Störungen als Chance – Religionsunterricht mit ‘schwierigen’ Schülerinnen und Schülern

von Dietmar Peter

 

Störungen als Chance
Reihe Schwerpunkte, Euro 8,00

Der nachstehende Bericht ist ein Auszug aus der RPI - Publikation „Störungen als Chance“. 

Neben den theoretischen Grundlagen des nachstehend Dargestellten, wird ein Religionsunterricht mit ‘schwierigen’ Schülerinnen und Schülern theologisch abgesichert, grundlegendes zur Förderung von Schülerinnen und Schülern in belasteten Lebenssituationen diskutiert, eine in der Praxis durchgeführte kooperative Verhaltensänderung einer Klasse beschrieben und ein Handlungsmodell für belastete Unterrichtssituationen vorgestellt. 


Zur Praxis verhaltensmodifikatorischer Interventionsmöglichkeiten im Religionsunterricht 

Im folgenden gilt es, die aufgrund der geschilderten theoretischen Grundlagen entwickelte Konzeption im Praxisfeld zu erproben. Dabei sind die einzelnen Schritte auf ihre Praxisrelevanz hin zu überprüfen und ggf. zu modifizieren.

 

Die allgemeinen Rahmenbedingungen der Interventionen

Die sich anschließenden Praxisberichte beziehen sich allesamt auf verhaltensmodifikatorische Interventionen im Religionsunterricht des BVJ. Seit etwa zehn Jahren setze ich in diesem Bereich einen Schwerpunkt meiner Arbeit. Im Rahmen dieses Schwerpunktes fühle ich mich neben dem Religionsunterricht zuständig für Beratungsgespräche, als Vermittler in Konfliktfällen zwischen Lehrern und Schülern und für die Klassenfahrten, die ich kurz nach Beginn des Schuljahres (in der Regel etwa fünf bis zehn Wochen nach Schuljahresbeginn) mit jeder Klasse eine Woche lang durchführen.

Die Klassenfahrten bilden eine grundlegende Voraussetzung meiner Arbeit. Sie bieten sich in besonderer Weise dazu an, die Schüler näher kennen zulernen und ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Sie erlauben mir des weiteren einen Einblick in die Lebenswelt der Schüler - vor Beginn jeder Klassenfahrt besuche ich alle Eltern oder Erzieher (falls der Schüler in einem Heim lebt) der Schüler. Es geht dabei darum, offene Fragen der Eltern/Erzieher zu klären, Ängste und Vorbehalte (vorwiegend auf Seiten der Eltern) gegenüber dem BVJ abzubauen. Die Besuche tragen in den meisten Fällen dazu bei, einen ersten Kontakt zwischen den Eltern/Erziehern und der Schule herzustellen und erweisen sich bei später eventuell auftretenden Schwierigkeiten oder Konflikten als besonders nützlich.

Zur Zeit der von mir beschriebenen Interventionen wurden an meiner Schule zwei BVJ-Klassen gebildet, die ich beide im Fach Religion einmal pro Woche unterrichte. Die Umsetzung der von mir im obigen Kapitel vorgestellten verhaltensmodifikatorischen Handlungsstrategie erfolgte im laufenden Schuljahr erst im Anschluss an die Klassenfahrten in beiden Klassen. Dieses ist begründet in der Tatsache, dass ohne ein Kennen lernen der Schüler und ihrer Lebenswelt und ohne den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses ein verhaltensmodifikatorisches Vorgehen, wie ich es verstehe, zum Scheitern verurteilt ist. Erst durch die Entwicklung von Akzeptanz und Vertrauen auf beiden Seiten erwirbt der Lehrer sich die notwendige Interventionsberechtigung. Ich erachte den Erwerb einer Interventionsberechtigung für das konkrete Handeln als von besonderer Bedeutung und gleichzeitig als ein immenses Problem. Was nützt z.B. die richtige Analyse und Einschätzung eines Konfliktes, alles Wissen über Aggressionsebenen, Richtungen der Aggressionen oder die Kenntnisse der aggressiven Sprache, wenn dem Lehrer die Interventionsberechtigung verwehrt bleibt.

Der Erwerb von Interventionsberechtigung sollte grundsätzlich jeder VM vorausgehen. Dieses trifft im besonderen Maße für die Arbeit mit  Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen zu. Während dieser Vorlaufzeit kommt es seitens des Lehrers darauf an, Grundhaltungen zu zeigen und sich als dialogfähig zu erweisen. Erst dann bekommen alle Reaktionen und Handlungen des Lehrers ihre Bedeutung und werden für die Schüler einschätzbar. Gerade Kinder und Jugendliche, die im Laufe ihrer Sozialisation viele Brüche und Verunsicherungen haben hinnehmen müssen, sind auf solche Grundhaltungen angewiesen, denn sie schaffen Sicherheit und Verlässlichkeit. Dieses stellt für mich die Grundvoraussetzung dar, um Vertrauen und soziales Lernen zu ermöglichen. Nur wenn diese Basis geschaffen wird, lassen sich Schüler auf den nachstehend dargestellten verhaltensmodifikatorischen Prozess ein.

 

Beispiel einer im Rahmen des 'Modells zur kooperativen Verhaltensmodifikation'        durchgeführten Verhaltensänderung eines Einzelschülers im RU 

Legitimationsprüfung

Von Beginn des Schuljahres an fällt mir Sven im Unterricht durch sein Verhalten in besonderer Weise auf. Wenn ich in die Klasse komme, steht Sven meist an der Tafel und beschmiert sie mit irgendwelchen Vulgärausdrücken. Während des Religionsunterrichts kommt es durch Sven immer wieder zu verbalen Angriffen auf die Mitschüler, die häufig in einer Prügelei enden. Ermahne ich Sven, so äfft er mich nach und ignoriert meine Anweisungen. In der Klasse sitzt Sven abgesondert von den Mitschülern, die sich oft über ihn beschweren und ihn aufgrund seines oftmals gegen sie gerichteten provokativen und aggressiven Verhaltens ablehnen. Es kommt im Unterricht auch im­mer wieder zu kurzen Phasen, in denen Sven Interesse am Unterricht zeigt. Er liefert dann Unter­richtsbeiträge, indem er Erkenntnisse laut in die Klasse ruft. Manchmal greife ich auf diese Äußerungen zurück. Insgesamt bemühe ich mich allerdings, die so geäußerten Beiträge zu vernachlässigen. Das Unterrichten in der Klasse stellt sich allein aufgrund von Svens Verhalten als ausgesprochen schwierig dar.

Es gibt jedoch immer wieder Phasen, in denen sich Sven ausgesprochen freundlich verhält. Er fragt mich dann, ob ich nicht irgendeine Aufgabe für ihn habe. Gebe ich ihm eine Aufgabe, so verrichtet er sie mit sehr viel Engagement

Vor der Klassenfahrt mache ich, wie bei allen anderen Schülern, so auch bei Sven einen Hausbe­such. Ich treffe dort seine Mutter an, mit der ich zunächst offene Fragen bezüglich des BVJ und der Klassenfahrt bespreche. Svens Mutter berichtet sehr lange über Svens Schwester, die ihr sehr viel Freude bereite. Daran anschließend erwähnt sie, dass Sven im großen und ganzen auch keine Schwierigkeiten mache. Sie führt das auf die strenge Erziehung ihres Mannes zurück, der am Wochenende von der Montage zurückkommt und sich Sven "dann schon mal vornimmt". Ab und zu erhält Sven vom Vater Schläge, die "dann wieder Ruhe bringen". Svens Mutter berichtet, dass ihr Sven in solchen Situationen leid täte, sie aber nichts gegen ihren Mann machen könne.

Im weiteren Gespräch berichtet Svens Mutter, dass Sven während der Woche, wenn ihr Mann weg sei, auch schon mal unverschämt zu ihr sei. Vor etwa einem Jahr sei er einmal richtig "ausgeflippt". Er habe sein Frühstücksgeschirr an die Wand geworfen. Auf Anraten ihres Arztes habe sie Sven dann Beruhigungsmittel gegeben, die ihn immer sehr müde gemacht hätten und die sie daraufhin abgesetzt habe. Svens Mutter berichtet, dass sie Sven zwar ab und zu bestrafe (Stubenarrest), oft aber auch ein Auge zudrücke. Allerdings hoffe sie, dass sein aggressives Verhal­ten nicht wie in den letzten Jahren noch weiter zunähme und es ihr dann "über den Kopf" wachse.

Kommentar: Während des Gespräches verstärkt sich bei mir zunehmend der Eindruck, dass die Mutter ihren Sohn nur anhand seiner Defizite beschreibt. "Wenn aber angemessenes Verhalten nicht mehr beachtet wird, sondern sich die elterliche Aufmerksamkeit erst dann vermehrt auf das Kind richtet, wenn es sich unangemessen verhält, so ist es nicht verwunderlich, dass dadurch dieses unerwünschte - aber in den Augen des Kindes 'erfolgreiche' - Verhalten zukünftig häufiger bzw. intensiver auftreten wird."1

Svens Mutter berichtet weiter, dass Sven am liebsten zu Hause sei und sich mit seinem Computer beschäftige. Richtige Freunde habe er nicht, allerdings kämen ab und zu ein paar Jungen aus seiner früheren Klasse, um Computerspiele mit ihm zu tauschen

Gegen Ende des Gespräches kommt Sven nach Hause und setzt sich zu uns. Ich berichte, dass seine Mutter mir von seiner Computerleidenschaft erzählt habe. Er nimmt dieses zum Anlass, mir sein Zimmer und vor allem seinen Computer zu zeigen. Da ich mich im schulischen Rahmen mit der Thematik 'Neue Technologien und Ethik' und damit auch mit Computern beschäftige, kommt es, bevor ich gehe, zu einem längeren Gespräch zwischen uns.

