin zu rasch wieder gebunden wird und seine Konzentration im Gehirn unter den normalen Pegel sinkt. So lässt sich der Einsatz von Ritalin®6 (Methylphenidat) schlüssig begründen. Ritalin® stimuliert die Dopamin-Freisetzung im Gehirn.
Neuere Untersuchungen stehen der Dopaminmangel-Hypothese allerdings ausgesprochen skeptisch gegenüber und kommen sogar zu gegenteiligen Ergebnissen: Sie gehen davon aus, dass eine verstärkte Dichte von Transportern Ausdruck eines stärker entwickelten dopaminergen Systems sein könnte. Diese These stützen sie auf Beobachtungen zur Entwicklung des Gehirns. In der Zeit bis zur Pubertät steigt die Dichte der Nervenfortsätze kontinuierlich an. So gibt es Kinder, die bereits als Babies wacher sowie auch empfindlicher und daher leichter zu stimulieren sind als andere. Das lässt den Schluss zu, ihr dopaminerges System werde wesentlich häufiger als das anderer Kinder aktiviert und zur verstärkten Axon-Bildung angeregt. Sie werden immer wacher, immer unruhiger und irgendwann verhaltensauffällig. Hyperaktivität beruht folglich nicht auf einem Defizit an Dopamin, sondern einem Überschuss. Dieser Überschuss werde durch Ritalin® zurückgestutzt, was als günstiger Effekt beschrieben werden kann. Problematisch wird der Einsatz allerdings dann, wenn die beschriebene Veränderung nicht vorliegt. Bei jungen gesunden Ratten scheint Ritalin® die Ausreifung des dopaminergenen Systems irreversibel zu behindern. Die chronische Verabreichung senkt die Dichte der Dopamintransporter deutlich. Dieses auch nach der Absetzung bis ins Erwachsenenalter der Tiere. Überträgt man die Ergebnisse auf Menschen, so könnte dieser Befund bedeuten, dass die jahrelange Einnahme in der Zeit der Entwicklung des Gehirns eine parkinsonartige Erkrankung im höheren Lebensalter begünstigt.7
Belege dafür, dass ein "abweichendes" Verhalten eines Kindes auf hirnorganische Ursachen zurückzuführen ist, liegen nur ausgesprochen selten vor. Dennoch wird mit dem definierten Abweichungskatalog (Syndrom) vom erwünschten Verhalten selbst dann von der Annahme einer hirnorganischen Funktionsstörung ausgegangen, wenn ein eindeutiger Nachweis nicht zu erbringen ist.8 So wird das abweichende Verhalten zum alleinigen Indikator eines bestimmten Störungs- oder Krankheitsbildes. Die Subjektivität der Eindrücke, die sich im Prozess der Diagnostik entfalten und die das Bild vom anderen bestimmen, ist nicht Gegenstand der Diskussion. In der Folge kommt es zu vorschnellen Pathologisierungen, denen die Medikation folgt. In den USA werden bereits 1,5 Prozent der Kleinkinder mit Ritalin® behandelt. In Deutschland hat sich die Verordnungshäufigkeit von 1999 auf 2001 verdoppelt. Gegenüber dem Jahr 1990 stieg die Zahl der Verordnungen um das Sechzigfache9 – dieses obwohl genetisch bedingte Krankheiten eine relativ konstante Prävalenz aufweisen. Das bedeutet, dass die Zahl der betroffenen Kinder auf Grund des Geburtenrückganges sinken, schlimmstenfalls konstant bleiben müsste. Auch gibt es keine Studie, die belegt, dass die Zahl der Kinder mit hirnfunktionellen Störungen der zentralnervösen Informationsverarbeitung in den letzten fünfzehn Jahren um das Sechzigfache gestiegen ist. Es will nicht überzeugen, dass binnen relativ kurzer Zeit ganze Bevölkerungsschichten massenhaft vom Befall ihrer celebralen Funktionen betroffen sind. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass das veränderte Verhalten von Kindern und Jugendlichen andere Ursachen haben muss. So konstatiert Hartmut Ampft, dass es nur bei jeder tausendsten Diagnose Anhaltspunkte für das Vorliegen einer hyperkinetischen Störung gemäß "WHO-ICD-10 F 90"10 gibt. Für ihn ist ADHS keine Krankheit und "erst recht keine Krankheitseinheit (Syndrom), sondern eine behavioristische Beschreibung eines sozial unerwünschten Verhaltens".11
