Das Leiden der Geschöpfe Gottes – Antwortversuche und offene Fragen

von Dorothea Sattler

 

Gespräche über erfahrene Leiden stiften Gemeinschaft. Wenn sie in die Tiefe reichen, sind sie ein Erweis von Vertrauen.

Ich bin gewiss: Wir werden auch an diesem Tag an kein Ende kommen mit den Fragen. Es ist dies möglicherweise eine tröstliche Kunde, die ich Ihnen weitersagen kann: Es gibt in der gegenwärtigen systematischen Theologie eine hohe Bereitschaft, die offenkundige Sinnlosigkeit vieler Gestalten geschöpflichen Leidens wortlos, ohne Deutung auszuhalten in Gemeinschaft mit den nach einer Antwort ringenden Menschen.

Ein Vorzeichen möchte ich setzen im angesprochenen Sinn – ein gedichtetes Vorzeichen – ein Gedicht von Erich Fried1. Er schreibt: 

Das Leben
hat mich gelehrt
dass ich es
nicht verstehe
und nichts von ihm
lernen kann
und lernen will
am allerwenigsten
mich selbst
und den Tod
zu verstehen

  

I. Zeugnisse

Jede Gestalt des Leidens ist eine Begegnung mit dem Tod – mit dem Tod mitten im Leben. Der Tod droht in vielfältiger Gestalt – in der Einsamkeit verlassener Menschen, in der Bitterkeit angesichts erlittenen Unrechts, im Durst und Hunger der Kinder in Dürreregionen, im Verlust von Hab und Gut – von liebgewonnenen Tieren – nach Flutkatastrophen etwa. Leben schwimmt dahin. Ungezählt sind die Nöte, die die menschliche Seele betrübt sein lassen.

Immer wieder haben Menschen ihre Fragen bitter klagend vor Gott getragen. In den Zeugnissen dieser Suche nach Antwort spiegelt sich die Möglichkeit einer Wahl: Menschen können angesichts erfahrener Leiden an Gott festhalten oder sich von ihm losmachen. Seit der Neuzeit und dem Beginn der modernen Religionskritik mit ihrem grundlegenden Vorwurf der Entmachtung und Vertröstung des Menschen infolge seiner Gottesbindung steht Gott auf dem Prüfstand. Er muss sich vor dem Menschen rechtfertigen. Eine Theodizee wird eingefordert – Argumente, die erweisen, dass Gott gerecht ist, obgleich der Augenschein belegt, wie ungleich, ungerecht wirkend das Geschick der Geschöpfe ist.

 

1. Fest-halten an Gott oder Sich-los-machen von Gott

"Gott stirbt daran, dass er nicht hilft" – dieser vielfach wiederholte Gedanke von Georg Büchner belegt die menschliche Möglichkeit, sich von Gott loszumachen – angesichts der unerfüllten Bitte, Gott möge doch die Leiden beenden, das Schreckliche vermeiden, das Unheil abwenden. Leidenserfahrungen sind Motivation zum Verlust des Gottesglaubens.

Es gibt andere Stimmen – in biblischer und nachbiblischer Zeit: Stimmen von Menschen, die im Angesicht unfasslicher Leiden festhalten an Gott. Eine solche Tat hat Zvi Kolitz2 von dem gottesfürchtigen Juden Jossel Rakover erzählt. In der Zeit des Warschauer Ghettos verliert Jossel Rakover Frau und Kinder und muss um das eigene Leben bangen. In Gestalt einer Ich-Erzählung gibt Zvi Kolitz das Ringen um die Bewahrung des Gottesglaubens in allem Leiden wieder. Hiob lebte nicht einmal allein. Jossel Rakover erzählt von seinen Leiden so: "Als ich mich mit meiner Frau und meinen Kindern (sechs waren es) in den Wäldern verbarg, hat die Nacht, und nur die Nacht, uns in ihrem Innern geborgen. Der Tag hat uns den Häschern auf ihrer Suche nach unseren Seelen ausgeliefert. Wie will ich jemals den Tag des deutschen Feuerhagels über Tausenden von Flüchtlingen auf der Straße von Grodno nach Warschau vergessen?! Mit Sonnenaufgang waren die Flugzeuge über uns aufgestiegen. Dann haben sie uns gemordet und gemordet: den ganzen Tag.