Kommentar: Meine Intention für die vor den Klassenfahrten durchgeführten Hausbesuche ist, offene Fragen der Eltern/Erzieher zu klären, für diese einen oftmals ersten Kontakt zu der Berufs­bildenden Schule herzustellen und Ängste und Vorbehalte gegenüber dem BVJ abzubauen. Die Hausbesuche sollen in erster Linie dem gegenseitigen Austausch und Kennenlernen dienen und nicht Leistungen oder Minderleistungen des Schülers in den Mittelpunkt stellen. Mir ermöglichen die Gespräche einen Einblick in die Lebenswelt des Schülers.

Im obengeschilderten Gespräch hat es sich nach anfänglichem Zögern ("Sven macht im großen und ganzen keine Schwierigkeiten") ergeben, dass die Mutter von ihren Problemen mit Sven berichtet. In solchen Momenten erachte ich es als wichtig, die Rolle des aktiven Zuhörers einzunehmen und nicht auf jede Äußerung mit einem pädagogischen Ratschlag zu reagieren.

Das Gespräch zwischen Sven und mir bewerte ich nach meinem Besuch als günstige Ausgangs­basis für eine eventuelle Intervention.

Die Klärung der Frage, ob vorurteilsfreie Beobachtung durch mich vorliegt, wird mir durch das Gespräch mit Svens Mutter erleichtert. Einen weiteren Schritt hin zu einer Klärung bietet eine Situ­ation während der Klassenfahrt, bei der Sven nach einem verlorenen Tischtennisspiel einem Kol­legen seinen Schläger gegen die Brust wirft. Im abendlichen Gespräch mit zwei weiteren Kollegen erörtern wir die Einschätzung des Verhaltens von Sven. Dabei wird deutlich, dass Sven sich in anderen Fächern im Unterricht ähnlich wie von mir eingangs beschrieben verhält.

Bei der Überprüfung der Angemessenheit der bei der Beschreibung von Svens Verhalten von mir zugrundegelegten Normen stelle ich die Konsequenzen von Svens Verhalten in den Mittelpunkt. Es ist festzustellen, dass Sven sich aufgrund seines Verhaltens im Rahmen der Klasse, wie vermutlich auch im privaten Bereich, isoliert. Die so geschaffene soziale Desintegration gilt es zu überwinden.

"Verhaltensstörungen oder Erziehungsschwierigkeiten liegen dann vor, wenn die von einer - päda­gogischen - Beurteilungsinstanz ausgemachte Abweichung vom Regelverhalten im Erziehungsprozess derart gravierend ist, dass sie eine besondere erzieherische Hilfe für das Kind oder den Jugendlichen erforderlich macht, um die soziale Desintegration abzuwenden und die soziale Inte­gration zu ermöglichen."2

Die Folgen des Verhaltens von Sven können eindeutig als problematisch für ihn selbst wie für die anderen am Interaktionsgeschehen Beteiligten beschrieben werden. Der Verhaltensspielraum, den Sven beansprucht, ist größer als der, der ihm zusteht. Eine Intervention würde zwar seinen jetzigen Verhaltensspielraum einengen, ihm aber neu Möglichkeiten in Richtung eines angemesseneren Ver­haltens eröffnen. Der Verhaltensspielraum der Mitschüler wird durch Svens Verhalten eingeengt. Eine Intervention würde diesen Schülern nützen. Der Unterricht wird durch Svens Verhalten in er­heblicher Weise beeinträchtigt. Eine Intervention dient meinem Interesse daher unmittelbar.

Aus diesen Gründen halte ich eine Intervention für angemessen und strebe dabei folgende Ziele an:

  • Sven soll in Konfliktsituationen im Religionsunterricht keine körperliche Gewalt gegenüber seinen Mitschülern anwenden.
  • Sven soll seine Mitschüler im Religionsunterricht nicht durch verbale Äußerungen provozieren.
  • Sven soll den Religionsunterricht nicht durch Zwischenrufe stören.

Die genannten Ziele sollen die soziale Integration von Sven ermöglichen. Dadurch soll im Religi­onsunterricht dafür gesorgt werden, dass der Schülersituation in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit bei didaktischen Entscheidungen eine Priorität eingeräumt wird. Hier gilt es, im Rahmen des Reli­gionsunterrichtes dafür Sorge zu tragen, dass die Frage nach den zwischenmenschlichen Beziehun­gen und den Maßstäben für soziales Verhalten im Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen in angemessener Weise beantwortet wird. 

 

Verhaltensbeobachtung und Verhaltensanalyse

Um das quantitative Ausmaß und die Formen des aggressiven Verhaltens von Sven zu erfassen und die Lehrer- und Schülerreaktionen auf sein aggressives wie nichtaggressives Verhalten zu erheben, habe ich mich für das von Selgiiientworfene Kategoriensystem entschieden.

Kommentar: Bei der Entscheidung für obiges Kategoriensystem ist kritisch anzumerken, dass es das Individuum lediglich als Mängelwesen begreift. So gerät die Person in Gefahr, über ihre Schwächen definiert zu werden. Für mich bedeutet dieses, dass eine Aggressionsdiagnostik, die den Abbau aggressiver Verhaltensbereitschaften zum Ziel hat, gleichzeitig den Aufbau sozial kompetenten Verhaltens vorantreiben muss. In diesem Sinne werde ich im Rahmen dieser Intervention verfahren.

Da es mir aufgrund der Kürze der im Beobachtungsraster zu wählenden Zeitintervalle (5-10 Sekun­den) während des Religionsunterrichtes nicht möglich ist, Beobachtungsergebnisse aufzuzeichnen, beschließe ich, die erste Unterrichtsstunde nach der Klassenfahrt auf Video aufzuzeichnen. Die Verhaltensbeobachtung mittels Video und die Übertragung in das Kategoriensystem nehme ich am Ende des Schultages zu Hause vor.

Bei der Auswertung der im Kategoriensystem gemachten Aufzeichnungen stellt sich heraus, dass bestimmte Interaktionsstrukturen im Laufe des Religionsunterrichtes ständig wiederkehren. Am häufigsten (sechsmal während der Doppelstunde) ist dabei der in Abbildung 19 dargestellte Interaktionsverlauf an­zutreffen:

Abb. 19

Lehrer 

0

2-

0

2-

0

0

0

 

Sven                

N

1VS

U

1VR

U

U

U

 

Peers               

0

0

0

2VR

0

0

0

 

 

0"

10"

20"

30"

40"

40"

60"

70"

N  =     nicht auffälliges Verhalten

VS =    verbale spontane Reaktion (unterrichtsbezogen)

VR =    verbale aggressive Reaktion

KD =   körperliche Destruktion

0  =      Nichtbeachtung

-  =       Bestrafung (mimisch, verbal, physisch)

+  =      Lob, Bekräftigung

U  =     Unruhe

 

Ein ähnlicher Interaktionsverlauf ist während der Doppelstunde dreimal zu beobachten (siehe Abbildung 20).

Abb.2

Lehrer 

0

0

0

2-

0

0

0

 

Sven                

N

1VR

U

1KD

U

U

U

 

Peers               

0

2VR

0

2VR

0

0

0

 

 

0"

10"

20"

30"

40"

50"

60"

70"

Aus Abbildung 19 wird ersichtlich, dass eine verbale spontane Reaktion eine Bestrafung meinerseits hervorruft. Dieser wiederum folgt wenige Sekunden später eine Aggression in verbaler Form von Sven, die wiederum von mir mit einer Bestrafung und von den Mitschülern in Form einer verbalen Aggression beantwortet wird. Im Anschluss daran verhält sich Sven unruhig. In Abbildung 20 wird ein ähnlicher Interaktionsverlauf deutlich. Eine verbale aggressive Reaktion von Sven wird mit einer verbalen aggressiven Reaktion durch die Mitschüler beantwortet. Diese führt wenige Sekunden später bei Sven zu einer körperlichen Destruktion, die von den Mitschülern mit einer verbalen ag­gressiven Reaktion und von mir mit einer Bestrafung beantwortet wird. Im Anschluss daran verhält sich Sven, wie in obiger Sequenz, unruhig, was auf seine Erregtheit hindeutet.

Interessant ist die Hinzuziehung einer weiteren Sequenz, die sich während der Doppelstunde drei­mal ergab (siehe Abbildung 21).   

Abb. 21

Lehrer 

0

0

0

0

0

0

0

 

Sven                

N

N

N

N

N

N

N

 

Peers               

0

O

O

0

0

0

0

 

 

0"

10"

20"

30"

40"

50"

60"

70"

In dieser Sequenz wird ersichtlich, dass, wenn auf eine verbale spontane Reaktion von Sven weder von mir noch von den Mitschülern eine Reaktion erfolgt, Sven sich anschließend wieder nichtauffäl­lig verhält. Dieses kann auch in zwei Fällen bei einer von Sven ausgehenden verbalen aggressiven Reaktion beobachtet werden.

Daraus wird deutlich, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer verbalen spontanen Reaktion oder einer verbalen aggressiven Reaktion von Sven wesentlich verringert, wenn seitens des Lehrers oder der Mitschüler darauf mit Nichtbeachtung reagiert wird.

Die Betrachtung der gesamten Unterrichtsstunde in ihren Interaktionszusammenhängen zeigt auf, dass eine positive Bekräftigung die Wahrscheinlichkeit des nichtauffälligen Verhaltens bei Sven erhöht. Insgesamt kommt es während der Doppelstunde zu zwölf Sequenzen, in denen eine von Sven ausgehende Aggression eine Rolle spielt. In der letzten halben Stunde der Doppelstunde tre­ten die Aggressionssequenzen vermehrt auf.

Der Schwerpunkt der Zwischenrufe liegt eindeutig in den ersten sechzig Minuten des Unterrichtes (sieben Zwischenrufe). Eine Unterrichtsbeteiligung durch Melden findet nicht statt.