Und genau hier scheint ein Ansatz zu liegen, um dem Verschreibungsphänomen auf die Spur zu kommen. Wird sozial unangepasstes Verhalten nichtorganischen Ursachen zugeschrieben, geraten die traditionellen Erziehungsinstanzen bzw. die Gesellschaft in den Fokus der Betrachtung. Wird es hingegen als Krankheit beschrieben, entlasten sich damit alle Beteiligten und suchen die Verantwortung außerhalb ihres eigenen Einflussbereiches. Weder die Eltern noch die Lehrerinnen und Lehrer sind dann als Erziehende in der Verantwortung. "Hält der Erwachsene den emotionalen Druck nicht aus, wird er das Kind leicht zum Kranken stempeln. Um sich selbst zu entlasten, wird er darum ringen, dieser Krankheit einen Namen zu geben: ADS."12
Ökonomisierung der Gesellschaft
Bleibt also, das Phänomen der gestörten Aufmerksamkeit vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Veränderungen und den damit verbundenen Anforderungen an den Menschen der Moderne genauer in den Blick zu nehmen. So ist es lobenswert, wenn der niedersächsische Kultusminister vor einem zu schnellen Einsatz von Medikamenten bei auffälligen Kindern warnt und als Lösung mehr Bewegung und weniger Fernsehen vorschlägt.13 Allerdings scheint diese Lösung angesichts der Komplexität des Phänomens zu kurz zu greifen. Geht man davon aus, dass Verhaltensauffälligkeiten sozial gestörte Bedingungen des Aufwachsens zur Ursache haben, muss man zunächst auf die Strukturen und das Bedingungsgefüge der postmodernen Gesellschaft schauen.
Heranwachsende müssen unter den Bedingungen geänderter gesellschaftlicher Verhältnisse einer zunehmenden ‚Risikogesellschaft‘ (Beck 1986) jenseits von tradierten Normen und Werten, die im vergänglichen Wertefluss postmoderner Beliebigkeit keine Orientierungssicherheit mehr bieten, ihre biographischen Orientierungen individuell für sich selbst bearbeiten und im Sinne einer ‚Patchworkidentität‘ flexibel dem jeweiligen gesellschaftsökonomischen Anforderungsprofil anpassen"14 – dieses in einem Klima der technisch-instrumentellen Rationalität, die in erster Linie auf flexible Menschen setzt. Unmittelbare Leistung und kurzfristige Erfolge stehen über der Entwicklung von Persönlichkeitsmerkmalen wie Mündigkeit, Urteils- und moralischer Handlungsfähigkeit. Der schnelllebige Arbeitsmarkt setzt auf Menschen, die sich seinem Tempo anpassen. Die daraus resultierende Erfahrung von Diskontinuitäten und Brüchen haben negative Auswirkungen auf die kindliche Erfahrung von Konstanz und Kontinuität. "Vielleicht sind diese (ADS-) Kinder Herolde einer ‚just-in-time’-Kultur, die das Wartenkönnen meint abschaffen zu müssen, weil es Unlust bringt und betriebswirtschaftlich unrentabel ist."15
Darüber hinaus wirken die sich verschärfenden ökonomischen Rahmenbedingungen – vermittelt durch die Eltern – auf das Kind. Diese drücken sich zum einen im zunehmenden Armutsrisiko für die kindliche Entwicklung aus.16 Nicht nur die faktische Armut wird zum Problem sondern auch die Angst davor. Diese wirken über die Eltern auf das Kind. Als Konsequenz lassen sich die zum Teil überaus hohen Bildungs- und Berufserwartungen der Eltern, die zu Überforderungen der Kinder führen, beschreiben. Die Folge sind Versagensängste bereits im Grundschulalter. Belegen lässt sich diese Vermutung u.a. durch die Diskrepanz zwischen den Schullaufbahnempfehlungen der Grundschulen (und früher der Orientierungsstufen) in Niedersachsen und dem Elternwunsch, dem die Kinder dann folgen. Schwierig wird es, wenn das Kind sich der elterlichen Karriereplanung widersetzt oder ihr nicht entsprechen kann. Verweigert ein Kind ein angepasstes und erwartetes Verhalten und reagiert entsprechend, kommt im Gegensatz zu früheren Zeiten häufig zum Zusammenspiel von Eltern und Lehrern die Medizin hinzu. Diese Konstellation wirkt sich begünstigend auf die Diagnose ADHS aus.
