Die Schulwirklichkeit ist heute ohne die zielgerichtete und didaktisch fundierte Computernutzung nicht mehr denkbar. Spätestens der Hamburger "Rahmenplan Medienerziehung" macht deutlich, dass es auch in der Grundschule nicht mehr ohne Computer geht. Am Ende der Klasse 4 sollen Schülerinnen und Schüler zumindest mit Schul- und Lernsoftware umgehen können.
Wie aber soll das im Schulalltag gehen? Lehrerinnen und Lehrer nennen vielfältige Gründe, die sie daran hindern, den Computer im Unterricht einzusetzen: Überlagerung durch aktuelle Ereignisse, eigene Unsicherheiten im Umgang mit dem Computer, kein Überblick über kindgerechte Software und überhaupt habe die Schule keinen Computerraum. Es gibt jedoch verschiedene bewährte Lösungen, von denen eine im Folgenden etwas ausführlicher dargestellt wird.
Medienorientierter Unterricht
Alternativ oder ergänzend zu einem Computerraum (Medienraum) befinden sich in jedem Klassenzimmer ein oder mehrere Computer. Die Verantwortung dafür wird an ein Mädchen – die "Computerchefin" – und einen Junge – den "Computerchef" übertragen.
In vielen Familien haben bereits sehr junge Kinder Zugang zu Computern. Häufig spielen sie daran, und manche verfügen schon über Erfahrungen mit Schreib- und Malprogrammen. Viele Schülerinnen und Schüler haben dadurch bei Schuleintritt schon Kenntnisse über die Funktionen der Eingabegeräte, können mit der Maus umgehen und wissen, wie man den Rechner startet, Programme aufruft, das Gerät wieder herunterfährt und abschaltet. Im "Chef-Modell" werden diese Kenntnisse und Kompetenzen methodisch und organisatorisch für den Unterricht genutzt. Die "Computerchefs und -chefinnen" können den anderen Kindern die für sie bereitgehaltene Software erklären und noch unerfahrenen Anwenderinnen und Anwendern bei auftretenden Schwierigkeiten helfen. Um Ungerechtigkeiten und Streitigkeiten zu vermeiden, können sie in einer Klassenliste ankreuzen, wer schon am Computer gearbeitet hat.
Das beschriebene Verfahren hat sich insbesondere in geöffneten Unterrichtsformen bewährt, in denen beispielsweise Aufgaben im Werkstattbetrieb bearbeitet werden.
Computer im Unterricht
Da viele Kinder bei Schuleintritt bereits über Computerkenntnisse verfügen, ist es meist kein Problem, Computer im ersten Schuljahr einzusetzen. Es lassen sich unterschiedliche Ziele verwirklichen, die von Angeboten zur Unterstützung des Schriftspracherwerbs bis hin zur Vertonung von Bildern und Geschichten geht.
Den Schülerinnen und Schülern, die zu Hause keinen Zugang zu Computern haben, sollte zumindest die Schule ermöglichen, die Geräte und kindgerechte Software nutzen zu können. Die oft genannte "digitale Spaltung", die sowohl zwischen den Geschlechtern als auch zwischen den sozialen Schichten beklagt wird, sollte in der Schule und gerade in der Grundschule vermieden werden. Im Grundschulalter kann eine spielerische Heranführung im Rahmen von Projekte erfolgen. So werden Grundfertigkeiten auch ohne "Computerunterricht" und "-führerschein" erworben und Medienkompetenz angebahnt.
Dadurch wird auch vermieden, dass in der weiterführenden Schule einige Kinder bereits ihre Informationen für Referate aus dem Internet holen, während andere noch nicht einmal Erfahrungen mit elektronischen Nachschlagewerken (CD-ROM) haben.