Ein Bedingungsmodell des Verhaltens lässt sich wie folgt skizzieren: Sven sitzt auf seinem Platz und verhält sich nicht auffällig. Für dieses Verhalten erhält Sven keine positive Bekräftigung, weder von mir, noch von den Mitschülern. Die nicht erfolgte positive Bekräftigung senkt die Auftretenswahr­scheinlichkeit des vorangegangenen (nichtauffälligen) Verhaltens. Die Verhaltensfolge 'Nichtbeachtung' auf 'nichtauffälliges Verhalten' beeinflusst seine Erfolgserwartungen. Eine unter­richtsbezogene verbale spontane Reaktion wird durch meine gelegentliche Berücksichtigung inter­mittierend verstärkt und so in ihrer Auftretenswahrscheinlichkeit erhöht. Zeigt Sven eine verbale aggressive Reaktion erhält er, wie in Abbildung 20 deutlich wird, Beachtung und damit auch eine in seinem Sinne positive Bekräftigung. Er hat damit aus seiner Sicht einen Erfolg erlangt, woraufhin er sein Verhalten im Anschluss daran gleich in verstärkter Form noch einmal wiederholt. Erfährt ein störendes Verhalten von Sven keine Beachtung durch Lehrer und Mitschüler, so wird Sven das Er­folgserlebnis genommen, und das Verhalten wird nicht wiederholt. Allerdings überwiegen im Unter­richt für Sven die Erfolgserlebnisse, die er durch die Beachtung seines Verhaltens erlangt, und deshalb wird es beibehalten.

Aufgrund der durchgeführten gezielten Beobachtungen und der mir bekannten Hintergrundinforma­tionen formuliere ich die folgenden Hypothesen, deren Hintergrund, wie im vorigen Kapitel, kurz dargestellt wird.

Hintergrund: Sven zeigt aufgrund einer negativen Reaktion seitens des Lehrers oder der Mitschüler auf von ihm ausgehende Zwischenrufe oder auf ein von ihm ausgehendes aggressives Verhalten ein ähnliches Verhalten. Er unterlässt dieses allerdings bei fehlender Reaktion. Das lässt die Vermutung zu, dass Sven ein solches Verhalten äußert, um beachtet zu werden. Diese These wird durch die Beobachtung gestützt, dass, wenn Sven für positives Unterrichtsverhalten gelobt wird, von ihm ausgehende Aggressionen für längere Zeit unterbleiben.

Hypothese 1: Sven äußert sein störendes Verhalten im Religionsunterricht, um beachtet zu werden.

Hypothese 2: Sven benötigt mehr Beachtung für unterrichtsbezogenes Verhalten, als er im Religionsunterricht erhält.

Hintergrund: Die Beobachtung, dass Sven gegen Ende der Unterrichtsstunde vermehrt ein aggres­sives Verhalten zeigt, lässt die Vermutung zu, dass er die Stunde als zu lang empfindet. Dafür spricht auch, dass die Schüler im BVJ, wie bereits angemerkt, zum ersten Mal in ihrer schulischen Laufbahn regelmäßig Doppelstunden haben.

Hypothese 3: Das Interesse am Unterricht lässt aufgrund der Länge der Doppelstunde mit zuneh­mender Unterrichtsdauer nach.

Hintergrund: Die Tatsache, dass Sven in der Klasse an einem Einzeltisch abgesondert von den anderen sitzt und dass seine Mitschüler sich oft über ihn beschweren, legt die Vermutung nahe, dass Sven in der Klasse isoliert ist.

Hypothese 4: Eine Integration Svens in die Klassengemeinschaft ist nicht gelungen.

Hintergrund: Aufgrund meiner gelegentlichen Beachtung von Svens unterrichtsbezogenen Zwischenrufen wird dieses Verhalten von Sven intermittierend verstärkt.

Hypothese 5: Die Zwischenrufe Svens werden durch mein Verhalten verstärkt.

Hintergrund: Die Vermutung, dass Svens Eltern in erster Linie auf die Defizite von Sven eingehen, sein positives Verhalten aber nicht anerkennen, lässt darauf schließen, dass auf diese Weise das ag­gressive Verhalten von Sven im häuslichen Rahmen verstärkt wird.

Hypothese 6: Das unerwünschte aggressive Verhalten von Sven wird im häuslichen Rahmen positiv verstärkt.

Aufgrund der gemachten Beobachtungen scheint sich eine Hauptursache für Svens Verhalten herauszukristallisieren. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen: Sven erhält im Religionsunterricht, wie auch zu Hause, zu wenig Bestätigung für angemessenes Verhalten. Durch die Antizipation von für Sven positiven Verhaltensfolgen auf gezeigtes aggressives Verhalten nimmt die Tendenz zu aggressivem Verhalten zu und generalisiert sich auf eine Vielzahl von Situationen (Klassenfahrt, Schule insgesamt etc.).

 

Erfassung der Schülersicht

Grundlegend für den Vollzug dieses Schrittes, bei dem der Schüler zum ersten Mal im Rahmen des Interventionsprogramms gefordert wird, ist der Erwerb der Interventionsberechtigung.

Im Anschluss an die Klassenfahrt und die darauffolgende Beobachtungsstunde habe ich nicht das Gefühl, dass ich im Sinne der angestrebten Intervention interventionsberechtigt bin. Sven verhält sich mir gegenüber skeptisch und zurückweisend. Eine echte Dialogbereitschaft als Voraussetzung für die Durchführung des entworfenen Modifikationsprogramms ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht gegeben.

"Der Pädagoge muss sich auf die Begegnung mit den Jugendlichen einlassen, nicht passiv-ab­wartend, sondern bewusst agierend und handelnd. (...) Der Pädagoge muss in einen Dialog mit den Jugendlichen eintreten."iv]

Das bedeutet auch, dass der Pädagoge sich ein Stück auf die Lebenswelt des Jugendlichen einlas­sen muss.

"Jede Maßnahme, die wir ergreifen, was wir tun und was wir sind in der Begegnung mit dem anderen, das wird von ihm als 'zu seiner Welt gehörig' in besonderer Weise 'gelebt' und erhält die Eigentümlichkeiten eines Stückes eben dieser Welt."v]

Ich beschließe, mich mehr als bisher auf die Begegnung mit Sven einzulassen und in einen echten Dialog mit ihm einzutreten - es zu einer wirklichen Subjekt-Subjekt-Begegnung kommen zu lassen.

Kommentar: An dieser Stelle wird deutlich, dass eine individuelle kooperative verhaltensmodifikatorische Intervention nur erfolgreich durchgeführt werden kann, wenn man den Schüler intensiver betreut, als es im Klassenverband möglich ist

Im Anschluss an die der Beobachtungsstunde folgenden Doppelstunde, in der sich Sven wie beschrieben verhielt, bitte ich ihn zu mir. Er kommt und sagt, dass er davon ausgehe, dass ich ihn jetzt "anmachen" wolle, wir ihn aber "alle mal könnten". Ich gehe nicht auf diese Äußerung ein und erzähle ihm, dass ich ein Problem mit der Eingabe eines bestimmten Programms in den Computer habe und glaube, dass er der Richtige sei, der mir dabei helfen könne.

Kommentar: In einer religionspädagogischen Zeitschrift war ein Spielprogramm zum Thema 'Dritte Welt' abgedruckt, dass ich bereits seit längerer Zeit eingeben und dann ausprobieren wollte. Aller­dings schreckte ich bis dahin vor der geforderten Genauigkeit bei der Eingabe zurück.

Sven schaut mich zunächst ganz entgeistert an, willigt dann aber ein. Wir verabreden uns am Ende des nächsten Schultages vor dem Computerraum der Schule. Als ich an dem Tag dorthin komme, ist Sven schon da. Ich erkläre ihm mein Problem bei der Eingabe des Programms in den Computer und wir beschließen, das Programm gemeinsam abwechselnd einzugeben. Dazu treffen wir uns in den folgenden drei Wochen insgesamt sechsmal. In dieser Zeit kommt es immer wieder zu Situa­tionen, in denen Sven sich ein wenig öffnet und mir von seinen Problemen mit seinem Stiefvater berichtet.

Kommentar: Sven leidet sehr darunter, dass seine Schwester (leibliches Kind seiner Mutter und seines Stiefvaters) an vielen Stellen bevorzugt wird. Er meint, dass seine Mutter nur noch seine Schwester möge.

Abschließend probieren wir das Programm aus und stellen begeistert fest, dass es funktioniert, wir also keinen Fehler gemacht haben. Ich lade Sven daraufhin zum Essen ein. Bei dieser Gelegenheit danke ich ihm noch einmal für seine Mithilfe und erzähle ihm, dass ich es ohne seine Hilfe nie geschafft hätte. Sven sagt daraufhin stolz, dass er nie gedacht habe, dass er ein echtes Programm eingeben könne.

Kommentar: "In jedem Menschen gibt es innere Kräfte, die größer sind, als er glaubt; ein jeder kann mehr erreichen, als er denkt. Diese Kräfte mögen manchmal sehr gering sein, aber es ist unsere Pflicht, dem Kinde zu beweisen, dass in ihm Kräfte vorhanden sind und dass es fähig ist, sie zu aktivieren und auszunutzen. Wir können dies nur in einem konsequenten und sich meist lange hinziehenden Prozess erreichen, in dem wir das Kind in Situationen hineinstellen, die ihm die Möglichkeit geben, wieder und wieder Erfolge zu erleben."6

Während des Essens spreche ich Sven auf sein Verhalten im Religionsunterrichtes an. Sven reagiert darauf zunächst mit sehr viel Zurückweisung. Erst als ich ihm klarmache, dass es nicht darum gehe, ihn "anzumachen", wird er offener. Er berichtet, dass er oft einfach "ausrasten" würde und er auch nicht wisse, warum. Manchmal sei er in der Schule auch schlecht gelaunt und wütend darüber, dass die anderen Schüler immer besser seien und besser behandelt würden als er. "Die stehen dann im­mer besser da, und die Lehrer labern einen dann auch noch damit voll." Zu Hause sei es ähnlich. Seine Eltern würden ihn oft an seiner Schwester messen und ihm dann immer sagen, dass er sich an ihr ein Beispiel nehmen solle. Dann bekäme er wieder schlechte Laune und das sei dann oft der Grund für sein "Ausrasten". Sven berichtet weiter, dass er früher oft von seinen Mitschülern wegen seiner schlechten Leistungen in der Schule gehänselt worden sei. Er habe sich das aber irgendwann nicht mehr gefallen lassen und dann auch mal ordentlich zugeschlagen. Er habe in seiner jetzigen Klasse das Gefühl, dass die meisten gegen ihn seien, weil er sowieso 'nichts bringen würde'.