Bei diesem Gemetzel vom Himmel herab ist meine Frau umgekommen (unser siebenmonatiges Jüngstes auf ihrem Arm). Zwei weitere meiner Kinder verschwanden spurlos am gleichen Tag; David und Jehuda haben sie geheißen, der eine war vier, der andere sechs Jahre alt. (...) Meine anderen drei Kinder sind im Verlauf eines Jahres im Warschauer Ghetto umgekommen. Rachele, mein Töchterchen von zehn, hatte gehört, in den städtischen Abfallkübeln an der Rückseite der Ghettomauern könnte man Brotstückchen finden. Das Ghetto hungerte; wie schmutzige Lumpen lagen die Verhungerten in den Gassen. Jeden Tod waren die Menschen zu sterben bereit, nur nicht den Hungertod. (...) Rachele hatte mir nicht von ihrem Plan erzählt, sich aus dem Ghetto herauszustehlen – ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wurde. Jakob, unser fünftes Kind, ein Junge von dreizehn, starb an seinem Bar-Mizwah-Tag an Tuberkulose. Sein Tod war eine Erlösung für ihn. Und das letzte Kind, Chave, mein fünfzehnjähriges Töchterlein, ist in einer ‘Kinderaktion‘ umgekommen, die bei Beginn des ersten Tages von Rosch Ha-Schana anfing und mit Sonnenuntergang endete. An jenem Neujahrstag haben Hunderte jüdischer Familien bis zum Sonnenuntergang ihre Kinder verloren. (...) Nun kann ich nicht sagen – nach all dem, was ich erlebt und überlebt habe –, dass meine Haltung zu Gott sich nicht geändert hat. Mit absoluter Sicherheit kann ich aber sagen, dass mein Glaube an Ihn sich um kein Haar verändert hat. Früher, als es mir gut ging, war meine Beziehung zu Ihm wie zu einem, der mich ohne Unterlass beschenkte – und dem ich immer etwas schuldig blieb. Jetzt ist meine Beziehung zu Ihm wie zu einem, der auch mir etwas schuldet: viel schuldet. (...) Der Tod kann nicht mehr warten, und ich muss mit dem Schreiben zu Ende kommen. Aus den Stockwerken über mir wird das Feuer von Minute zu Minute schwächer. Jetzt fallen die letzten Verteidiger unserer Festung, und mit ihnen fällt und stirbt das große, das schöne, das gottesfürchtige jüdische Warschau. Jetzt geht die Sonne unter, und ich danke Dir, Gott, dass ich sie nicht mehr aufgehen sehe. (...) Und das sind auch meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alles getan, dass ich an Dir irre werde, dass ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber, wie ich gelebt hab’, in felsenfestem Glauben an Dich."3

 

2. Die Fragen des Lebens

In der Systematischen Theologie hat sich im 20. Jahrhundert eine Wende ins Existentielle vollzogen. Wir gehen aus von den Fragen des Lebens und suchen Antwort in Gottes biblisch bezeugter Selbstkunde. Die Theologie Karl Rahners vor allem vollzieht diese anthropologische Wendung. Rahner entwirft seine Rede von Gott beginnend mit den existentiellen Fragen der Menschen. Er formuliert den Gedanken, Gott habe den Menschen als ein Wesen erschaffen, das sein eigenes Dasein angesichts seiner Endlichkeit als fraglich erfährt, als in sich nicht lösbar, als Rätsel, das tödlich ist und als solches eine Suchbewegung auslöst. Der Mensch ist "eine Rechnung, die nicht aufgeht: verstoßen in die Zeit, die alles zerrinnen lässt, ins Dasein gezwungen, ohne gefragt zu sein, beladen mit Mühsal und Enttäuschung, sich selbst zur (...) Strafe durch die eigene Schuld, beginnend den Tod zu leiden im Augenblick, da man geboren wird, ungesichert und gejagt"4. Zugleich lebt der Mensch als ein Liebender, offen auf das Du hin, bereit, das Leben anderer Menschen zu bewahren, auch wenn dies die eigenen Lebensmöglichkeiten mindert. Der endliche Mensch zeigt Vertrauen in den Sinn der Liebe, er zeigt Vertrauen in einen verlässlichen Grund des Lebens. Gott ist es, der den Menschen als ein solches Wesen erschafft, das fragend auf der Suche bleibt nach dem Sinn von allem, was ist.

Sensibel für die offenen Fragen des geschöpflichen Lebens – wachsam angesichts des Unrechts – trauernd und klagend im Angesicht des Todes – wer so empfindet und handelt ist auf der Suche nach Gott. Lässt er sich finden? Gibt es ihn überhaupt? Warum aber verteilt er Leben und Sterben so augenscheinlich ungerecht in seiner Schöpfung? Oder ist er in seinen Möglichkeiten doch begrenzt – begrenzt durch die Notwendigkeit der Mithilfe der Geschöpfe bei seinem Wirken? Kann Gott nur an uns appellieren, für Gerechtigkeit unter uns Geschöpfen zu sorgen, mehr nicht? Ist er letztlich ohnmächtig angesichts der zerstörerischen Gewaltbereitschaft der Menschen? Dürfen wir überhaupt als Menschen Gott anklagen? Müssten wir uns nicht statt dessen beständig selbst anfragen? Anfragen über Anfragen ... Ich versuche sie in ihrer traditionellen Gestalt kurz zu bündeln.

