Der erste Schultag nach den Sommerferien. Bei der Einschulung in die Orientierungsstufe spielen die Sechstklässler den Neuankommenden aus der Grundschule mehrere Sketche vor, die sich mit Situationen an der für sie neuen Schulform befassen. Die ehemaligen Grundschüler sitzen irritiert vom Dargebotenen auf der Bühne neben ihren Eltern, verfolgen das Geschehen unkonzentriert. Viel wichtiger ist für sie, ob sie mit ihren Freunden in eine gemeinsame Klasse kommen. Dann endlich die Klasseneinteilung und der anschließende Gang ins neue Klassenzimmer. Erste Enttäuschung: Zwar wurde die Schule erst vor kurzem gebaut, allerdings hat der Schulträger für die Räume nur das vorgeschriebene Mindestmaß vorgesehen. 28 Kinder tummeln sich auf engstem Raum. Ein Umstellen der Tische ist nicht ohne weiteres möglich - der Frontalunterricht scheint architektonisch vorprogrammiert. Der Blick aus dem Fenster findet Ruhe auf einer überdimensionalen gestalteten Betonwand - Kunst am Bau. Die Möglichkeit, einen Teil der nur gelegentlich genutzten Bücher in der Schule zu lassen, ist aus Platzgründen nicht vorgesehen - Geld für entsprechende Fächer nicht vorhanden.
Endlich das erste Klingeln und die erste Pause auf dem Schulhof. Aufgeregt strömen die Neuangekommenen der 15minütigen Freiheit entgegen. Doch auch hier Ernüchterung: Der Pausenhof ist gepflastert, ein Zaun (zum Schutz vor den Hauptschülern) verstärkt den Eindruck der Enge. Zwar wurde vom Schulelternrat und von einem Teil des Kollegiums vor der Pflasterung eindringlich auf alternative Gestaltungsmöglichkeiten des Pausenhofes hingewiesen, allerdings ohne Erfolg. Trotz Intervention, trotz des allseits diskutierten Projektes "Niedersachsen macht Schule durch Bewegte Schule"1) (, das sich für sinnesaktivierende Gestaltung von Schulen einsetzt) wurde die Pflasterung durchgesetzt, das Feld für die Kehrmaschine bereitet. Eine Bepflanzung fehlt zunächst, soll aber Zug und Zug oder ein bis zwei Schülergenerationen später nachgeholt werden. Ein Basketballkorb ist vorhanden, allerdings scheint dieser aus Statusgründen nur den Sechstklässlern zur Verfügung zu stehen.
Als mein Sohn nach Hause kommt frage ich ihn nach dem Unterschied zwischen der Orientierungsstufe und der Grundschule. Sein kurzer Kommentar: "In der Grundschule haben wir in der Pause gespielt, jetzt hängen wir rum." "Schade" denke ich, "vor den Ferien berichtete er begeisterter von der Schule". Wer nun meint, das Wohlgefühls der Schüler sei der schulischen Administration kein Anliegen irrt. Die mitgebrachte Hausordnung liegt zur elterlichen Kenntnisnahme als Beweis vor:. "Damit sich die Menschen in unserem Haus wohl fühlen und erfolgreich miteinander arbeiten können, sind Regeln notwendig, die von allen Beteiligten beachtet werden. ..."
Um nicht missverstanden zu werden: Ich gehöre nicht zu den Vätern, die ihre Königskinder vor allem behüten und bewahren wollen, was die Schule ihnen zu Recht oder zu Unrecht antut. Das Kind ist für mich nicht das Tüpfelchen auf dem i meiner Biographie und die Schule auch nicht die feindliche Macht, die ihre Krakenarme nach meinem Kind ausstreckt und ihm Regeln zumutet. Mir geht es nicht um eine Spaßschule, die nach infotainmenttechnischen Maximen ausgerichtet ist und den Kindern den Ernst vorenthält. Für mich ist klar, dass Schule funktionieren und ihre Schülerinnen und Schüler sich an die Gegebenheiten anpassen müssen. Die Grenzen der Anpassungsfähigkeit sind bekanntermaßen bei unterschiedlichen Menschen verschieden. Wird die Grenze überschritten, lese ich in Unterrichtsentwürfen Sätze wie "Markus ist nicht in der Lage, still zu sitzen und dem Unterrichtsgeschehen 45 Minuten zu folgen (dass der Videoladen, den sein Vater betreibt, hierzu beiträgt, ist zu vermuten).".