Kommentar: Ich vermute, dass bei Sven die zuletzt gemachte Äußerung auf gewohnheitsmäßige Denkstrukturen hinweist, die verhaltenssteuernd wirksam sind. Die Hilfe bei der Erstellung des Computerprogramms stellt in diesem Fall eine günstige Voraussetzung dar, Sven die Art seiner irrationalen Überzeugung bewusst zu machen. Hier geht es darum, ihm seine Qualitäten vermehrt aufzuzeigen und so auf eine Motiveränderungviihinzuwirken.

Die plötzliche große Offenheit Svens überrascht mich und signalisiert mir, dass Sven Vertrauen zu mir entwickelt hat. Diese Vertrauen stellt eine unabdingbare Voraussetzung für eine verhaltensmodifikatorische Vorgehensweise in kooperativer Form dar.

 

Erfassung der gemeinsamen Sicht

Während unseres Gespräches stelle ich Sven meine Wahrnehmungen bezüglich seines Verhaltens vor. Ich berichte, dass ich mich im Unterricht durch ihn oft gestört fühle, ich aber auch den Eindruck habe, dass Sven viel mehr könne, als er im Unterricht zeige. Dabei hebe ich nochmal seine Hilfe am Computer hervor. Sven erwidert, dass er das Gefühl habe, in der Schule oft zu versagen und dass er deswegen von den anderen Schülern gemieden werde. Auf meine Frage, ob er nicht meine, dass das Verhalten der Mitschüler ihm gegenüber auf seine Aggressivität zurückzuführen sei, wider­spricht Sven und wiederholt, dass er den Grund für seine Außenseiterposition in seinen schlechten Leistungen sehe. Allerdings gibt er zu, ab und zu "auszurasten". Im weiteren Gespräch erzähle ich Sven, dass ich vermute, dass ich ihn im Unterricht nicht genug für angemessenes Verhalten lobe. Diese Problemsicht wird von Sven recht spontan indirekt bestätigt. Er gibt an, sich für die Themen des Religionsunterrichtes zu interessieren. Allerdings störe es ihn, dass ich seine Beteiligung zu selten berücksichtige. Ich bestätige diese Sicht, merkte allerdings an, dass mich seine Zwischenrufe stören und ich das Gefühl habe, dass Sven meine, dass, je lauter er in den Unterricht hineinrufe, desto größer die Wahrscheinlichkeit sei, gehört zu werden. Ich sage ihm, dass ich mir wünsche, dass Sven sich melde, wenn er etwas sagen wolle. Sven merkt an, dass er mit zunehmendem Unterricht das Interesse verliere, weil er meine, dass ich eine schlechte Meinung von seinen Leistungen habe. Meine Frage, ob Sven die Doppelstunde zu lang sei, verneint Sven. Als ich ihm sein verstärktes Stören durch aggressives Verhalten zum Unterrichtsende als Grund für meine Vermutung nenne, wiederholt er, dass er zum Schluss der Stunde verstärkt das Gefühl habe, dass ich wenig Interesse an seinen Unterrichtsbeiträgen habe und er dann keine Lust mehr habe, sich zu beteiligen. Ab­schließend sprechen wir über Svens Situation zu Hause. Im Gespräch wird deutlich, dass hier die Hauptursache für Svens Verhalten zu liegen scheint. Sven betont nochmals sein Gefühl, dort keine Rolle zu spielen und sich deshalb häufig überflüssig vorzukommen. Er gibt an, dass seine Eltern nur seine schlechten Seiten sehen würden.

Kommentar: An dieser Stelle wird deutlich, dass die angestrebte Intervention im Religionsunterricht auf die Mitarbeit der Eltern von Sven angewiesen ist. Ohne diese Zusammenarbeit scheinen mir die Bedingungen im Elternhaus eine Veränderung von Svens Verhalten unmöglich zu machen. Ich gehe dabei davon aus, dass Svens Eltern maßgeblich am Entstehen und Aufrechterhalten seiner Verhal­tensstörungen beteiligt sind. Die Ziele einer anzustrebenden Zusammenarbeit liegen für mich darin, die Eltern zum Hinterfragen ihres Verhalten in bezug auf Sven anzuregen und Verhaltensstörungen Svens, die ihre Ursache im Elternverhalten haben, abzubauen.

Die Frage, ob Sven schon einmal versucht habe, mit seinen Eltern über seine Gefühle und Wahr­nehmungen zu sprechen, verneint Sven. Meinem Vorschlag, gemeinsam mit seinen Eltern über die Situation im Elternhaus zu sprechen, steht er skeptisch gegenüber. Er hat wenig Hoffnung, dass es wirklich etwas bewirken könnte. Allerdings hat er nichts dagegen, es zu versuchen. Abschließend beschließen wir, gemeinsam etwas zur Veränderung seiner Situation in der Schule und zu Hause zu unternehmen.

Das Gespräch mit Svens Eltern findet eine knappe Woche später bei seinen Eltern zu Hause statt. Bei der Verabredung des Termins bin ich nicht auf das genauere Problem eingegangen. Der Vater begrüßt mich schon mit einem negativen Kommentar über Svens Verhalten. Zu Beginn des Gesprächs mache ich deutlich, dass ich nicht gekommen sei, um mich über Svens Verhalten zu beschweren. Ich berichte, dass Sven mir in der Schule am Computer geholfen habe. Wir sprechen dann sehr lange über Svens Verhalten zu Hause. Dabei wiederholt Svens Mutter ihre Schwierig­keiten mit Svens Verhalten. Svens Vater hält sich dabei zurück. Im Anschluss daran beschreibe ich die Sicht des Problems, wie Sven und ich sie bei unserem gemeinsamen Gespräch erörtert haben. Sven beschreibt nun sehr ausführlich seine mir bereits bekannten Gefühle in bezug auf sein Zu­hause. Er wirft seiner Mutter dabei vor, sich je nach Stimmung sehr unterschiedlich ihm gegenüber zu verhalten. Er wünscht sich, dass sein Vater ab und zu zu ihm halte. Die Beschreibung löst vor allem bei Svens Mutter Betroffenheit aus. Sie äußert, dass sie Sven sehr mag und sie garnicht verstehe, dass er so über sie denke. Sie gesteht allerdings ein, dass sie Sven dieses nur gelegentlich sagen würde und ihn auch wegen seiner schroffen Art manchmal zurückweise. In einer weiteren, längeren Gesprächsphase, in der die Mutter mich mehrmals fragt, was zu tun sei, schlage ich vor, gemeinsam mit Sven nach Lösungen des Problems zu suchen. Svens Mutter willigt spontan ein, während sein Vater angibt, dass er nicht glaube, dass Sven sich ändere und es für ihn überhaupt schwierig sei, ihm zu helfen, da er die ganze Woche über arbeite. Abschließend verabreden Sven, seine Mutter und ich, uns eine Woche später in der Schule zu treffen und gemeinsam nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen.

Kommentar: Am Ende des Gesprächs bin ich froh, dass es gelungen ist, Svens Mutter von der Notwendigkeit einer gemeinsamen Lösung von Svens Problemen zu überzeugen. Allerdings habe ich auch die Vermutung, dass Svens Vater die Probleme Svens nicht verstanden hat. Er sieht die Ursachen für dessen Verhalten allein bei ihm.

Bei der Erfassung einer gemeinsamen Problemsicht bestätigt Sven weitestgehend die von mir auf­gestellten Hypothesen 1, 2, 4 und 6. Die Hypothese 3 findet keine Bestätigung und wird in den weiteren Betrachtungen vernachlässigt. Bei Berücksichtigung der Sicht der Mutter findet Hypothese 5 Bestätigung. Allerdings ist aufgrund weiterer Hintergrundinformationen durch das Gespräch mit Sven und seinen Eltern eine Differenzierung notwendig, die in folgenden Hypothesen Ausdruck fin­den:

Hypothese 7: Sven erfährt durch seine Eltern eine viel geringere Wertschätzung, als er benötigt. Da ihm weder elterliche Nähe noch affektive Wärme zuteil werden, hat er ein unter­entwickeltes Selbstbewusstsein und nur begrenzte Fähigkeiten, positive Gefühlsbeziehungen zu anderen aufzubauen. 

Hypothese 8: Das Verhalten von Svens Mutter ist durch Unsicherheit und Ambivalenz gekenn­zeichnet, und dadurch wird es Sven unmöglich, die Erwartungen seiner Mutter zu erkennen und einzuschätzen.

Hypothese 9: Sven wird affektiv, besonders von seinem Vater, vernachlässigt. Hier liegt ein entscheidender Grund für seine Aggressionen.

 

Zielbestimmung und Festlegung der Erfolgskontrolle 

Wie besprochen, treffen Sven, seine Mutter und ich eine Woche später in der Schule zusammen. Ich schlage vor, dass jeder von uns kurz benennt, was er sich in bezug auf Svens Verhalten, in be­zug auf das Verhalten von Svens Mutter und in bezug auf mein Verhalten wünscht.

Kommentar: In dieser Phase habe ich Svens Vater bewusst nicht genannt, weil er sich nicht an der Intervention beteiligt.