 

II. Anfragen

Die Theodizee in ihrer klassischen Ausprägung bemüht sich um eine "Rechtfertigung" der Annahme der Existenz eines sowohl "all-gütigen" als auch "all-mächtigen" Gottes. Vielfach wiederholt wurden und werden die Fragen des Epikur: (1) Entweder will Gott das Übel vermeiden, kann es aber nicht – dann ist er nicht allmächtig; (2) oder er kann es, will es aber nicht, dann ist er nicht allgütig; (3) oder er will es nicht und kann es nicht, dann ist er weder allmächtig, noch allgütig; (4) oder er will es und kann es – woher aber kommt dann das Übel?

  • Kein "allmächtiger" Gott?
  • Oder kein "allgütiger" Gott?
  • Ist denn ein Gott?

Die Begriffe "Allmacht" und "Allgüte" – "Güte" Gottes, mit denen wir etwa in Gebeten möglicherweise leichtfertig umgehen, bedürfen einer näheren, kritischen Betrachtung. Jugendliche – ältere Kinder – durchleben tiefe Krisen, wenn Allmachtsphantasien sich als Täuschung erweisen. Die Rede von Gottes Güte darf nicht ausschließen, dass Gott zornig wird angesichts der Leiden, die die Geschöpfe einander zufügen. Und die Grundfrage, ob denn da ein Gott ist, hat in Erinnerung an das Leiden seines Volkes Israel im 20. Jahrhundert eine neue Dringlichkeit erreicht. Ist "nach Auschwitz" – ein Ort, der für all diese Leidensstätten steht – noch möglich, von Gottes Weggeleit und Nähe zu sprechen? Oder erfüllt er zuweilen seine Verheißungen nicht?

 

III. Antwortversuche

Die Antwortversuche in der Systematischen Theologie auf all diese Fragen sind vielfältig. Ich kann hier nur manche Linien andeuten. Nochmals möchte ich sagen, dass in der gegenwärtigen Theologie die Bereitschaft groß ist, die eigenen Grenzen bezüglich der Möglichkeit, Antworten auf die Frage zu geben, wie Gott angesichts des Leidens der Geschöpfe "gerechtfertigt" werden könnte, zu bekennen. Die eigene Ratlosigkeit wird eingestanden, Klage, sogar Anklage Gottes erscheint berechtigt. Vorrangig ist die Bekundung der Solidarität mit den Leidenden und der Kampf gegen jede Form des Unheils, die von Menschen verursacht wird. Insbesondere in Situationen, in denen Menschen unmittelbar von einem Leiden betroffen sind, erscheint es als unangemessen, eine (schnelle) Deutung des Geschehens zu versuchen. Die in vielen früheren Predigten praktizierte "Vertröstung" auf den Himmel wird heute vermieden: "Gottes Reich" soll hier und heute bereits beginnen, es besteht nicht nur Hoffnung allein für die Zeit nach dem Tod.

 

1. Differenzierung zwischen dem "malum morale" und dem "malum physicum"

Wichtig erscheint es vielen Theologinnen und Theologen, Gott nicht für das verantwortlich zu erklären, was Menschen den Mitgeschöpfen an Leiden zufügen. Differenzierungen sind erforderlich.

Mit dem Begriff des "Bösen" (malum) lassen sich (im allgemeinen) alle Formen der Zerstörung oder Beeinträchtigung der Lebensgrundlagen bezeichnen. Zu den Voraussetzungen für ein den Geschöpfen entsprechendes Dasein zählen: der Erhalt des Lebens (Schutz vor Tod, Hunger, Krankheit, Meineid, Missachtung ...) sowie die Möglichkeit der Gestaltung des Lebens (Schutz der Freiheit in der Wahl des Lebensortes [Land], der Lebensgemeinschaft [Partner/in], der Form eigener Fruchtbarkeit [Nachkommenschaft, Tätigkeiten ...). Das Zehngebot (Dekalog) erklärt die Achtung der Daseinsrechte der Mitmenschen als (unbedingte) Weisung des Gottes Jahwe, der auf diese Weise als Schöpfer Ehre erfährt ("Einheit" von Gottes- und Nächstenliebe).

In der philosophisch-theologischen Tradition wird eine Unterscheidung getroffen zwischen Formen des Bösen, die auf menschliche Freiheitsentscheide zurückzuführen sind (malum morale), und anderen Gestalten des Übels (malum physicum), die unerwartet auftreten, unerklärlich sind und Unschuldige im Übermaß treffen (Erdbeben, Lawinen, Überschwemmungen, Epidemien, Kindstod ...). Eine genaue Grenzziehung zwischen diesen Formen des Übels ist nicht (immer) möglich. Wir wissen heute mehr von den Einflüssen menschlicher Handlungen auf Geschehnisse in der Natur – im Kosmos.