Interkulturelles Lernen
Für einen Unterricht, in dem Mädchen und Jungen aus verschiedenen Nationen gemeinsam lernen, ist es wichtig, dass alle Kinder einer Klasse Elemente aus ihrer Kultur finden können. So erfüllt beispielsweise die Einbindung der türkischen Sprache gerade in den Anfangsunterricht die häufig gestellte Forderung nach Berücksichtigung der Muttersprache bei der Alphabetisierung. Es gibt Computerprogramme, die dies berücksichtigen.1 Deutschsprachige Schülerinnen und Schüler zeigen sich zudem häufig sehr interessiert an den sprachlichen Ähnlichkeiten und Unterschieden, die sich bei der Bearbeitung des anderssprachigen Programmteils zeigen. Sie hören Laute intensiv ab und überlegen noch genauer, welcher Buchstabe dazu passen könnte. Gleichzeitig kommt eine erste Zusammenarbeit und Kommunikation in Gang.
Neben den sozialen und kulturellen Hintergründen sind auch geschlechtsspezifische Unterschiede zu berücksichtigen. Ein Computer im Klassenraum, der zu jeder Zeit jeder Schülerin und jedem Schüler zur Verfügung steht, kann dazu beitragen, die Chancenungleichheit in diesem Bereich zu vermindern. Dazu gehört jedoch auch ein genderorientierter Unterricht.
Genderorientierter Unterricht
Die in Grundschulen schon etablierte Form des geöffneten Unterrichts eignet sich sowohl für die Berücksichtigung der Geschlechterinteressen als auch für eine selbstverständliche Nutzung der Neuen Medien besonders gut. In dieser Unterrichtsform kann leichter auf die geschlechtsspezifischen und individuellen Lernerfahrungen und Lernfortschritte Rücksicht genommen und Computer als selbstverständliches Medium im Klassenraum genutzt werden. Stärken und Vorwissen der Mädchen und Jungen sind einfacher einzubinden und zu nutzen, um die Kompetenzentwicklung aller Beteiligten zu fördern. Gegenseitige Rücksichtnahme und Unterstützung fördern ein Lernklima, das vor allem sachorientiert und freundlich ist.
Wie sich medien- und genderorientierte geöffnete Unterrichtsformen auswirken, zeigen die Untersuchungen, die im Rahmen des Hamburger Modellversuchs "Schwimmen lernen im Netz"2 durchgeführt wurden:
Gender und Neue Medien im Grundschulunterricht
Unsere Untersuchung in ausgewählten Hamburger Grundschulklassen hat gezeigt, dass im Jahre 2001 bereits 87 Prozent der Mädchen und 98 Prozent der Jungen Computererfahrungen hatten.
Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen in der Herangehensweise an Computer sind in vier Kategorien zu beobachten:
1. In den Vorerfahrungen hinsichtlich der Computertechnologien: Mädchen und Jungen spielen überwiegend mit dem Computer, sie spielen aber unterschiedlich lang und unterschiedliche Spiele.
2. Im Zugang zu Computern: Mädchen haben überwiegend Zugang über männliche Besitzpersonen (Bruder, Vater, Onkel), Jungen haben vielfach schon eigene Computer, bzw. eigene Konsolenspiele.
3. In der Einstellung zu Computer und Computertechnologie: Computer- bzw. Technikkompetenz ist Jungen wichtiger als Mädchen. Jungen zeigen ihre spielerisch erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten offensiver als Mädchen.
4. In den Kompetenzen bei der Nutzung Neuer Medien: Jungen übertragen ihre spielerisch erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten eher auf andere Zusammenhänge und Programme als Mädchen. Deshalb gelten sie – bisweilen ungerechtfertigt – als "Computerspezialisten".
Technik- und Computerkompetenz
Schon in der Grundschule haben Jungen und Mädchen ein männlich geprägtes Technik- und Computerbild. Dabei zeigen die Mädchen in unserer Befragung mehr technisches Selbstbewusstsein als die Jungen dieses den Mädchen zuschreiben. Es muss deshalb das Ziel sein, dass Jungen die Technik- und Computerkompetenz der Mädchen genauer wahrnehmen und akzeptieren. Dies kann durch die gleichberechtigte Computernutzung von Mädchen und Jungen, durch die Förderung von Computerexpertinnen im System der "Computerchefinnen und -chefs" sowie durch die verbale Reflexion der Technik- und Computerkompetenz von Mädchen und Jungen im Unterricht geschehen.