Verlust der Kindheit
Gleichzeitig bedeutet Kindheit heute eine massive Veränderung der Sozialisationsbedingungen gegenüber früheren Generationen. Wegen der zunehmenden Flexibilisierung- und Individualisierungsanforderungen wachsen Kinder häufiger in reduzierten familiären Lebensgemeinschaften (Restfamilien, Stief-Elternschaft) auf oder beide Elternteile sind berufstätig. So verbringen immer mehr Kinder einen großen Teil ihrer Lebenszeit außerhalb der Kernfamilie, wo professionelle Erziehungsagenten soziale Kontakte in vorstrukturierten Erziehungsarrangements initiieren (Kindergarten, Hort, [Ganztags-]Schule). "An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialisationsformen (soziale Klasse, Kleinfamilie) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewusstseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen."17 In diesen Konstellationen ziehen sich Eltern mehr und mehr aus dem Erziehungsgeschehen zurück und machen Kinder zum "fiktiven Partner". Damit rücken Kinder immer näher an die Erwachsenengeneration heran. Diese Situation bedeutet zum einen den Verlust der Kindheit. Zum anderen führt das Heraushalten aus der Erziehung seitens der Eltern zu umso höheren Ansprüchen und Erwartungen gegenüber den entsprechenden Institutionen. Für die Schule bedeutet das, dass sie über ihr bisheriges Bildungsangebot hinaus erzieherische Aufgaben zu übernehmen hat – das alles vor dem Hintergrund einer sich verschlechternden öffentlichen Haushaltslage, einer Überalterung der Kollegien, Vergrößerung der Klassen, Anhebung der Pflichtstundenzahl, Frühpensionierungen wegen erhöhter Belastungsfaktoren etc.
Hinzu kommen Unterschiede in der Präsentation des Unterrichtsstoffes. Kann man mit zunehmendem Anspruch des Bildungsganges davon ausgehen, dass im Unterricht die "Objektorientierung" stärker wird (System, in dem fertiges Wissen vermittelt wird), so gilt in den Grund- und Sonderschulen eine starke "Subjektorientierung" (Orientierung an den Bedürfnissen und Erfahrungen der Kinder).18 Hier wird deutlich, welche Voraussetzungen ein Kind in Bildungsgängen mit höheren Anforderungen mitbringen muss, um dem Unterrichtsgeschehen überhaupt folgen zu können. So zeigt sich, dass auch Mittelschichtkinder teilweise vor unglaublichen Hindernissen stehen, wenn der Bezug des Unterrichts auf persönliche Erfahrungen, Bedürfnisse und Interessen wegbricht.
Vom Individuum zum Kontext
Um nicht missverstanden zu werden: Hier soll nicht geleugnet werden, dass es Kinder mit hirnfunktionell (mit)bedingten Störungen gibt. Auf diese trifft einzig eine klare medizinische Indikation zu. Allerdings handelt es sich hier um eine sehr kleine Gruppe. Plausibler scheint, dass die zunehmende Zahl von Erziehungs- und Anpassungsproblemen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen zu sehen ist. Nun könnte man einwenden, dass nicht alle Kinder, die sich in vergleichbaren Situationen befinden, eine ADHS-Problematik entwickeln. Sicher, gegenüber monokausalen und linearen Modellen der menschlichen Entwicklung ist Skepsis angezeigt. Nicht jeder pathogene Umstand wirkt in gleicher oder ähnlicher Weise auf die Subjekte. Es lassen sich keine Kausalitäten festmachen. Daher reicht es nicht, über die Beschreibung von Risikofaktoren auf klare Krankheitsbilder zu schließen. Deutlich ist allerdings, dass das komplexe Bedingungsgefüge des Aufwachsens heutiger Kinder eher einen guten Grund für die Entwicklung abweichenden Verhaltens legt.