Als (personale – freiheitlich begangene, im geschöpflichen Beziehungsgefüge wirksame) "Sünde" bezeichnet die systematisch-theologische Reflexion (auf der Basis der biblischen Überlieferung) einen von Menschen begangenen Gemeinschaftsbruch, durch den die Daseinsmöglichkeiten anderer Menschen beeinträchtigt werden. Dabei war in den älteren biblischen Schriften ohne Bedeutung, ob eine Tat willentlich oder unabsichtlich geschah (entscheidend war die eintretende leidvolle Folge – etwa wenn die Kuh des Nachbarn verletzt wurde und dessen Familie nicht mehr ernähren konnte). Der Gedanke, dass sich die Sünde als Sünde in der auch erfahrbaren Schädigung des Lebens erweist, bleibt auch bei der "Gesinnungsethik" Jesu (Bergpredigt Mt 5-7) im Grundsatz erhalten: Nicht erst die Tat des Tötens schädigt das Leben des Mitmenschen, sondern bereits jede (im Herzen begangene) Anfeindung.

Mit ihrer Rede von der "Ur"-Sünde (peccatum originale originans) geht die theologische Tradition der Frage nach, was Menschen dazu motiviert, die Sünde des Gemeinschaftsbruches (Unglaube, Misstrauen Gott gegenüber und Feindschaft unter den Menschen) zu begehen. Was ist der Grund (principium) der Sünde? Warum sündigen Menschen? Von der Gestalt der personalen Sünde und der Frage nach ihrem Grund unterscheidet die theologische Tradition die Frage nach dem "vor-personalen" Bösen, das Menschen vorgängig zu ihrer eigenen Entscheidung prägt, beeinflusst, in den Entfaltungsmöglichkeiten beschränkt. Die (missverständliche) Rede von der "Erb"-Sünde (peccatum originale originatum) bezeichnet Formen des Bösen, die "einst" durch personale Sündentaten verursacht wurden, die dann aber weiterwirkten und "strukturelle" Beeinträchtigungen erzeugten. Die gegenwärtige Theologie beachtet bei der näheren Bestimmung des "vor-personalen" Bösen die Kontexte, in denen Menschen solches erfahren: Die lateinamerikanische und afrikanische Befreiungstheologie spricht von der "strukturellen Sünde", die Armut, Hunger und Unfreiheit hinterlässt; die westeuropäische und nordamerikanische bedenkt Gestalten des Unheils in "verstrickten" Beziehungen, durch die Menschen Selbstabwertung, Lethargie und Einsamkeit erleiden; die theologische Frauenforschung erinnert an patriarchale Strukturen, in denen Rollenzuweisungen vorgenommen werden, so dass über Aktivität und Passivität nicht von allen in gleicher Weise entschieden werden kann. All diese Zugänge zum Verständnis der "Erb"-Sünde machen auf Phänomene des Bösen aufmerksam, die durch die Umkehr einzelner Menschen nicht verändert werden können, die aber ihr Lebensempfinden (von Geburt an) mitbestimmen und sich in den freiheitlich-personalen Taten der einzelnen Menschen auswirken.

 

a. Freiheit zum Bösen – als "Preis der Liebe"
Freiheitlich handelnde Menschen – miteinander verbunden – verwoben über Generationen im Guten wie im Bösen – verursachen Leiden, für die zunächst nicht Gott anzuklagen ist, sondern die Menschen selbst. Es bleibt jedoch eine Frage: die Frage, warum Gott überhaupt zur Freiheit befähigte Wesen erschaffen hat. Eine Antwort auf diese Frage versucht die Rede vom "Preis der Liebe" von Gisbert Greshake. Gott hat mit der Gewähr

menschlicher Freiheit einen Preis bezahlt: die Gefahr, dass Menschen einander Leiden zufügen. Gott möchte zwar zur Liebe locken, diese aber nicht erzwingen. Wahre Liebe ist nur in Verbindung mit Freiheit zu erfahren. Freie Wesen haben immer auch die Möglichkeit, sich der Liebe zu versagen. Gott steht vor der Alternative, "unfreie Marionetten" zu erschaffen oder solche Wesen, deren Zuwendung "ungeschuldet" ist, immer Geschenk, Gabe, Zusage. Nur als freie Wesen sind die Menschen "Bild Gottes" – sein ihm entsprechendes Gegenüber. Erst die Freiheit zum Guten wie Bösen lässt es sinnvoll erscheinen, von Liebe zu sprechen.