In der Schule kann besonders über die Unterrichtsgestaltung Einfluss auf die Entwicklung der Technik- und Computerkompetenz von Mädchen und Jungen genommen werden. Dabei ist es wichtig, nicht auf geschlechtsspezifische Rollenklischees zu reagieren. In den Hospitationen im Rahmen unseres Forschungsprojekts konnten wir durchaus Gemeinsamkeiten von Mädchen und Jungen am Computer beobachten, die nicht dem Klischee der unsicheren, zurückhaltenden Mädchen und der draufgängerischen, hackenden Jungen am Computer entsprechen: Mädchen und Jungen haben in unseren Beobachtungen bei der Computerarbeit ein gleichermaßen hohes Maß an Produktinteresse, an zielorientiertem Vorgehen sowie an Expertentum und Erfahrung gezeigt.
Deutliche Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen waren in folgenden Bereichen zu erkennen:
• Mehr Mädchen als Jungen erkennen ihre Fehler am Computer und akzeptieren diese,
• mehr Jungen als Mädchen sind jedoch bereit zur Korrektur,
• mehr Mädchen als Jungen gehen planvoll am Bildschirm vor,
• mehr Mädchen als Jungen zeigen kreative Potenziale am Computer,
• mehr Jungen als Mädchen zeigen eine (scheinbare) Sicherheit im Umgang mit dem Computer, insbesondere beim "Adventuregame" und
• mehr Mädchen als Jungen zeigen Dominanzverhalten am Computer.
Computernutzung
Unsere Frage nach dem Lieblingsprogramm von Mädchen und Jungen machte nicht nur bekannte geschlechtsspezifische Differenzen, sondern auch neue Aspekte deutlich.
Jungen spielen am liebsten. Lesen und Schreiben mögen sie, wenn sie dies mit Chatten im Internet oder E-Mailing verbinden können. Malen, bzw. kreatives Gestalten verbinden sie nicht mit Arbeitsmöglichkeiten am Computer. Jungen sollten deshalb insbesondere im kommunikativen Bereich Schreiben/ Lesen gefördert werden. Nach unseren Ergebnissen und denen anderer Studien zum Schriftspracherwerb3 zeigen Jungen daran bisher ein deutliches Desinteresse. Aufgabe der Schule ist daher, Schreibanlässe zu entwickeln, die Jungen motivieren – auch mit dem Computer – mehr zu schreiben. Beobachtungen in den Modellversuchsklassen geben Hinweise darauf, dass der Computer besonders Jungen mit feinmotorischen Schwierigkeiten oder mit Lernbeeinträchtigungen zum Schreiben motiviert.
Mädchen spielen weniger am Computer, ihre Lieblingsprogramme sind eindeutig Mathematikprogramme – dies ist ein ganz neuer, bisher unbekannter Aspekt. Sie schreiben und lesen auch gern mit dem Computer. Auch Mädchen nutzten zu Beginn des Modellversuchs den Computer wenig für kreative Anwendungen, sondern erledigen eher schulbezogene Aufgaben. Hier muss Schule gegensteuern und Mädchen mehr Raum zum Spielen und für den kreativen Umgang mit Computern einräumen.
Der spielerische und kreative Aspekt bei beiden Geschlechtern wurde insbesondere durch das Modul "Adventuregame"4 unterstützt. Ein Adventuregame spricht Jungen in ihren Spielvorerfahrungen an und motiviert sie gleichzeitig zum Schreiben. Mädchen haben durch das Spielen in der Schule die Möglichkeit, neben Schreibanlässen auch die kreativen und aktiven Aspekte eines Computerspiels zu erfahren. Chancen und Freiräume, spielerisch, kreativ und zielorientiert am Computer im Rahmen geöffneter Unterrichtsformen zu arbeiten, finden Mädchen und Jungen dann, wenn Medienecken im Klassenraum ständig zur Verfügung stehen.
Liegen die beobachteten Unterschiede vielleicht auch daran, dass Jungen und Mädchen im Unterricht unterschiedlich gefordert werden? Diese Fragestellung führt zu einer genaueren Reflexion des eigenen Unterrichts und des "Gender doing"5 nach dem Prinzip der "Reflexiven Koedukation"6. Im Rahmen des Hamburger BLK-Modellversuchs "Schwimmen lernen im Netz" wurden auf der Grundlage der Erfahrungen aus vier Unterrichtsmodulen genderorientierte Prinzipien des Lernens mit neuen Medien entwickelt. Sie wurden in mehreren Klassen einer Grundschule erprobt und evaluiert, in der vom ersten Schultag an die Neuen Medien genutzt werden.