Sven wünscht sich,

  • dass seine Mutter nicht mehr so schlecht über ihn denkt,
  • dass seine Mutter ihn mehr gegenüber seinem Vater unterstützt,
  • dass seine Mutter ihre Stimmungen nicht an ihm auslässt,
  • dass ich ihn im Unterricht mehr berücksichtige.

 

Weiterhin wünscht sich Sven, dass seine Mitschüler ihn akzeptieren.

Svens Mutter wünscht sich,

  • dass Sven sich ihr gegenüber nicht so aggressiv verhält,
  • dass Sven ihr glaubt, dass sie ihn mag.

 

Ich wünsche mir,

  • dass Sven den Unterricht nicht mehr stört,
  • dass Sven seine Mitschüler nicht mehr provoziert oder sie schlägt,
  • dass ich angemessenes unterrichtsbezogenes Verhalten von Sven mehr beachte.


Aus diesen Wünschen entwickeln wir im anschließenden Gespräch die folgenden gemeinsamen Ziele, die von allen als verbindlich akzeptiert werden:

  1. Im Religionsunterricht beachte ich nur Svens unterrichtsbezogenes Verhalten, dass er durch Meldung signalisiert.
  2. Sven provoziert oder schlägt seine Mitschüler nicht.
  3. Sven und seine Mutter bemühen sich, offen miteinander zu reden, ihre Wünsche und Anliegen offen auszudrücken und miteinander zu klären und für Probleme eine befriedigende Lösung zu fin­den.
  4. Sven und ich arbeiten darauf hin, dass Sven in der Klasse mehr als bisher akzeptiert wird.


Im weiteren Gespräch stelle ich Sven und seiner Mutter die von mir entworfenen Hypothesen in angemessener Weise vor.

Kommentar: Ich bemühe mich, die Unterhaltung so zu steuern, dass sie eine bedürfnis- oder pro­blembezogene Ausrichtung erhält. An vielen Stellen ermutige ich Sven und seine Mutter mitzudenken und die einzelnen Mitteilungen zueinander in Beziehungen zu setzen. Die Hypothesen bringe ich dabei nicht direkt ein, sondern z.B. in Form von folgender Frage: "Kann es sein, dass Sven viel mehr Zuwendung benötigt, als Sie vermuten?"

Zum Teil werden dadurch im vorherigen wie im aktuellen Gespräch angesprochene Schwerpunkte wiederholt. Zu einem intensiven Austausch kommt es über die Hypothesen, die sich auf das Ver­halten von Svens Eltern beziehen (7,8,9). Ich mache Svens Mutter dabei deutlich, dass es nicht darum gehe, den Eltern Schuld zuzuweisen, sondern vielmehr darum, bei uns allen die Bedingungen für Svens Verhalten zu suchen. Dabei seien wir alle (Lehrer, Eltern, Mitschüler, Sven) am Verhalten Svens beteiligt und daher auch alle für eine Änderung verantwortlich.

Kommentar: In dieser Phase des Gespräches stellt es sich für mich als entscheidend dar, dass es gelingt, Svens Mutter emotional zu entlasten und so für eine erfolgreiche Fortführung der Interven­tion zu sorgen.

Für den folgenden Gesprächsabschnitt schlage ich vor, die im vorausgegangenen und aktuellen Gespräch gewonnen Erkenntnisse und die gemeinsam beschriebenen Ziele in praktikable Hand­lungsschritte umzusetzen. Gemeinsam werden folgende Ziele vereinbart:


Das Gefühl Svens im Religionsunterricht, zu wenig Beachtung für unterrichtsbezogenes Verhalten zu erhalten, wird dadurch abgebaut, dass

  • ich jede Meldung Svens berücksichtige (Zielwert: zwei Nichtberücksichtigungen pro Doppel­stunde),
  • Sven durch Melden signalisiert, dass er etwas zum Unterricht beitragen möchte (Zielwert: sechs Meldungen pro Doppelstunde),
  • ich Zwischenrufe von Sven nicht berücksichtige (Zielwert: keine Berücksichtigung pro Doppel­stunde),
  • Sven den Unterricht nicht durch Zwischenrufe stört (Zielwert: zwei Zwischenrufe pro Doppel­stunde).


Störungen durch rücksichtsloses Verhalten von Sven im Religionsunterricht sollen dadurch abge­baut werden, dass

  • aggressives Verhalten von Sven von mir nicht beachtet wird (Zielwert: keine Beachtung pro Dop­pelstunde),
  • Sven den Unterricht nicht mehr dadurch stört, dass er seine Mitschüler provoziert oder schlägt (Zielwert: eine Störung dieser Art pro Doppelstunde).


Kommentar: Durch die Verbindung zwischen der Belohnung konstruktiven Unterrichtsverhaltens und der konsequenten Zurückhalten von Belohnungen für aggressives Verhalten soll das schädi­gende Verhalten Svens erfolgreich modifiziert werden.


Das Verhältnis zwischen Sven und seiner Mutter soll dadurch entspannt werden, dass

  • Svens Mutter ihre Erziehungsziele und ihr konkretes Erziehungsverhalten in Beziehung setzt und Diskrepanzen aufdeckt,
  • Sven seiner Mutter mitteilt, wenn er meint, dass sie sich unangemessen ihm gegenüber verhalte (Sven begründet dabei seine Meinung),
  • Svens Mutter Sven mitteilt, wenn sie meint, dass sich Sven unangemessen ihr gegenüber verhalte (Svens Mutter begründet dabei ihre Meinung),
  • Sven sich in die Situation seiner Mutter versetzt,
  • Svens Mutter sich in die Situation von Sven versetzt.

Abschließend besprechen wir, auf welche Weise die Erfolgskontrolle stattfinden soll. Ich schlage aufgrund der hohen Motivationsfunktion dazu vor, dass Sven sein Verhalten während des Religi­onsunterrichtes in einem Selbstbeobachtungsbogen festhält. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass massiv-störendes Verhalten sogar bei jüngeren Kindern aufgrund selbstbe­stimmter Verstärkung auf der Basis von Selbstbeobachtungsdaten ebenso effektiv reduziert werden kann wie durch Fremdverstärkung aufgrund externer Beobachtung und Beurteilung. Sven stimmt diesem Vorschlag nach genaueren Erläuterungen zu. Ich sage ihm, dass auch ich unsere Ziele in bezug auf mein Verhalten in einem Selbstbeobachtungsbogen festhalten werde. Der ge­meinsam erstellte Selbstbeobachtungsbogen für Sven sieht wie folgt aus:

 

Selbstbeobachtungsbogen   

Datum

Ich melde mich, wenn ich etwas sagen möchte

Ich rufe dazwischen, wenn ich etwas sagen möchte

Ich ärgere oder schlage meine Mitschüler

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb.22

 

Später entwickle ich dann den folgenden Selbstbeobachtungsbogen für mich:

Datum

Ich lasse eine Meldung von Sven unberücksichtigt

Ich berücksichtige einen Zwischenruf von Sven.

Ich berücksichtige eine Störung von Sven

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. 23


Für die Intervention im Religionsunterricht vereinbaren Sven und ich einen Zeitraum von acht Wochen. Einen genauen Interventionsplan für den Religionsunterricht wollen wir eine Woche später erstellen. Anschließend frage ich Sven, was er sich wünsche, wenn die Intervention erfolgreich verlaufe. Sven möchte für diesen Fall gemeinsam mit der Klasse etwas unternehmen.

Kommentar: Dieser Vorschlag verblüfft mich, stellt aber eine ausgesprochen günstige Voraus­setzung dar, um die Klasse in die Modifikation miteinzubeziehen. Die Gefahr, dass Schüler das Verhalten Svens als Modell ansehen, Anlässe für besondere Belohnungen eines einzelnen zu schaffen, ist so abgewendet.

Ich frage Sven, was er davon halte, wenn wir nach erfolgreicher Modifikation einen Grillabend bei mir zu Hause veranstalten würden. Sven akzeptiert diesen Vorschlag.

Um das Erreichen der gewünschten Entspannung im Verhältnis zwischen Sven und seiner Mutter zu überprüfen, biete ich an, dass wir uns vierzehntägig gemeinsam treffen und uns über die Er­reichung der gesetzten Ziele austauschen. Sven und seine Mutter sind dazu bereit.

Kommentar: Der Beratung von Sven und seiner Mutter kommt als Bestandteil des Modifikati­onsprozesses besondere Bedeutung zu. Die Orientierung an den individuellen Problembereichen von Sven und seiner Mutter und an deren Verflochtenheit mit Situationen und Personen werden hier maßgebend für das konkrete Vorgehen.

 

Erstellung eines Interventionsplanes

Vorüberlegungen

Vor der Erstellung eines Interventionsplanes sind die folgenden lerntheoretischen Gesetzmäßig­keiten zu berücksichtigen: Als grundlegend für eine erfolgreiche Intervention erachte ich, wie be­reits angedeutet, den Aufbau von inkompatiblem prosozialen Verhalten. Zeigt Sven prosoziales Verhalten, so wird dieses durch kontinuierliche positive Bestätigung ausgeformt und später durch gelegentliche, intermittierende Verstärkung aufrechterhalten und gegen Löschung gesichert. Im Sinne der differentiellen Verstärkung inkompatibler Verhaltensweisen wird das prosoziale Verhalten verstärkt, während das aggressive Verhalten im Unterricht ignoriert wird. Um prosoziales Verhalten bei Sven aufzubauen, ist es im Rahmen des Religionsunterrichtes notwendig, neue, im Verhaltens­repertoire von Sven bislang nicht vorhandene Verhaltensweisen durch Verhaltensformung aufzubauen.

"Beim Aufbau sozialer Fertigkeiten werden erstmals neue Verhaltensformen modelliert. Gewaltlose Methoden, mit  Widersachern umzugehen, können durch Rollenspiele, die alltägliche Erfahrungen simulieren, effektiv demonstriert  werden."viii]

Videoaufnahmen (Modellernen) können in diesem Zusammenhang eine ähnliche Funktion einnehmen.