 

b. Gottes Freigabe auch der nicht-menschlichen Schöpfung zur Eigenentwicklung
Eine solche Argumentation entlastet Gott zunächst nur angesichts des freiheitlich verursachten Bösen, des malum morale. Gisbert Greshake hat sich auch bemüht, mit Bezug auf die Rede von der "Freiheit" als "Preis der Liebe" eine Rechtfertigung Gottes im Blick auf die nicht unmittelbar auf menschliche Freiheitstaten zurückzuführenden Unheilsformen, das malum physicum, zu versuchen. Demnach sei im Gesamtgeschehen der Evolution geschöpfliche "Freiheit" wirksam – für Gott im einzelnen nicht absehbare bzw. von ihm nicht verhinderte Entwicklungen, die auch Leiden mit sich bringen, angesichts des zu erreichenden Zieles – vor allem die Ermöglichung menschlicher Lebensformen – jedoch zu "entschulden" wären. Erdkrustenverschiebungen und Erdbeben, Feuersgluten im Innern der Erde, Witterungsverhältnisse, Virenbildungen – inwieweit entwickelt sich all dies freiheitlich – ohne dass Gott eintretende Schäden verhindern könnte? Große Fragen – allesamt angesiedelt im Bereich Schöpfung und Evolution – Gnade und Freiheit – ihr Verhältnis angemessen zu bestimmen, gilt als die schwerste Aufgabe der Theologie.

Könnte sein, dass Gott der Weltenlauf aus den Händen geglitten ist? Vermag er dem von ihm Angerichteten nur noch zuzusehen? Wer so argumentiert, gerät in die Gefilde des Deismus – Gott gab den Anstoß zum Weltenlauf und zog sich dann in sich zurück. Eine gewisse Nähe lässt sich auch zur Vorstellung von Leibniz erkennen, der die bestehende Welt als die beste der je denkbaren erachtete: Um schlimmeres Leiden zu vermeiden und größtmögliches Glücken des Lebens zu ermöglichen, hat Gott gerade diese Gestalt der Welt erschaffen. Alle anderen wären noch schlimmer, das begrenzte Leiden sei um des höheren Zieles willen zu ertragen. Überzeugt Sie diese Argumentation? Eine Instrumentalisierung der Leiden geschieht – eine der fünf zu unterscheidenden Deutungen der Wirksamkeit der Leiden. Vier weitere möchte ich ansprechen:

 

2. Aufmerksamkeit auf die Wirksamkeit von Leiderfahrungen

Eine zweite Spur der Deutung der Leiden möchte ich aufnehmen: die Aufmerksamkeit auf die Wirkweisen des Leidens. Kann aus erlittenem Unheil Heilung erwachsen?

a. Ontologisierung und Ästhetisierung der Leiden
b. Moralisierung und Pädagogisierung der Leiden

In der philosophisch-theologischen Diskussion richtet sich die Aufmerksamkeit auch auf die erfahrene Wirkweise des Bösen: Vier weitere Wahrnehmungen, vier Deutungen lassen sich unterscheiden: (1) Ontologisierung: Das Böse hat selbst kein eigenes Sein, es ist vielmehr als ein "Fehlen an Gutem" (privatio boni) zu erfassen. (2) Ästhetisierung: Die Negativität des Bösen zu erfahren, ist die notwendige Voraussetzung dafür, auch Gutes wahrzunehmen. (3) Pädagogisierung: Jedes Leiden ist eine Chance zur (inneren) Reifung; es ist ein Mittel der Erziehung, deren Ziel das umfassende Wohl der Geschöpfe ist. (4) Moralisierung: Formen des Leidens entstehen durch den Missbrauch des geschöpflichen Willens zur Freiheit. Auch viele Naturkatastrophen entstehen, weil sich Menschen der (langfristigen) leidvollen Folgen der eigenen Handlungen nicht bewusst sind.

In den biblischen Schriften finden sich vor allem Texte, die die pädagogisierende und die moralisierende Deutung des Unheilsgeschehens unterstützen können – Leiden läutern, prüfen, lassen erstarken, verweisen auf das Wesentliche im Leben – ist es so? Leiden sind selbst verschuldet – Folge eigener Taten. Bereits die biblische Tradition bejaht diesen naheliegenden Gedanken nicht für jede menschliche Situation. Weder durch die Ursache noch durch die Wirkung gerechtfertigte Leiden werden beschrieben – der frühe Tod der Gottesfürchtigen, Verleumdung selbst unter Freunden, Kinderlosigkeit – ein tiefes Leiden, das mich auch selbst schwer tragen lässt.