Damit plädiere ich für einen Paradigmenwechsel. Das Auftreten der ADHS-Problematik kann als interaktionales Problem beschrieben werden. Das Kind reagiert mit ADHS auf die Zumutungen seiner Lebensumwelt. Würde ein Kind in seiner gesunden Entwicklung nicht durch lebensweltliche Einflüsse gestört, würde es keine Störung erleiden. Folgt man dieser Argumentation, so ist ADHS nicht als im Kind, sondern als in interaktionalen Konstellationen angelegte Störung zu beschreiben. Diese Sicht nimmt den Fokus vom Kind als allein verantwortliches Subjekt für sein als störend interpretiertes Verhalten. Vielmehr kann ADHS als aktive und sicher sehr sinnvolle Reaktion auf "gestörte" Bedingungen des Aufwachsens verstanden werden. So ermöglicht das Verhalten, dass unter ADHS subsummiert wird, dem Kind, im problematischen Chaos seiner Lebenswelt zu überleben. Eine andere Möglichkeit bleibt ihm nicht, es sei denn, es würde schwerere Beeinträchtigungen und Erkrankungen erleiden. Der Blick verschiebt sich vom Individuum zum Kontext und vom Defizit zur Kompetenz.19 Traditionelle Etikettierungen, die a priori die Ursache der Problematik dem Kind als dem Gestörten zuschreiben, werden hier zu Konstruktionen der Definitionsmächte und dürfen keine Gültigkeit beanspruchen.
Den Affekt aushalten
Schaut man auf die Komplexität des Phänomens, ist die Pädagogik allein mit der Lösung des Problems überfordert. Der Hinweis auf die Überforderung soll hier allerdings nicht dazu führen, dass damit alles Handeln ausgeschlossen ist. Hier geht es zunächst darum, die Schulen, Kindergärten etc. nicht mit einem neuen Forderungskatalog zu konfrontieren. Ist die Last genommen, wird neues Handeln und die erneute Übernahme von Verantwortung möglich.
Das bedeutet, dass das abweichende Verhalten eines Kindes zunächst vor dem Hintergrund von Bedingungsfaktoren wie den oben genannten in den Blick genommen werden muss und der Sinn des Verhaltens zu ergründen ist. So gerät die Reflexion der Position, die das Kind im kommunikativen Zusammenhang einnimmt oder einnehmen muss, in den Fokus der Betrachtung. "Selbst gesetzt, dass wir es mit einer über das ‚erträgliche’ Maß hinausgehenden Verhaltensauffälligkeit zu tun haben, ist dieser eine subjektive Erlebnisqualität zuzuerkennen. Sie muss als eine in Handlung umgesetzte, agierte Selbstäußerung aufgefasst werden."20
Aus einer entsprechenden pädagogischen Perspektive verändert sich die Intervention. Hier geht es zunächst darum, mit Empathie die Bedeutung eines Affektes für das Handeln zu ergründen und nicht darum, ihn mittels eines Rasters als abweichend zu klassifizieren. Das bedeutet auch, den Affekt auszuhalten und ihn nicht aus einem Gefühl der Bedrohung einzugrenzen und das Kind zu bestrafen. Damit wird der Affekt zum Signal des Kindes, um auf misslungene Sozialisation aufmerksam zu machen und zur Chance mit allen Beteiligten an den Ursachen zu arbeiten21. So wird das Kind vor Ansprüchen geschützt, die es nicht erfüllen kann. Alle Interventionen sind auf eine Haltung angewiesen, die dem Kind Respekt und eine positive Wertschätzung entgegenbringen. Nur auf dieser Grundlage sind Wege beschreitbar, die dem Heranwachsenden den Aufbau des Gefühls der Geborgenheit, des Selbstvertrauen und der Ich-Stärke ermöglichen. Entsprechend wird davon ausgegangen, dass
- jedes Kind ein eigenständiges Wesen ist, dessen Würde zu achten ist,
- jedes Kind nur dann zur Selbstentfaltung kommen kann, wenn es in einem akzeptierenden Beziehungsklima der Akzeptanz lebt,
- jedes Kind Beziehungspersonen braucht, die sein Lernen unterstützen,
- jedes Kind Lernhilfen braucht, die seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten angepasst sind.