Die im Rahmen der differentiellen Verstärkung angewandte Löschungsmethode (aggressives Verhal­ten wird ignoriert) setzt voraus, dass sowohl kontinuierliche als auch intermittierende Verstärkung unterbleibt, wenn Sven aggressives Verhalten zeigt. Die Anwendung der Löschungsmethode ist jedoch im Klassenrahmen mit Schwierigkeiten verbunden. Eine systematische Löschung scheint kaum praktikabel, da die von Sven gezeigten Aggressionen, wenn auch nicht von mir, dann sicher von den Mitschülern Verstärkung erfahren. Damit ist das Prinzip der Nichtbeachtung durchbrochen. An dieser Stelle sind im Interventionsvollzug Schwierigkeiten zu erwarten.

Um Svens Verhalten im Religionsunterricht in gewünschter Weise zu beeinflussen, erachte ich es als unumgänglich, dass ich ihm bestimmte Verhaltenshilfen gebe. Dabei stelle ich mir vor, dass, wenn Sven anfängt, unerwünschtes Verhalten zu zeigen, ich ihm ein bestimmtes Zeichen gebe.

 

Konkretion der Intervention im Religionsunterricht

Wie verabredet, treffen Sven und ich uns eine knappe Woche später, um die für die folgenden acht Wochen geplante Intervention zu besprechen. Wir einigen uns dabei auf folgende Vorgehensweise:

Sven und ich bemühen uns, die gemeinsam festgelegten Zielwerte zu erreichen. Wir tragen die Selbstbeobachtungsergebnisse während der Stunde in die Selbstbeobachtungsbögen ein. Jeder entscheidet selbst, ob ein Regelverstoß vorliegt oder nicht. Am Ende des Schultages besprechen wir kurz die Ergebnisse. Damit Sven dadurch nicht später nach Hause kommt, nehme ich ihn mit dem Auto mit.

Für den Unterricht verabreden wir, dass ich Sven durch eine Geste (kurzes Kopfschütteln) signa­lisiere, wenn ich merke, dass er anfängt, sich aggressiv zu verhalten. Auf diesem Wege soll Sven eine Verhaltenshilfe erhalten. Verhält Sven sich wie erwünscht, so werde ich dieses Verhalten ver­stärken.

Um die Integration von Sven in die Klasse zu erleichtern, frage ich ihn, ob er bereit sei, mich im Rahmen der Unterrichtseinheit 'Entwicklungshilfe' in zwei Doppelstunden zu unterstützen. In diesen Stunden plane ich, das von uns am Computer programmierte 'Dritte-Welt-Spiel' mit der Klasse am Computer durchzuspielen. Sven nimmt diesen Vorschlag begeistert an.

Kommentar: Das Thema 'Entwicklungshilfe' wurde von den Schülern der Klasse gewählt und steht daher als Thema des Religionsunterrichtes in Svens Klasse bereits fest. Die Entscheidung, das Thema im Stoffverteilungsplan vorzuziehen, soll Sven die Gelegenheit geben, sein in der Program­mierung des Computerspieles gewonnenes Wissen in bezug auf die 'Dritte Welt' im Religionsunter­richt in angemessener Weise anzubringen. Svens Hilfe bei der Durchführung des Computerspiels soll der Klasse und ihm selbst zeigen, dass er eine Bedeutung für die Gruppe hat. Im Rahmen der Unterrichtseinheit soll weiterhin durch Gruppenspiele prosoziales Verhalten bei Sven geformt werden. Ich hoffe, dass auf diese Weise bei Sven ein mit Aggression unvereinbares Verhalten aufgebaut werden kann.

Anschließend besprechen wir, dass ich allen Schülern der Klasse erklären werde, dass das aggressive Verhalten Svens ein Problem für ihn sei und dass daher für ihn eine Sonderregelung getroffen wurde. Diese Sonderregelung wird der Klasse auch mit ihren Konsequenzen (Grillabend) bekanntgegeben.

Den Ärger, den Sven in bezug auf einige Schüler seiner Klasse empfindet, nehme ich zum Anlass, Sven folgenden Vorschlag zu machen: Am Ende jeder Stunde darf jeder Schüler sagen, was ihm am Unterricht und am Verhalten der Mitschüler gefallen oder nicht gefallen hat. Sven erklärt sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden. Aufgrund dieser Gesprächsphase wird die Beobach­tungsphase mit achtzig Minuten festgelegt.

Kommentar: Diese Maßnahme soll den Schülern die Gelegenheit geben, Verärgerung oder Zorn, mit dessen Entladung früher oder später gerechnet werden muss, abzulassen. Sie gibt den Schülern die Gelegenheit, einige unterdrückte Gefühle offen zu erörtern, die andernfalls durch unerwünschtes oder störendes Verhalten zutage treten würden. Der Prozess der Löschung soll so bei Sven (er erfährt keine direkte Verstärkung für aggressives Verhalten durch seine Mitschüler) begünstigt werden. Die Atmosphäre in der Klasse soll durch die Einübung von Kommunikationsfähigkeit und Dialogbereitschaft entspannt werden. Des weiteren soll durch diese Maßnahme die Aufmerksamkeit nicht allein auf das Verhalten von Sven gerichtet werden.

Für meine Rolle in diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass ich eine Diskussion über mein Verhal­ten zulassen kann und damit nicht als 'vollkommene' Person über den Schülern stehe, als einer, der alles weiß und dessen Worte keinen Widerspruch zulassen.

Zum Schluss merke ich an, dass Sven Verständnis dafür haben müsse, dass ich während der Inter­vention die anderen Schüler nicht vernachlässigen dürfe.

 

Intervention und Bewertung

In der darauffolgenden Woche stelle ich der Klasse, wie besprochen, die geplante Intervention vor und erkläre, dass ich mich freuen würde, wenn alle Schüler bei der Durchführung helfen würden. Die Hilfe solle darin liegen, dass alle Schüler, die Dinge, die sie am Unterricht oder an den Mitschülern stören, am Ende der Stunde in einer sogenannten 'Meckersitzung' benennen. Der Vor­schlag kommt bei den Schülern gut an. Im Anschluss erzähle ich den Schülern, dass Sven sich für den Fall, dass wir unsere Ziele erreichen, gewünscht habe, gemeinsam mit der ganzen Klasse bei mir im Garten zu grillen. Ich bemerke, dass ich Svens Idee toll fände. Die Schüler reagieren zunächst mit Verwunderung und drücken dann spontan ihre Begeisterung aus, indem sie auf die Tische klopfen. Sven scheint in diesem Moment sehr zufrieden und stolz zu sein.

In dieser ersten Interventionsstunde konzentriere ich mich mehr als sonst auf Svens Verhalten und bemühe mich, ihn besonders häufig für sein unterrichtsbezogenes Verhalten zu loben. Es kommt allerdings recht häufig zu Situationen, in denen Sven mit seinen Mitschülern aneinandergerät. Posi­tiv ist anzumerken, dass die Zwischenrufe von Sven deutlich zurückgehen und er sich erstmals meldet, wenn er etwas zum Unterricht beitragen möchte. Die Meldungen werden von mir im Unter­richtsgeschehen stark berücksichtigt. Das vereinbarte Zeichensystem bewährt sich. Ich reagiere während dieser Religionsstunde dreimal in abgesprochener Weise und Sven gelingt es jedes mal, sein Verhalten unter Kontrolle zu bringen. Ein Lächeln meinerseits signalisiert Verstärkung. Das Abschlussgespräch am Ende der Stunde bewährt sich in Hinsicht auf die Intervention dadurch, dass Svens Angriffe von den Mitschülern zwar kritisiert werden, Svens Vorschlag allerdings als sehr positiv herausgestellt wird. Zur Besprechung der ersten Interventionsstunde nach Schulschluss treffen Sven und ich uns im Zimmer des Beratungslehrers. Sven berichtet, dass er die Eintragungen in den Selbstbeobachtungsbogen als "nervig" empfunden habe. Ich gebe zu, dass ich ebenfalls Schwierigkeiten habe, stelle aber gleichzeitig fest, dass ich jetzt einen sehr schönen Überblick über mein Verhalten habe und damit zufrieden sei. Sven stimmt dieser Feststellung zu. Ich berichte, dass ich nicht damit zufrieden sei, dass ich zu oft auf Svens Zwischenrufe eingegangen sei, mich aller­dings freue, dass ich alle Meldungen von Sven berücksichtigt habe. Weiterhin erzähle ich, dass ich mich über die Störungen von Sven geärgert habe, allerdings auch das Gefühl habe, dass sie im Ver­gleich zu vorhergehenden Stunden weniger geworden seien. Positiv hebe ich auch hervor, dass Sven im Unterricht weniger als sonst dazwischengerufen und sich stattdessen gemeldet habe. Die Unterrichtsbeiträge bezeichne ich als gut.

Kommentar: Eine wesentliche Zielsetzung für die Gespräche nach Unterrichtsschluss ist für mich, dass ich Sven mit dem Gefühl entlassen will, dass er etwas Positives geschafft hat. Er soll jedes mal die Erkenntnis mit nach Hause nehmen, dass er Fortschritte gemacht hat.

Sven merkt an, dass er es nicht geschafft habe, so wenig wie möglich zu stören. Er lasse sich zu sehr von den Mitschülern reizen. Allerdings freue er sich, dass die Klasse seinen Vorschlag (Grillabend) so positiv aufgenommen habe.