Grundlegende Reflexionen auf den Grund der Leiden werden vor allem in der Weisheitsliteratur angestellt. In den älteren Schriften kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass jede sündige Tat leidvolle Folgen hat, ein Tun-Ergehen-Zusammenhang besteht, der jedoch nicht immer (allein) den Täter oder die Täterin trifft. Stark betont wird in der nachexilischen, jüngeren Weisheitsliteratur vor allem die Undurchschaubarkeit der Entscheide Gottes. Das Buch Hiob weist den Menschen in die Schranken seiner Erkenntnisfähigkeit. Das Leiden erscheint als eine Prüfung, die Gott den Menschen auferlegt. In der Rahmenhandlung schließt der "Teufel" eine "Wette" mit Gott: Auch der gerechte Hiob werde sich von Gott abwenden, wenn er großes Leiden erfährt. Hiob verteidigt sich vor seinen Freunden mit Hinweis auf seine Unschuld – Strafe als Folge der Sünde erschiene ihm als tolerabel. Am Ende wird Hiob von Gott belehrt, als Mensch stehe es ihm nicht zu, letzte Einsicht in seine Entscheide zu haben.

 

3. Läuterung der Gotteskunde

Die dritte Spur der Deutung geschöpflicher Leiden führt wieder nahe an die klassische Theodizee-Frage heran: Sie nimmt erneut die Gottesfrage auf. Müssen wir nicht unser Gottesbild läutern? Ist Gott wirklich den Zeiten enthoben, leidensunfähig, unwandelbar, unerschütterlich in seinem Innersten – so, wie es ihm viele Attribute der Gotteslehre zuschreiben?

 

a. Gott – den Zeiten ausgesetzt und (mit-)leidend
Das christliche Gottesbekenntnis vermag angesichts der darin enthaltenen Überzeugung von der Teilhabe Gottes selbst am zeitlichen Geschick seiner Geschöpfe aufgrund der Menschwerdung seines Sohnes das Bild eines mitleidenden Gottes zu zeichnen.

Karl Rahner hat diesen Gedanken in einer Weihnachtsmeditation ausgeleuchtet. "Erfüllter Abgrund" ist ihr Titel. Darin heißt es wörtlich: "Der Herr ist da – der Herr der Schöpfung und meines Lebens. Er sieht nicht mehr aus dem ewigen ‘Alles in einem und auf einmal‘ seiner Ewigkeit bloß dem ewigen Wechsel meines verrinnenden Lebens tief unter sich zu. Der Ewige ist Zeit, der Sohn ist Mensch (...) Und dadurch ist die Zeit und das Menschenleben verwandelt worden. (...) Jetzt geht ihn diese Welt und ihr Schicksal selber an. Jetzt ist sie nicht nur sein Werk, sondern ein Stück von ihm selbst. (...) Jetzt brauchen wir ihn nicht mehr zu suchen in den Unendlichkeiten des Himmels, in denen sich unser Geist und unser Herz weglos verlieren, jetzt ist er selbst auch auf unserer Erde, auf der es ihm nicht besser geht als uns, auf der ihm keine Sonderregelung zuteil wurde, sondern unser aller Los: Hunger, Müdigkeit, Feindschaft, Todesangst und ein elendes Sterben. Dass die Unendlichkeit Gottes die menschliche Enge, die Seligkeit die tödliche Trauer der Erde, das Leben den Tod annahm, das ist die unwahrscheinlichste Wahrheit. Aber sie nur – dieses finstere Licht des Glaubens – macht unsere Nächte hell."5

Der christliche Gottesglaube bekennt sich zu einem Gott, der selbst das Leiden erfahren hat – in aller Tiefe der tiefsten Nichtung im qualvollen Tod des unschuldigen Sohnes. Dem "mitleidenden" Gott ist keine Form des Leidens fremd. Tröstlich kann eine solche Gottesbotschaft aber nur sein, wenn Gott die Möglichkeit hat, die Geschöpfe nicht im Tod zu belassen, sondern unverlierbares Leben zu wirken – Jesus und uns allen. Die Hoffnung auf das eschatologische Gericht Gottes ist zudem Hoffnung auf die (universale) Erkenntnis der Zusammenhänge, die die Geschöpfe haben leiden lassen.

Der christliche Gottesglaube hält an der Vorstellung fest, dass Gott nicht durch Geschehnisse in der Zeit überrascht werden kann. Er weiß immer schon alles, was je in Freiheit geschieht. Im Angesicht aller Leiden seiner Geschöpfe erschafft Gott, was nur in ihm Bestand hat. Gott hat in dem ewig-einen Augenblick, da er sich selbst dazu bestimmt, Schöpfer zu sein, vor Augen, dass sich seine Schöpfung gegen ihn wenden wird. Gott entscheidet sich für das Dasein der Geschöpfe. Er wählt das Leben der Geschöpfe, auch wenn er um die in Freiheit gewählte Sünde weiß. Die theologische Tradition denkt seit langem den Gedanken, dass Gott nur dann recht getan hat mit seiner Erschaffung der immer auch zur Sünde versuchten Menschheit, wenn er einen Weg weiß, diese sündige Schöpfung auch zu erlösen, sie zu vollenden. Der Weg der Erlösung ist Gottes unverbrüchliche Bundeswilligkeit, die er in der Fülle der Zeit in Christus Jesus hat erscheinen lassen, damit alle Geschöpfe Vertrauen fassen können.