Viele Erwachsene sind großzügig mit negativer Kritik, sagen Kindern aber selten, dass sie gut sind und dass sie geliebt werden, weil sie denken, dass wüssten sie bereits. Nur mit reichlich positiver Verstärkung, Lob und Liebe kann ein Kind sich optimal entwickeln. Gerade Kinder, die mit Gewalttätigkeiten gegen sich und andere auf ihre Umwelt reagieren, benötigen statt Amphetaminen bedingungslose Liebe und Respekt. Ein sehr gewalttätiges Kind ist ein wütendes Kind und ein sehr verletztes Kind.
Mögliche Interventionen
Es deutet sich an, dass das vielfach neu propagierte Setzen von Grenzen allein nicht trägt. Zunächst einmal geht es um den Aufbau eines Fundaments, das Kinder als Annahme erleben. Ist eine solche Voraussetzung gegeben, können Grenzen gesetzt werden, die verdeutlichen, dass zum sozialen Miteinander auch das Einhalten von Regeln und Rücksichtnahme gehören.
Dabei stellt sich zunächst ein besonderes Problem. Auf Grund der in hohem Maße vorhandenen Ablenkbarkeit kann es sein, dass Kinder die Kommunikationsangebote nicht wahrnehmen können bzw. die Umwelt als bedrohlich empfinden. Die motorische Inkoordination wird den Kindern kaum eine befriedigende Auseinandersetzung mit der Umwelt ermöglichen. In diesem Fall kann der Unterricht spezielle Hilfsmaßnahmen anbieten, die für alle Kinder zu fruchtbaren Unterrichtserfahrungen führen. Hier sei zunächst auf Beeinflussungsverfahren psychosomatischer Vorgänge (z. B. autogenes Training, Phantasiereisen, progressive Entspannung, Biofeedback und meditative Übungen) verwiesen. Auf diesem Weg lässt sich psychomotorische Unruhe abbauen. Als Voraussetzung gilt, dass die Kinder bereit sind, sich auf die verschiedenen Stadien der Entspannungstechniken einzulassen. Dieses gelingt umso eher, wenn die eingesetzten Methoden unmittelbar an die Spielfreude Kindes anknüpfen. Solche Angebote können in die Tages- und Wochenplanarbeit in kleinen Blöcken integriert werden aber auch als Förderangebot in kleinen Kursen angeboten werden.
Darüber hinaus empfiehlt es sich, regelmäßige Trainingsmethoden zum Aufbau der Konzentration durchzuführen. Ausgehend von der Grundannahme, dass konzentrationsgestörte Kinder verlernt haben, Denkstrategien zu bilden bzw. nachzudenken, soll der Arbeitsstil des Kindes verändert werden, das Kind zum "inneren Sprechen" angeregt werden.22 Ziel ist der Aufbau einer reflexiven Gestaltung der Arbeit, bei dem das Kind lernt, seine Aufmerksamkeit besser zu steuern.