Die folgenden Interventionsstunden laufen in abgesprochener Weise ab. Sven hat wenig Schwierig­keiten, seine spontanen Unterrichtserkenntnisse vermehrt zurückzuhalten und sich stattdessen zu melden. Bereits in der fünften Interventionsstunde liegt die Zahl von Svens Zwischenrufen unter dem angestrebten Zielwert. Die Zahl der Meldungen nimmt, bis auf eine Ausnahme, stetig zu, so dass Sven den angestrebten Zielwert in der siebten Interventionsstunde erreicht. Problematischer gestaltet sich der Interventionserfolg im Bereich des rücksichtslosen Verhaltens gegenüber seinen Mitschülern. In der zweiten Interventionsstunde kommt es zu mehreren starken Auseinander­setzungen zwischen Sven und seinen Mitschülern, die allesamt von Sven ausgehen. Ich versuche in dieser Stunde mehrmals, die Mitschüler zu motivieren, ihre Kritik an Sven während des Unterrichtes zurückzuhalten und erst am Unterrichtsende darauf einzugehen.

Kommentar: Das Zurückhalten der Kritik bis zum Unterrichtsende soll die Löschung von Svens aggressiven Verhalten begünstigen.

Während dieser Doppelstunde habe ich besondere Schwierigkeiten mit der Nichtbeachtung von Svens aggressivem Verhalten. In der 'Meckersitzung' wird Sven von seinen Mitschülern massiv kri­tisiert. Im Nachgespräch am selben Tag spreche ich Sven auf sein Verhalten an. Er berichtet, dass er auch nicht wisse, warum er so gereizt sei. Gemeinsam schauen wir uns anschließend unsere Beo­bachtungsergebnisse an, und ich lobe Sven dafür, dass er sich in dieser Stunde häufiger gemeldet hat als in der letzten. Auf der Heimfahrt berichtet Sven, dass seine Eltern sich seinetwegen total "gezofft" hätten. Sein Vater habe gesagt, dass es sowieso keinen Sinn habe mit ihm. Ich sage ihm, dass ich an ihn glaube und dass dieses sich ja auch im Religionsunterricht zeigen würde. Außerdem dürfe er jetzt nicht aufgeben, denn ich brauche ihn in der übernächsten Woche im Unterricht. Sven lächelt und ich bin froh, dass Sven zu motivieren ist, weiterzumachen.

Kommentar: Der Konflikt der Eltern scheint der Auslöser für Svens Verhalten zu sein. Eine Thema­tisierung in der Beratung scheint mir in diesem Moment notwendig.

Vor der vierten Interventionsstunde kommt Sven sehr aufgeregt zu mir und berichtet, dass er Lampenfieber habe. Ich beruhige ihn und sage, dass er mir bewiesen habe, dass er mit Computern umgehen könne und ich auf seine Mithilfe nicht verzichten könne. Im Religionsunterricht bilde ich zwei Gruppen, die jeweils an einem Computer gemeinsam das Dritte-Welt-Spiel durchspielen sollen. Eine Gruppe wird von Sven betreut und die andere von mir. Bei der Gruppeneinteilung achte ich da­rauf, dass Schüler, die häufig mit Sven aneinandergeraten, in meiner Gruppe sind. Das Spiel dauert etwa dreißig Minuten. Anschließend tauschen wir die Ergebnisse aus. Die Unterrichtsstunde verläuft wie geplant. Sven gerät nur zweimal mit seinen Mitschülern aneinander und erhält am Computer viel Bestätigung. In unserer 'Meckersitzung' hebe ich noch einmal Svens Hilfe bei der Programmerstellung hervor. Von den Mitschülern erhält Sven ebenfalls viel Anerkennung. Bei un­serem abschließenden Gespräch am Ende des Unterrichtstages lobe ich Sven erneut. Er scheint sehr froh und stolz zu sein. Er berichtet mir, dass einige Mitschüler ihn in der Pause angesprochen und Fragen zu Computern gestellt hätten.

In den nächsten Wochen verbessert sich Svens Verhalten zusehends. Die Störungen durch rück­sichtsloses Verhalten nehmen ab und Sven erhält zunehmend Bestätigung in der Klasse. Die Verhal­tenshilfen in Form der gestischen Zeichen werden von mir ab der fünften Interventionsstunde lang­sam ausgeblendet. Ich habe in dieser Stunde das Gefühl, dass Sven sein Verhalten zunehmend unter seine eigene Kontrolle bringt. Nach der fünften Unterrichtsstunde hebt ein Mitschüler von sich aus hervor, dass Sven nicht mehr so "nervig" sei und man mit ihm besser reden könne.

Das Thema 'Entwicklungshilfe' wird in der Klasse in angemessener Weise behandelt. Sven hat im­mer wieder die Möglichkeit, Informationen, die er bei der Programmierung des Spiels erhalten hat, einzubringen. Für die achte und letzte Interventionsstunde habe ich ein Spiel von 'Brot für die Welt' ('Das Spiel der Großen im Kleinen') vorgesehen.

Kommentar: Bei diesem Spiel werden zwei Gruppen im Verhältnis 1:2 gebildet. Die Gruppen sitzen sich gegenüber. Die größere Gruppe erhält eine abgeschlossene Holzkassette, in der sich abgebro­chene Bleistifte befinden. Weiterhin erhält die Gruppe mehrere (1/3 der Gesamtzahl) kleinere Zettel.

Die kleinere Gruppe erhält den Schlüssel zur Holzkassette, zwei Bleistiftanspitzer und mehrere (2/3 der Gesamtzahl) kleine Zettel.

Gewonnen hat die Gruppe, von der jedes Mitglied dem Spielleiter das kleine Blatt Papier mit dem Satz 'Wir haben Arbeit und Brot' gibt.

Bei der Gruppeneinteilung achte ich darauf, dass Sven in die kleinere Gruppe kommt. Auf diese Weise möchte ich Sven zu einem stärkeren Engagement herausfordern.

Interessant ist bei der Durchführung des Spiels, dass beide Gruppen zunächst versuchen zu gewin­nen, was bei dem Spiel nur gemeinsam möglich ist. Es kommt immer wieder zu kleineren verbalen Beschimpfungen, an denen Sven sich nicht mehr als seine Mitschüler beteiligt. Sven engagiert sich während des Spiels mit einem Mitschüler sehr für seine Gruppe. Nach einiger Zeit stellen die Schüler fest, dass das Problem nur gemeinsam zu lösen ist, und so wird dann auch verfahren. Im anschließenden Gespräch schildere ich meine Beobachtungen, erzähle, was mir negativ und positiv am Verhalten der Schüler aufgefallen ist. Sven erhält in dieser Runde ausnahmslos positive Kri­tik.

Kommentar: Mit dieser Runde beabsichtige ich, Sven deutlich zu machen, dass andere zum Teil negativer als er aufgefallen sind.

Im Gespräch nach Unterrichtsschluss werten wir die Gesamtintervention aus. Sven erklärt mir, dass ihm die acht Wochen Spaß gemacht hätten und er richtig froh sei, das er es "gepackt" habe. Ich gehe mit ihm meinen Beobachtungsbogen durch und weise darauf hin, dass ich es immer noch nicht geschafft habe, nicht auf alle seiner Zwischenrufe einzugehen und er insofern viel bessere Ergeb­nisse erreicht habe als ich. Für die nächste Unterrichtsstunde beschließen wir, den gemeinsamen Grillabend zu planen.

Insgesamt bin ich mit meinem Verhalten während der Intervention zufrieden. Die Erfahrung, dass ich in der Lage bin, das von Sven ausgehende aggressive Verhalten mehr und mehr zu ignorieren, ist für mich ein bedeutsamer Fortschritt, den es in anderen Klassen in ähnlichen Situationen auf­rechtzuerhalten gilt. Die Konzentration auf das Verhalten von Sven lässt im Laufe der Intervention nach. Dieses liegt auch daran, dass sich Sven mit zunehmender Intervention angemessener verhält.

Wesentlich anzumerken ist, dass die Intervention ohne die parallel geführten Beratungsgespräche nicht in der beschrieben Weise durchführbar gewesen wäre. Während der Interventionsphase kommt es zu vier Treffen von Sven, Svens Mutter und mir. Während der ersten beiden Treffen bemühe ich mich, die verschiedenen und gemeinsamen Sichtweisen von Sven und seiner Mutter zu den jeweilig von ihnen angesprochenen Problembereichen zu erheben. Dabei lege ich einen Schwerpunkt auf das Beobachten der nonverbalen Kommunikation, also auf Signale die darauf hinweisen, dass eine Aussage akzeptiert, abgelehnt oder anders gesehen wird. Als besonderes Problem zeigt sich bereits in diesen beiden Sitzungen, dass Svens Mutter das Bedürfnis Svens, Zuneigung von ihr zu erhalten, stark unterschätzt. Im Gespräch beteuert Svens Mutter mehrmals, dass sie Sven sehr gern habe und Sven erwidert ebenso oft, dass er dieses nicht spüre. Er merke nur, dass seine Mutter seine Schwester möge. Um eine genaue Wahrnehmung der Aussagen des jeweils anderen zu ermöglichen, setze ich in dieser Phase den kontrollierten Dialog als Methode an ver­schiedenen Stellen ein. Die Diskrepanz zwischen den Gefühlen der Mutter und ihrem Verhalten stellt sich als zentrales Problem in der Beziehung zwischen Sven und seiner Mutter dar.

Kommentar: "Die Änderungen im Klienten treten wesentlich aufgrund seiner Auseinandersetzung mit seinem Selbst ein. Dies löst gewisse Folgevorgänge aus, so u.a. Änderungen seines Selbst­konzeptes, größere Selbstachtung, größeres Funktionieren der eigenen Person, engeren Kontakt mit seinem Fühlen, günstigere Informationsaufgabe und
-verwertung."
ixDieser Prozess der Selbstexplo­ration wird mir in dieser Phase der Beratung in besonderer Weise deutlich.