 

b. Gott – ringend mit seinem Zorn
Nicht nur in kirchenkritischen Schriften, auch in vielen neueren theologischen Beiträgen wird den biblisch überlieferten, dunklen Charakterzügen Gottes hohe Aufmerksamkeit geschenkt: seiner manchmal unerbittlich erscheinenden Härte gegen die Frevler, seiner auch kriegerischen Herrschaft, seiner unbegründeten Vorliebe für die einen und seiner Abneigung gegen andere, seinem Wankelmut und seinem Zorn.

Wir haben gelernt, die biblischen Texte nicht als eine Gottes Wesen einfach abbildende Kunde zu verstehen, sondern als Zeugnisse menschlichen Ringens um das Verstehen des Handelns Gottes. Darin erscheint Gott selbst – Gottes Wesen beschrieben im Menschenwort. Meines Erachtens ist es erforderlich, in einer systematisch-theologischen Auslegung der Schrifttexte nach einem Gottesbild zu suchen, das auch dem Kriterium der Konsistenz standhält. Gott lässt sich nicht zugleich als die einen grundlos vernichtend und die anderen sorgsam bergend verkündigen. Die Suche nach der einen Mitte der Schrift ist uns aufgetragen, von der aus die Einzelzeugnisse ihre Bedeutung gewinnen – als Worte der Mahnung etwa, endlich von den Wegen des Unheils zu weichen. Nochmals: Die Bewältigung menschlicher Widerfahrnisse spiegelt sich in den biblischen Schriften.

Meines Erachtens gibt es einen theologisch angemessenen Ort der Rede von Gottes Zorn: Gott ringt mit seinem gerechten Zorn angesichts der Sünde der Menschen. Zornig ist Gott, wenn seine Geschöpfe – durch andere Geschöpfe bedingt – ihre Lebensmöglichkeiten einbüßen. Gottes Weisung, sündelos – ohne Formen des Gemeinschaftsbruchs – zu leben, und Gottes Evangelium, sich den Sündern und Sünderinnen gegenüber barmherzig zu erweisen, Gesetz und Evangelium haben beide eine unvertretbare, bleibende Bedeutung. Gottes Schöpfungsordnung will das Dasein von allem Lebendigen erhalten und ihm Wohlergehen sichern. Gottes Weisung dient dieser Zielsetzung. Die Erlösungsordnung verheißt den an der Erfüllung des Gesetzes Scheiternden Gottes Gnade. Das Evangelium ermutigt dazu, Gottes Weisung nach besten Kräften zu folgen, denn das Erfahrbarwerden der Grenzen des Liebenkönnens muss nicht ängstigen. Gottes Zorn ist nicht sein letztes Wort.

 

IV. Offenheiten

Am Ende – ich habe es bereits am Anfang angekündigt – bleiben viele Offenheiten. Ich benenne sie nur noch:

 

1. Gottes Weg mit den einzelnen

Die scholastische theologische Tradition war zurückhaltend in der Annahme der Möglichkeit, Gottes Willen im Blick auf das Geschick eines einzelnen Menschen zu bestimmen. Nur rückblickend etwa auf die Folgen auch eines kurzen Lebens und im Gesamt der geschöpflichen Lebensgemeinschaft ließe sich über den Sinn eines Lebens nachdenken. Die Schöpfung ist eine einzige Gemeinschaft. Aber ist das wirklich ein Trost? Früh sterbende Kinder, behinderte Menschen, hungernde und dürstende Kinder – sind wir nicht alle unverwechselbar in unserem Leiden? Geht Gott einen Weg mit jedem und jeder von uns? Ich glaube und vertraue: Ja, er tut es.

 

2. Keine Sicherheit, (nur) Glaubensgewissheit

Es gibt keine Sicherheit, Glaubensgewissheit nur, dass Gott lebt. Nach dem biblischen Zeugnis ist die Suche nach bewährter Gotteserkenntnis an das gemeinsame Erleben geschichtlicher Ereignisse und ihre Deutung im Glauben verwiesen. Die Bereitschaft zum kommunikativ gestalteten Austausch der Deutungen der Geschehnisse ist erforderlich zur Bildung gläubiger Identität in Gemeinschaft. Menschliche Beziehungen, die im Erleben, Sprechen und Feiern Gestalt annehmen, sind der Ort der Einsicht in die Wege Gottes mit der Schöpfung. Nur gemeinsam können wir zum Glauben kommen und im Glauben bleiben.