Weiterhin kommen alle Formen des geöffneten Unterrichts den Bedürfnissen hyperaktiver Kinder in besonderer Weise entgegen. Durch formale, inhaltliche, methodische und institutionelle Offenheit wird allgemeinen Kriterien der Kindzentriertheit am weitesten entsprochen. So können innerhalb geöffneter Unterrichtsstrukturen Freiräume geschaffen werden, die dem übergroßen Aktivitätsdrang des Kindes Raum geben. Disziplinprobleme nehmen dadurch ab, dass das Kind in den Bereichen und mit den Methoden lernen darf, die es sich selbst gewählt hat. Weiterhin können die Unterrichtenden sich gezielter den lebensweltlichen Problemen aller Kinder annehmen. Hier wird den Kindern die Freiheit eröffnet, jedem Kind mit sinnvoll und hilfreich erscheinenden Mitteln zu begegnen.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass unerwünschtes Verhalten durch Ermahnungen paradoxerweise verstärkt wird, bietet es sich an, erwünschtes Verhalten der so genannten ADHS-Kinder positiv zu bekräftigen. Im Hintergrund steht, dass störende Kinder im Vergleich zu anderen weniger positive Zuwendung in der Schule erhalten. So sind für sie das ständige Nörgeln und die fortwährende Kritik immerhin besser als nicht beachtet zu werden. Gerade daher ist es für diese Kinder wichtig, Aufmerksamkeit für erwünschtes Verhalten zu bekommen. Dabei ist zu bedenken, dass die Unterrichtenden diese Kinder auch für ein Verhalten loben sollten, das für sie mit besonderen Anstrengungen verbunden war, bei anderen Kindern in der Klasse jedoch als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann.
Eine weitere Möglichkeit, Kindern, die aus dem Lot geraten sind, zu begegnen, liefern die Ansätze der Psychomotorik. Heranwachsenden, denen es nicht mehr gelingt, sich durch die Beschneidung des Lebens- und Bewegungsraumes in Balance zu bringen, bedürfen schulisch inszenierter Kompensationsmöglichkeiten. Hier geht es darum, einen Raum für Bewegungserfahrungen in ausreichendem oder förderndem Maß zu eröffnen. Ziel ist es, zunächst einmal Stabilität zu erlangen, um sich dann dem Lernen zuwenden zu können. "Lernen heißt Aufgeben von Stabilität, das Verlassen des sicheren Standortes und Zuwendung zu offenen Fragen, ohne dass eine Antwort schon klar wäre."23 Die Psychomotorik bietet eine Vielzahl von Übungen an, die es Kindern ermöglichen, das riskante Wechselspiel von Stabilität und Labilität anzunehmen.
Bei allen genannten Maßnahmen ist es wichtig, die in der Klasse unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen und die Eltern des Kindes einzubeziehen. Ein Austausch ist vor allem daher unerlässlich, um dem Kind zu signalisieren, dass eingeübtes Verhalten nicht nur in einem Fach oder in der Schule, sondern im gesamten Lebensumfeld in gleicher Weise anwendbar ist und auf positive Resonanz stößt.
Fazit
Ziel allen Bemühens muss sein, die Perspektive im pädagogischen Prozess zu weiten und neue Möglichkeiten im Umgang mit "ADHS-Kindern" zu entdecken. Zwar trägt die Entschlüsselung eines hinter der Störung liegenden Problems nicht gleich zu einer Entlastung im pädagogischen Alltag bei, allerdings sind wir es den Kindern schuldig, sie nicht vorschnell in die ärztlichen Praxen zu entlassen. Die Annahme der Kinder und ein sich Einlassen auf respekt- und liebevolle Begegnungen sind die Grundlage, um Verhaltensauffälligkeiten mittelfristig zu reduzieren. "Wann immer die Begriffe ADS oder ADHS angewandt werden, soll das Denken anfangen, nicht aufhören. Eltern (und Lehrer, d. Verf.) tun gut daran, eine ADHS-Diagnose zu bezweifeln."24
Zur Vertiefung des Themas sei allen Interessierten das Buch "Immer dieser Michel" von Astrid Lindgren empfohlen. Der immer aktive Michel aus Lönneberga lebt nach dem Motto "Kaum gedacht, schon getan". Seine überschäumende Impulsivität führt dazu, dass er seine Ideen umgehend in die Tat umsetzt. Den in ihn gesetzten Erwartungen entspricht er nicht, und so führt sein "Unfug" dazu, dass die Leute aus dem Dorf ihn am liebsten nach Amerika schicken wollten (Ritalin® gab es damals noch nicht). Michel hat jedoch Menschen um sich, und das ist sein Glück, Menschen, die zu ihm halten und ihn letztlich verstehen.