Die bei der gemeinsam formulierten Zielbestimmung abgesprochenen Handlungsziele werden nun modifiziert. Die gegenseitige Mitteilung, dass Svens Mutter ihn mag bzw. ob Sven sich genug von seiner Mutter gemocht fühlt, sollen in den nächsten Wochen für ihr Miteinander-Umgehen be­deutsam werden. In nachfolgenden Treffen beschreibt Svens Mutter Veränderungen, die sie an sich erlebt. Sie führt diese weniger auf neue Verhaltensweisen oder Einsichten zurück, sondern beschreibt sie als einen neuen Prozess. Diesen Prozeß führt sie im wesentlichen auf unsere gemein­samen Gespräche zurück.

Kommentar: Die Hervorhebung des Aspekts der Eigenaktivität von Svens Mutter nimmt an dieser Stelle für meine Beratungstätigkeit eine zentrale Rolle ein.

In den folgenden Wochen berichten Sven und seine Mutter freudig und stolz von den Veränderun­gen in ihrer Beziehung. Ich unterstütze diese Wahrnehmung, indem ich sie im weiteren Gespräch mehrmals hervorhebe.

Die Beziehung zwischen Sven und seinem Vater erweist sich in den darauffolgenden Gesprächen als besonders problematisch. Es wird deutlich, dass Sven von seinem Vater in den letzten Jahren kaum positive Zuwendung erhalten hat. Sven beschreibt seinen Vater als einen Menschen, der ihn ständig kritisieren, tadeln und demütigen würde.

Kommentar: Hier wird mir deutlich, dass die Intervention an ihre Grenze stößt. Durch die mangelnde Bereitschaft des Vaters, sich an der Intervention zu beteiligen, ist eine familiäre Situations­veränderung nur ansatzweise möglich. Die Schwierigkeit einer Intervention unter solchen Bedin­gungen wird dann besonders deutlich, wenn man Familie versteht "als offenes soziales System mit sich einander ergänzenden Beziehungen aller Mitglieder. Es äußert sich in den Strukturen, also der Art und Weise, wie die Angehörigen der Familie miteinander umgehen."xSo ist ein Interventionser­folg u.a. von der Bereitschaft aller Familienmitglieder, an der Veränderung von Strukturen mitzuar­beiten, abhängig.

Svens Mutter schildert in diesem Zusammenhang, dass sie durch die Beratung in eine Situation ge­rate, die ihr zunehmend Schwierigkeiten bereite, da sie zwischen Sven und ihrem Mann stehe. Sie beschreibt in diesem Gespräch sehr genau ihre Gefühle. Die Angst, dass es zu einem unlösbaren Konflikt in ihrer Familie kommen könnte, wird dabei offenbar. Wir verabreden daher, dass Svens Mutter mit ihrem Mann spricht und versucht, ihn an der Teilnahme an den Gesprächen zu bewegen. Bei unserem nächsten Treffen nach vierzehn Tagen berichtet Svens Mutter sehr auf­geregt, dass ihr Mann sich dazu nach einem sehr langen Gespräch bereiterklärt habe. Da dieses un­ser letztes Treffen vor den Sommerferien ist, verabreden wir noch die Modalitäten für das neue Schuljahr. Die Beratung wird wiederum vierzehntägig stattfinden. Begünstigt wird die Beratung dadurch, dass auch im neuen Schuljahr der ständige Kontakt zu Sven bestehen bleibt - er wird im neuen Schuljahr das Berufsgrundbildungsjahr Bautechnik besuchen, in dem ich ebenfalls das Fach Religion unterrichte.

Kommentar: Zu diesem Zeitpunkt habe ich den Eindruck gewonnen, dass Svens Mutter eine we­sentlich deutlichere Wahrnehmungsfähigkeit dafür entwickelt hat, was Sven an Zuneigung und Nähe benötigt. Das Sprechen über Gefühle hat bei Sven und seiner Mutter dazu geführt, dass sie in Alltagssituationen ihre Gefühle besser erkennen und sie auch besser artikulieren können. Die Gesprächsfähigkeit zwischen beiden und eine größere offen gezeigte emotionale Nähe scheinen mir die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Beratung. Im neuen Schuljahr gilt es, hier anzusetzen und gemeinsam mit dem Vater Schwierigkeiten und Probleme in den Beziehungen anzugehen, also Strukturen deutlich zu machen und zu verändern.

Die Intervention beurteile ich, obwohl in der Beratung noch nicht abgeschlossen, zum jetzigen Zeit­punkt als erfolgreich. Das Verhalten von Sven im Unterricht hat sich in wesentlichen Verhaltens­bereichen verbessert, er erhält durch seine unterrichtsbezogenen Beiträge zunehmend Erfolgser­lebnisse, die sein Angewiesensein auf aggressives Verhalten zur Erlangung von Verstärkung mehr und mehr zurückdrängen. Obwohl Sven jetzt nicht von allen Schülern, die ihn vorher ablehnten, als Freund empfunden wird, hat sich doch durch seine Verhaltensveränderung eine Akzeptanz gegenüber seiner Person eingestellt, die auch noch zum Schuljahresende bei allen Schülern Bestand hat. Ein günstiger Nebeneffekt für das Miteinander-Umgehen in der ganzen Klasse war die eingeführte 'Meckersitzung' am Ende der Stunde, und es ist zu überlegen, ob im Religionsunterricht im BVJ diese nicht zu einer ständigen Einrichtung werden sollte.

Grundlegend für das in der Intervention Erreichte war die Schaffung einer Vertrauensbasis zwischen Sven und mir. Nur dadurch, dass ich von Sven nicht mehr als bedrohlich empfunden wurde, war eine Basis für ein kooperativ-verhaltensmodifikatorisches Vorgehen im Religionsunterricht her­gestellt. Ein weiterer wichtiger Punkt war die flankierende Beratungstätigkeit während und nach der Intervention. Nur durch eine Veränderung von Svens 'natürlicher Umwelt' haben die im Religi­onsunterricht erreichten Modifikationen auch dort Bestand. So wurde die Beibehaltung von neu er­lerntem Verhalten auch nach den Interventionsstunden begünstigt.

Eine Befragung von Kollegen bezüglich des Verhaltens von Sven hatte eine positive Resonanz. Ein Transfer der Modifikationseffekte scheint durch Svens Einbindung in die Klassengemeinschaft gelungen. Die Berücksichtigung des therapeutischen Faktors der Gruppe für eine angestrebte Modi­fikation wird hier als unumgänglich deutlich.

Für mich war die Intervention mit einem erheblichem Zeitaufwand verbunden. Hier sehe ich im schulischen Rahmen deutliche Grenzen, denn eine Intervention in der beschriebenen Weise ist mit mehreren einzelnen Schülern während eines Schuljahres nahezu unmöglich.

Die Vorzüge des Religionsunterrichtes zur Durchführung der Intervention wurden an vielen Stellen deutlich. Im Vollzug der Intervention wurden vor allem in der Beratung Lebenssituationen zu Lern­situationen und Lernsituationen zu Lebenssituationen.xiDie Möglichkeit des Religionsunterrichtes, die didaktischen Prioritäten am einzelnen Schüler auszurichten, haben in entscheidender Weise dazu beigetragen, die Erlebniswelt von Sven in ihren Beziehungen, die sich im zwischenmenschlichen Bereich bewähren, zu erschließen. So wurde der Forderung entsprochen, dass Sven die Möglichkeit eröffnet wurde, eigene Werthaltungen, Konflikte und Zwänge wahrzunehmen und sein aggressives Verhalten zugunsten einer Stärkung seiner Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit aufzubauen. Themen und Methoden des Berufsschulreligionsunterrichtes kommen dieser Zielsetzung entgegen. Im Kontext der Intervention bekommt der Religionsunterricht "einen besonderen situationsbe­zogenen Akzent: In seelsorgerlichem Bemühen hilft er zur Sinnfindung und Verarbeitung der mancherlei z.T. lebensbedrohenden Konflikte im einzelnen Schüler (...). Auf diese Weise leistet er seinen Beitrag auch im Bereich der 'Gewissensbildung'."xii]

Die Orientierung des Religionsunterrichtes am ganzen Menschen begünstigt eine Intervention wie die beschriebene.

 

Anmerkungen

  1. Selg, H.: Menschliche Aggressivität. Göttingen / Toronto / Zürich 1974.
  2. Speck, O.: Verhaltensstörungen, Psychopathologie und Erziehung. Berlin 1979. S. 8.
  3. vgl.: Selg, H.: Menschliche Aggressivität. Göttingen/Toronto/Zürich 1974. S. 65
  4. Kraußlach, J.: Aggressionen im Jugendhaus. Wuppertal 1981. S. 7.
  5. Muchow, M.; Muchow, H.H.: Der Lebensraum des Großstadtkindes. Bensheim 1978. S. 34
  6. Hertzog, G.; Barnea-Braunstein, R.: 'Beroshim', - eine Schule für seelisch gestörte Kinder. München / Basel 1980. S. 34
  7. Der Begriff der 'Motivveränderung' beschreibt, dass ein Verhalten nur dann ausgeführt wird, wenn das Individuum dazu motiviert ist. Die dem Verhalten zugrundeliegende Motivation ist dabei so zu verändern, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens sinkt.
  8. Bandera, A.: Aggression. Stuttgart 1979. S. 282.
  9. Tausch, A.-M.; Tausch, R.: Personenzentrierte Psychotherapie. In: Pongartz, L.J.: (Hrsg.): Handbuch der Psychologie. Band 8, Zweiter Halbband. Göttingen 1978. S. 1914
  10. Bachmair, S. u.a. a.a.O., S. 71
  11. vgl.: Biehl, P.: Erfahrungsbezogener, themenzentrierter Religionsunterricht. In: Becker, U.; Johannsen, F. (Hrsg.): Lehrplan - kontrovers. Fachdidaktische Ansätze in der Religionspädagogik. Frankfurt a. M. 1979. S. 42
  12. Hanselmann, J.: Referat bei der Tagung der Landessynode der Ev.-luth. Kirche in Bayern. In: Deutsches Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen (Hrsg.): Der Religionslehrer im beruflichen Schulwesen. Weinheim / Basel 1980. S. 37