Prinzipien genderorientierten multimedialen Unterrichts
1. Schülerinnen und Schüler in ihren jeweils geschlechtsspezifischen Technik- und Computererfahrungen wahrnehmen, sie darin unterstützen und ihnen gleichzeitig neue – auch gegengeschlechtliche – Erfahrungen ermöglichen: So sollen z. B. Jungen Erfahrungen im kreativen Umgang mit Computern sammeln, indem sie am PC schreiben oder malen. Mädchen dagegen sollten in der Schule Möglichkeiten erhalten, Mathematikprogramme durchzuarbeiten oder Computerspiele zu spielen.
2. Die technischen und die Computerinteressen sowie die Leistungen beider Geschlechter in gleichem Maße achten, abwertende Verhaltensweisen vermeiden und ihnen entgegensteuern: Dazu ist es nötig, die eigene Einstellung als Lehrkraft in Bezug auf die vermuteten Mehrkompetenzen bei Jungen zu überprüfen.
3. Die Identitätsstärkung von Mädchen und Jungen fördern: Dazu ist es notwendig, für Schülerinnen und Schüler Erfahrungsräume zu schaffen, in denen sie ihre je spezifischen Handlungskonzepte erproben können.
4. Genderregeln im Unterricht beachten: Es sollte zur Selbstverständlichkeit werden, dass im Gesprächskreis Jungen und Mädchen nebeneinander sitzen, keine Mädchen- und Jungentische zugelassen werden. Dies bedeutet auch: Es arbeiten prinzipiell ein Mädchen und ein Junge gemeinsam am PC, wobei bei bestimmten Themen7 eine begründet gewählte geschlechtsspezifisch homogene Gruppenzusammensetzung durchaus akzeptiert wird.
5. Mädchen als Technikexpertinnen positionieren: Neue Techniken wie z. B. das Scannen zuerst einer reinen Mädchengruppe erklären, die das Wissen dann der übrigen Klasse weitervermittelt. Dadurch erhalten die Mädchen einen Expertinnenstatus, der dem Bild des technikfernen und -inkompetenten Mädchens entgegenwirken kann.
6. Die Technikkompetenz der Mädchen stärken: Mädchen erleben sich selbst als fähig, mit dem Computer umzugehen und zeigen dies der übrige Klasse und den Lehrkräften.
7. Das System von Chefin und Chef einführen: Mädchen und Jungen übernehmen gemeinsam und gleichberechtigt die Verantwortung für wichtige Bereiche in der Klasse, so auch für den bzw. die Computer. Sie werden zunächst von der Lehrkraft eingewiesen und bilden später ihrerseits neue Chefinnen und Chefs aus.
8. Unterrichtsorganisation: Nur die regelmäßige und kontinuierliche Nutzung im Unterricht "entzaubert" den Rechner.
9. Medienangebote sinnvoll einsetzen und nutzen: Mädchen und Jungen müssen lernen, den Computer situations- und problemorientiert einzusetzen. Nicht immer ist es richtig, im Internet oder auf elektronischen Lexika nach Informationen zu suchen, wenn im Klassenraum auch (noch) Bücher vorhanden sind. Hieran lernen Jungen, sich nicht nur auf Elektronik zu verlassen, Mädchen dagegen, die Elektronik adäquat einzusetzen.
10. Mädchen und Jungen durch geschlechterbewusste Sprache im Unterricht ansprechen und auch benennen. Lehrkräfte sollten den neutralisierenden Begriff "Kinder" vermeiden und vielmehr bei Aufgabenstellungen und in Berichten von "Mädchen", "Jungen", "Schülerinnen" und "Schülern" sprechen und sie damit auch in ihren je spezifischen Unterschieden meinen und berücksichtigen. Dies ist keine "Höflichkeitsfloskel", sondern eine Hörbar-, Sichtbar- und Bewusstmachung von Geschlecht.