Anmerkungen
- Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 1994
- Vgl. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen: DSM-IV, Göttingen/Bern 1998, S. 122
- Rossi, Piero/Winkler, Martin: Diagnostische Kriterien der ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung nach DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 1994). http://www.adhs.ch/add/dsm.htm
- Vgl. Rossi, Piero/Winkler, Martin: a.a.O.
- Aust-Claus, Elisabeth/Hammer, Petra-Marina: Das ADS-Buch. Neue Konzentrations-Hilfen für Zappelphilippe und Träumer, Ratingen 1999, S. 18
- Ritalin® ist ein eingetragenes Warenzeichen der Novartis Pharma Schweiz AG. Es ist ein zentralnervöses Stimulans und enthält den Wirkstoff Methylphenidat-HCl. Der Wirkungsmechanismus von Stimulanzien am Menschen ist noch nicht völlig aufgeklärt, doch es wird angenommen, dass Ritalin das Erregungssystem des Stammhirns und den Kortex aktiviert und dadurch stimulierend wirkt. Stimulanzien können (ggf. in Kombination mit anderen Medikamenten) die Aufmerksamkeitsspanne erhöhen, die Ablenkbarkeit reduzieren, die Fähigkeit, Aufgaben abzuschließen, verbessern, Hyperaktivität und Ruhelosigkeit reduzieren und die Impulsivität abschwächen.
- Vgl. arznei-telegramm 33 (2002), Nr. 1, 16
- Vgl. Mattner, Dieter: Aufmerksamkeits-Defizit-Syndro, (ADS) – eine ernsthafte Erkrankung oder die pathologisierung sozial unerwünschten Verhalten?, in: Doering, Waltraud/Doering, Winfried (Hg.): Das andere ADS-Buch. Blickwinkel und Perspektiven zum Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, Bremen 2005, S. 38
- Vgl. Gerspach, Manfred: Nachdenkliche Anmerkungen zum Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, in: Sonderpädagogische Förderung 49 (2004), S. 358
- WHO/ ICD 10 – Internationale Klassifikation psychischer Störungen 1995
- Ampft, Hartmut/Gerspach, Manfred/Mattner, Dieter: Kinder mit gestörter Aufmerksamkeit – ADS als Herausforderung für Pädagogik und Therapie, Stuttgart/Berlin/Köln 2002, S. 48
- Ampft u.a., a.a.O., S. 156
- Vgl. HAZ vom 08.03.2005
- Mattner, Dieter: Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) – eine ernsthafte Erkrankung oder die pathologisierung von sozial unerwünschtem Verhalten?, in: Doering, Waltraud/Doering, Winfried (Hg.), a.a.O., S. 62
- Balzer, Werner: Das Sensorische und die Gewalt. Mutmaßungen über ein Diesseits von Gut und Böse, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 3 (2001), S. 370
- Vgl. Hanesch, Walter/Krause, Peter/Bäcker, Gerhard: Armut und Ungleichheit in Deutschland, Reinbeck 2000
- Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S. 211
- Vgl. Nestle, Werner: Zum Allgemeincharakter von "Lernbehinderung", in: Eberwein, Hans (Hg.): Handbuch Lernen und Lern-Behinderungen, Weinheim/Basel 1996, S. 279-292
- Vgl. Voß, Reinhard: Das "hyperaktive" Kind: Sinn-volles Handeln verstehen, in: Behinderte 16 (5/1993)
- Gerspach, Manfred, a.a.O., S. 374f.
- Selbstverständlich ist, dass bei schweren aggressiven oder depressiven Störungen Therapie heranzuziehen ist.
- Vgl. Krowatschek, Dieter: Das Marburger Konzentrationstraining, Dortmund 2001
- Vgl. Lensing-Conrady, Rudolf: Das ADL-Problem – Ein Plädoyer, Gleichgewichtswahrnehmungen als Motor für Entwicklung und Lernen zu erkennen, in: Doering, Waltraud/Doering, Winfried (Hg.), a.a.O., S. 242
- Hüther, Gerald/Bonnet, Helmut: Neues vom Zappelphilipp, Düsseldorf/Zürich 2002, S. 137