Dass eine solche Beschreibungen in hohem Maße töricht sind ist nicht weiter auszuführen. Vielmehr möchte ich den Fokus auf einen blinden Fleck der Bildungsbürokratie richten, der mir nach unzähligen Besuchen in verschiedensten Schulen immer wichtiger wird. Vorstellbar wäre auch eine Schülerbeschreibung nach folgendem Muster: "Die Gruppe der Jungen um Janosch ist nicht in der Lage, still zu sitzen und dem Unterrichtsgeschehen 45 Minuten zu folgen. Ich vermute, dass dieses an den eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten und -angeboten auf dem Pausenhof, an dem zu engen Unterrichtsraum und dem daraus resultierenden Frontalunterricht liegt." Sätze wie diese stießen vermutlich sauer auf und werden daher von AnwärterInnen vermieden. Statt die Chance zu sehen, die Schulwirklichkeit der Protagonisten unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten und sich durch Veränderung Erleichterung in unterrichtlichen Zusammenhängen zu verschaffen, wird Bedrohliches gewittert.
Neben immer wieder herausgestellten Ausnahmen wird die Realität maroder Schulbauten verschwiegen, in denen der Putz von den Wänden fällt und in denen Eimer aufgestellt werden, um das von der Decke tropfende Wasser im Unterrichtsraum aufzufangen. Übersehen wird die Tristesse vieler Schulhöfe, die gleichzeitig als abendliche Parkplätze für die angrenzende Turnhalle konzipiert wurden. Nur selten wird die Situation thematisiert, dass die meisten Schüler in zu großer Zahl in zu kleinen Räumen mit entsprechenden Einschränkungen didaktischer Möglichkeiten ihren täglichen Unterrichtsverpflichtungen nachkommen. Nicht im Blick sind zu kleine Turnhallen, die durch Doppel- oder Dreifachbelegung den Kindern kaum Bewegungsmöglichkeiten lassen. Statt dessen bestätigen sich die Kultusbehörden der Länder eine Vielzahl von Maßnahmen zur Verbesserung der Schule. Für eine gute Schule sorgen die staatlich geregelte Lehreraus- und -fortbildung, die Lehrpläne und die Schulbücher. Dieses alles steht unter der Kontrolle der immer weniger werdenden Beamten der Schulaufsicht. Nach Ansicht der Bildungsplaner wird Schulqualität auf hohem Niveau durch diese sogenannte Input-Steuerung gewährleistet.
Dass diese Annahme nicht stimmt, ist spätestens seit Erscheinen der Tims-Studie (Third International Mathematics and Science Study) und der Pisa-Studie (Programme for International Student Assessment) bekannt. Der Blick in die bis dahin heiligen Tempelbezirke schulischen Handelns lässt den Putz am Gebäude der Illusion deutscher Schulqualität bröckeln. Als Konsequenz dringen jetzt Methoden wie Benchmarking und Total Quality Management, mit denen Volkswagen und die Deutsche Bank die Qualität ihrer Produkte zu sichern versuchen, in die Welt der Bildung vor. Leistung wird gemessen, verglichen und Reformpädagogen werden von den anstehenden Leistungsvergleichsstudien "kalt erwischt". Schulprogramme werden in endlosen Konferenzen erfunden, das Stundensoll der Lehrer erhöht, Internetanschlüsse und Computerräume gesponsert und Begriffe wie Qualitätssicherung sollen für höhere Güteklassen auf Seite der Schülerprodukte sorgen. Nebenbei: Vielen entgeht, dass die von den Eltern, Lehrern, Bildungspolitikern, Hochschulprofessoren und Unternehmern formulierten Qualitätsanforderungen höchst unterschiedlich sind.
Mit ambivalenten Gefühlen schaue ich auf die neue Situation. Zugegeben - ohne Leistung funktioniert keine Schule aber ich stelle mir die Frage, ob bei allem Aktionismus nicht übersehen wird, dass schulische Qualität nicht allein in Leistung aufgeht. Schulische Qualität bedeutet auch, dass der Kosmos Schule seinen Schülerinnen und Schülern eine entsprechende Wertschätzung entgegenbringt, die sich in ansprechenden und genügend großen Räumen, Pausenhöfen, Turnhallen, Angeboten außerhalb des Unterrichts etc. ausdrückt. Schulische Qualität bedeutet nicht allein die Gewährleistung von möglichst wenig Stundenausfall. Schulische Qualität wird auch danach zu beurteilen sein, in welchen Räumen, unter welchen Bedingungen, von entsprechend fortgebildeten und nicht vom Stundensoll überlasteten Lehrerinnen und Lehrern erteilter Unterricht stattfindet. Dass dieses nicht umsonst zu haben ist, leuchtet ein. Wird allerdings auf Investitionen verzichtet, schließen sich noch mehr Eltern der bürgerlichen Fluchtbewegung an, die die vermeintlich beste Bildung für den eigenen Nachwuchs an den Privatschulen einkaufen und die anderen zurücklassen.
Beim Fußball wird es auch angesichts miserabler Spielfelder immer wieder Spieler geben, die nach entsprechend hartem und entbehrungsreichem Training Tore schießen. Allerdings ist klar, dass auf diesen Plätzen wesentlich weniger Tore fallen werden als in der Schalke-Arena. Und letztlich: Wer keine Tore schießt, wird absteigen und sein Leben in einer der unteren Ligen fristen müssen. Dort werden die ersten Schulen auch bald ankommen. Es sei denn ...