 

3. Gott – "Geheimnis"

Karl Rahner spricht von dem (einen) "Geheimnis" Gottes, um die vielen "mysteria", von denen die theologische Tradition spricht, in dem einen göttlichen Grund zu versammeln: Theo-logie ist Rede von Gott. Dabei meint die Rede von der "Geheimnishaftigkeit" Gottes nicht (allein) die Tatsache, dass Gott für das menschliche Erkenntnisvermögen letztlich undurchschaubar bleibt. Darüber hinaus bespricht das Wort "Geheimnis" die immer bleibende Geschenkhaftigkeit der Zuwendung Gottes. Gott bindet sich in Treue an sein Versprechen, ein Gott für die Schöpfung zu sein; seine Willigkeit, bei diesem Entschluss zu bleiben, ist in jedem Augenblick Geschenk – Gnade. Diese Botschaft will nicht ängstigen, sondern zum Lobpreis motivieren. Christus Jesus ist das offenbare "Geheimnis Gottes" (Kol 2,2). In Ihm können wir im Glauben gewiss sein, dass Gott sich treu bleibt in seiner Liebe zur Schöpfung.

Einen Zugang zur Rede vom "geheimnisvollen" Gott können wir gewinnen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass auch (liebende) Menschen einander auf ewig "Geheimnis" bleiben: Immer ist die mitmenschliche Zuwendung "Geschenk" – "Gnade", die nicht geschuldet ist, sondern uns unverdient trifft, da wir doch alle fehlbar sind, beeinträchtigt in unseren Möglichkeiten zum Guten durch die tiefe Angst, die in uns steckt – die Angst etwa, es nicht wert zu sein, von der/dem Anderen bejaht zu werden.

Solange Menschen leben, werden die Fragen nicht verstummen. Ich leite meinen Schlussgedanken mit einem Gedicht von Cees Nooteboom6 ein. "Traum" steht darüber:

 Nest, Nester,
immer bitterer fliege ich ein
und aus,
die Schwingen voll Trauer, die Augen
bedrängt vom immer schwärzeren
Schlaf.

Dass jetzt ein schrecklicher Wind
aufkäme und mich entführte,
als gäb’s eine Vogelkehle mit Flügeln,
zerbrechlichen Flügeln und winzig,
aus Asche und Elfenbein.

Der mich entführte, entführte
zum flachen Küstenland aus Felsen, Fabriken,
und abwerfen würde aus leerem Himmel
in das zeithafte Schlecken von Wasser

und Nichts

 Nest, Nester – eine Wohnung zu haben, in die wir ein- und ausfliegen können, stiftet noch nicht Lebenssinn, reicht nicht aus, um Lebensmut zu bewahren. Es gibt Gestalten der Lebenstrauer und der Bitterkeit, in denen sich die Selbstwahrnehmung darauf reduziert, Grund zur Klage zu haben. Der Vogel ist einzig noch Kehle – und Flügel, um entführt werden zu können vom Wind und aus dem leeren Himmel in das Nichts zu fallen. Das Gezeitenmeer verschlingt die Kraftlosen, die des Lebens Müden.

Gerne wollte ich an diesem Morgen Gründe neu gelegt haben, auf denen das Vertrauen in Gott erstarken kann. "Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus" (1 Kor 3,11). Gottes Wort fällt nicht vom leeren Himmel in das Nichts. Es gibt Grund zur Klage, gewiss; auch Jesus klagte. Es gibt aber auch Grund zum Glauben, zum Vertrauen in den lebendigen Gott. Jedes kleine Zeichen der Liebe erweist es: Am Ende bleibt die Liebe und das Leben, nicht der Tod. Mögen wir selbst darin getrost bleiben, das erbitte ich vor Ihnen von Gott, dem Lebendigen hier in unserer Mitte.

 

Anmerkungen

  1. Vgl. Erich Fried, Lebensschatten, Berlin 1996, 104.
  2. Vgl. Zvi Kolitz, Jossel Rakovers Wendung zu Gott (Villingen 1994).
  3. Ebd., 48-72 (Auszüge).
  4. Ebd.
  5. Karl Rahner, Kleines Kirchenjahr (München 1954) ...
  6. Cees Nooteboom, Traum, in: ders., Gedichte (Frankfurt 1992) 81.

 * Vortrag auf dem Religionslehrertag am 19. September 2002 an der Hochschule Vechta. Die Gestalt der Rede ist für den Druck kaum verändert worden

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2003

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